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© BÜCHERmagazin, Tina Schraml (ts)
In diesem Paradies regnet es jeden Tag: Mit Samuel Selvons Roman "Die Taugenichtse" kam vor sechzig Jahren die Migrationsliteratur zu Englands Lesern.
Von Hubert Spiegel
Der Roman "The Lonely Londoners", 1956 im Original erschienen, ist ein Klassiker der Weltliteratur des zwanzigsten Jahrhunderts, der nicht sehr bekannt geworden ist, schon gar nicht hierzulande, wo es sechzig Jahre dauerte, bis Miriam Mandelkow den Roman jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt hat. Eine Übersetzung, die schon lange überfällig war, aber auch eine, die ihre Tücken hat - umso mehr ist der Übersetzerin für Wagemut und Einfallsreichtum zu danken. Denn Samuel Selvon schrieb seinen Roman in einer Sprache, die es nicht gibt: ein artifizieller karibischer Dialekt, wie er in den frühen fünfziger Jahren in manchen Straßen Londons wohl so ähnlich gesprochen wurde, ein von Selvon literarisch modifiziertes, dem Standard-Englisch angenähertes Kunst-Kreol, direkt und vital, dabei beeinflusst von James Joyce und Virginia Woolf, eine prall, humorvoll und vorlaut dahingleitende Mündlichkeit, deren durch Melancholie sanft gebremster Schwung den Leser ins London der fünfziger Jahre mitnimmt, in eine kriegsversehrte Stadt, die vom Swing der Sechziger vorerst nur träumen konnte. Selvon schreibt, als hätte er damals schon die Worte seines nigerianischen Kollegen Chinua Achebe im Ohr gehabt, die Sigrid Löffler in ihrem schönen Nachwort zur deutschen Ausgabe zitiert: "Niemand sollte sich täuschen lassen durch die Tatsache, dass wir auf Englisch schreiben, denn wir haben die Absicht, unerhörte Dinge mit der Sprache anzustellen."
"The Lonely Londoners" handelt von einer historischen Episode kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die bis heute nachwirkt. Am 22. Juni 1948 kamen 492 Einwanderer aus der Karibik an Bord der "Empire Windrush" nach England, die Begründer der "Windrush Generation", deren Ankunft im Hafen von Tilbury den Beginn einer neuen Ära markierte. Die englische Regierung hatte in Übersee billige Arbeitskräfte angeworben, so wie es nur einige Jahre später die Deutschen in Griechenland, Italien und der Türkei machten. Aber es gab zwei große Unterschiede: Die Neuankömmlinge aus der Karibik waren englische Staatsangehörige, "Citizens of the United Kingdom and Colonies", und sie waren schwarz. Im Jahr 1961 war ihre Anzahl bereits auf etwa 170 000 Menschen angewachsen. Drei Jahre zuvor hatte es mit den "Notting Hill Riots" die ersten größeren rassistischen Übergriffe in London gegeben.
Begrüßt wurden die angeworbenen Einwanderer offiziell als "Sons of the Empire", aber schon bald sahen sie Schilder wie dieses an den Türen von Pubs und Krämerläden: "No Irish. No Blacks. No Dogs". Bis zum "Race Relations Act" von 1965 war dergleichen in England erlaubt. Die Engländer, sagt Moses, die Hauptfigur in Selvons Roman, mögen keine schwarzen Menschen: "In London akzeptiert uns keiner. Nicht richtig. Sie dulden uns, ja, aber wir kommen nicht zu ihnen ins Haus und essen, sitzen, reden."
Und so spielt dieser episodisch aufgebaute Roman auch fast ausschließlich in der karibischen Parallelwelt, die sich zu Beginn der fünfziger Jahre in einigen proletarisch geprägten Winkeln Londons etabliert hat. Moses, das Alter Ego seines Autors, ist Anlaufstelle für Neuankömmlinge, Beichtvater, erfahrener Lebenshelfer und zentraler Umschlagplatz für Tratsch und Neuigkeiten, ein sensibler Chronist des Lebens im Exil, das für die meisten mehr Enttäuschungen als Erfolge bereithält. Die Arbeit ist oft hart und immer schlecht bezahlt, nur wenigen gelingt es, die Familie nachkommen zu lassen oder Geld für die eigene Rückfahrt anzusparen. Und wer wollte überhaupt zurück und seine Träume von einem besseren Leben im grauen, feucht-kalten und unfreundlichen England gegen sein früheres Dasein unter der karibischen Sonne eintauschen? Die Rückkehr wäre das Eingeständnis der Niederlage und des Scheiterns im Gelobten Land, also schuften Moses, Sir Galahad, Fat City, Tolroy und die anderen "Jungs" weiter für ein paar Pfund, verfluchen das englische Wetter, warten auf den Sommer, gehen zu Tanzveranstaltungen und jagen, wo sie gehen und stehen, den englischen Frauen hinterher - meistens mit Erfolg.
Selvon, 1923 in Trinidad als Sohn eines Inders und einer Schottin geboren, kam wie V. S. Naipaul 1950 nach London und schrieb Kurzgeschichten und Drehbücher für die BBC, bis er 1978 nach Kanada übersiedelte. "The Lonely Londoners", leider wenig sensibel mit "Die Taugenichtse" übersetzt, ist der erste Teil seiner Trilogie um Moses Alloetta, der wie ein Gründervater am Anfang der Migrationsliteratur steht, die heute von Zadie Smith, Teju Cole und anderen fortgeschrieben wird. Man muss nur die Eloge auf den Sommer lesen, einen zehnseitigen existentiellen Sehnsuchtsseufzer ohne Absatz, Punkt und Komma, um zu wissen, dass die poetische Unmittelbarkeit Selvons, der 1994 in Trinidad gestorben ist, bis heute unerreicht sein dürfte.
Samuel Selvon: "Die Taugenichtse". Roman.
Aus dem Englischen von Miriam Mandelkow. Dtv, München 2017. 173 S., geb., 18,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension
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