1869, als der Westen der USA durch den Bau der Eisenbahnstrecken erschlossen wird. Der chinesische Gangster und Hitman Ming Tsu ist auf einem Rachefeldzug: Weil er Ada, eine weiße Frau, heiraten wollte, wurde er von deren Vater, einem Eisenbahnbaron, beinahe umgebracht und an eine Eisenbahngesellschaft als Arbeitssklave verkauft.
Aber Ming Tsu lässt sich nicht unterkriegen, schließlich ist er ein professioneller Killer mit sehr eigener Moral. Mit Hilfe eines greisen Chinesen, genannt »Der Prophet«, und einer gemischten Zirkustruppe, deren Personal zu veritablen Wundern fähig ist, liquidiert er nach und nach seine Peiniger. Er arbeitet sich dabei zielstrebig nach Kalifornien vor, wo er Ada wiederzutreffen hofft. Dort erwartet ihn ein explosiver und unerwarteter Showdown …
Aber Ming Tsu lässt sich nicht unterkriegen, schließlich ist er ein professioneller Killer mit sehr eigener Moral. Mit Hilfe eines greisen Chinesen, genannt »Der Prophet«, und einer gemischten Zirkustruppe, deren Personal zu veritablen Wundern fähig ist, liquidiert er nach und nach seine Peiniger. Er arbeitet sich dabei zielstrebig nach Kalifornien vor, wo er Ada wiederzutreffen hofft. Dort erwartet ihn ein explosiver und unerwarteter Showdown …
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 02.01.2023Vom Schleifen des Schwellennagels
Was eint Western und Magischen Realismus? Tom Lin gibt Hinweise in "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu"
Vordergründig erzählt "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" eine von tausend der im Westerngenre üblichen Rachegeschichten, aber schon mit dem Gesucht-Steckbrief des Protagonisten beginnen die Abweichungen: Ming Tsu ist eine Waise chinesischer Eltern, in den USA geboren, von einem Amerikaner adoptiert und zum Auftragskiller ausgebildet. Als seine größte Sünde aber wird die Liebe zu einer weißen Frau angesehen. Verbannt in die Wüste, zu den tausend namenlosen chinesischen Arbeitern, die den Gleisbau für die Central Pacific Railroad stemmen, sinnt er auf Rache und macht sich in Gesellschaft eines greisen Propheten und bewaffnet mit einem polierten Schwellennagel auf den beschwerlichen Weg in Richtung Reno, auf dass er ihn in den Rachen all jener Männer versenke, die sein Lebensglück zerstörten.
Tom Lins Debüt, 2022 mit der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction ausgezeichnet, ist der Versuch einer alternativen Geschichtsschreibung. Der klassische Western, in dem Chinesen höchstens mal im Hintergrund durchs Bild laufen, entspricht gewissermaßen der historischen Realität, in der so ziemlich jeder Mann am Eisenbahnbau im amerikanischen Westen verdienen konnte, solange er die nicht unbedeutende Voraussetzung erfüllte, weiß zu sein.
Der Weiße als selbsterklärte Konstante, die alle Nichtweißen automatisch zur Anomalie degradiert. In "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" bleiben all diese Vorarbeiter, die holden Geliebten und bärbeißigen Sheriffs grob gezeichnete Archetypen - ihre Geschichte ist auserzählt. Manche wird vielleicht irritieren, dass auch Ming Tsu im Laufe der Geschichte keine bedeutende innere Entwicklung durchmacht. Seine bloße Existenz verändert vielmehr die Welt, die er durchstreift, um darin deutlich sichtbare Spuren zu hinterlassen. Erinnerung ist ein großes Thema in "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu", nur nicht in Form individuellen Gedächtnisvermögens.
Eher dergestalt, wie sie in das gewaltige, gewalttätige Land des amerikanischen Westens selbst, aber auch in menschliche Körper eingeschrieben ist. Tom Lin beschreibt detailliert wiederkehrende Tätigkeiten. Das Schleifen des Schwellennagels, tausendfach ausgeführte, verinnerlichte, zu Ritualen geronnene Handbewegungen, die doppelt gesichert im Körpergedächtnis selbst den Totalverlust des Erinnerungsvermögens zu überdauern wissen. Unterwegs stößt Ming Tsu auf fahrendes Volk, das echte Wunder vollbringt. Zur Truppe gehören ein taubstummer Junge, dessen Stimme aus dem Bewusstsein seiner Zuhörer widerhallt, eine feuerfeste Frau, ein Gestaltenwandler.
Nun steht der Magische Realismus dem Western traditionell nicht sonderlich nah; das Genre pflegt in der Regel ein mythopoetisches Verhältnis zur Realität. Wo der klassische Western alles in den Dienst seines Heroen stellt, münzt der Spaghettiwestern den Eroberungsmythos endgültig in knallhartes Business um. Aber eine entscheidende Gemeinsamkeit gibt es dann doch bei Western und Magischem Realismus: Beide handeln die Grenzen aus zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Dies- und Jenseits, auf denen ihr Held balanciert.
Da leuchtet es ein, dass die Wunder in "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" aus dem Film selbst geboren zu sein scheinen, wo Italiener in Spanien drehen und so tun, als seien sie in Amerika, wo körperlose Stimmen, Weissagungen, sprechende Tiere und feuerfeste Frauen qua medialer Beschaffenheit kein Problem mehr sind. Dafür hat das Genre einen anderen Haken. Aus einem einfachen Grund: Just als glühendes Technicolor die Schwarz-Weiß-Bilder ablöste, wurde die Einfarbigkeit des Genres allgegenwärtig. Verwaschenes Braun allüberall, in den Holzhütten, der Bohnenpampe, den angefaulten Zähnen, im Staub in sämtlichen Ritzen.
Der Roman tappt weder thematisch noch stilistisch in die Einfarbigkeitsfalle. Tom Lin nutzt die volle Leinwandbreite, um einen Roman zu schaffen, dessen Vision weit über sich selbst hinausreicht, der die Idee eines offenen, verheißungsvollen Landes, das es mit eigener Geschichte anzufüllen gilt, neu in die Köpfe seiner Leser pflanzt. Dazu greift er die Metapher auf, die sich geradezu aufdrängt: die Eisenbahn, die eine Landschaft vorbeiziehen lässt wie im Kino; die Schiene, die ja nicht umsonst einem Filmstreifen ähnelt. "Die Gleise flogen als zwei glatte Linien neben ihm dahin, zerfielen zu einem Gewirr aus halb losen Bahnschwellen, verstreuten Nägeln, schimmernden Eisensträngen. Dann waren die Gleise weg. Nur noch ödes Land peitschte vorbei, und er ritt nach Westen, hinaus in die weiße, uralte, ewige Salzwüste." KATRIN DOERKSEN
Tom Lin: "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu".
Thriller.
Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
304 S., br., 16.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Was eint Western und Magischen Realismus? Tom Lin gibt Hinweise in "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu"
Vordergründig erzählt "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" eine von tausend der im Westerngenre üblichen Rachegeschichten, aber schon mit dem Gesucht-Steckbrief des Protagonisten beginnen die Abweichungen: Ming Tsu ist eine Waise chinesischer Eltern, in den USA geboren, von einem Amerikaner adoptiert und zum Auftragskiller ausgebildet. Als seine größte Sünde aber wird die Liebe zu einer weißen Frau angesehen. Verbannt in die Wüste, zu den tausend namenlosen chinesischen Arbeitern, die den Gleisbau für die Central Pacific Railroad stemmen, sinnt er auf Rache und macht sich in Gesellschaft eines greisen Propheten und bewaffnet mit einem polierten Schwellennagel auf den beschwerlichen Weg in Richtung Reno, auf dass er ihn in den Rachen all jener Männer versenke, die sein Lebensglück zerstörten.
Tom Lins Debüt, 2022 mit der Andrew Carnegie Medal for Excellence in Fiction ausgezeichnet, ist der Versuch einer alternativen Geschichtsschreibung. Der klassische Western, in dem Chinesen höchstens mal im Hintergrund durchs Bild laufen, entspricht gewissermaßen der historischen Realität, in der so ziemlich jeder Mann am Eisenbahnbau im amerikanischen Westen verdienen konnte, solange er die nicht unbedeutende Voraussetzung erfüllte, weiß zu sein.
Der Weiße als selbsterklärte Konstante, die alle Nichtweißen automatisch zur Anomalie degradiert. In "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" bleiben all diese Vorarbeiter, die holden Geliebten und bärbeißigen Sheriffs grob gezeichnete Archetypen - ihre Geschichte ist auserzählt. Manche wird vielleicht irritieren, dass auch Ming Tsu im Laufe der Geschichte keine bedeutende innere Entwicklung durchmacht. Seine bloße Existenz verändert vielmehr die Welt, die er durchstreift, um darin deutlich sichtbare Spuren zu hinterlassen. Erinnerung ist ein großes Thema in "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu", nur nicht in Form individuellen Gedächtnisvermögens.
Eher dergestalt, wie sie in das gewaltige, gewalttätige Land des amerikanischen Westens selbst, aber auch in menschliche Körper eingeschrieben ist. Tom Lin beschreibt detailliert wiederkehrende Tätigkeiten. Das Schleifen des Schwellennagels, tausendfach ausgeführte, verinnerlichte, zu Ritualen geronnene Handbewegungen, die doppelt gesichert im Körpergedächtnis selbst den Totalverlust des Erinnerungsvermögens zu überdauern wissen. Unterwegs stößt Ming Tsu auf fahrendes Volk, das echte Wunder vollbringt. Zur Truppe gehören ein taubstummer Junge, dessen Stimme aus dem Bewusstsein seiner Zuhörer widerhallt, eine feuerfeste Frau, ein Gestaltenwandler.
Nun steht der Magische Realismus dem Western traditionell nicht sonderlich nah; das Genre pflegt in der Regel ein mythopoetisches Verhältnis zur Realität. Wo der klassische Western alles in den Dienst seines Heroen stellt, münzt der Spaghettiwestern den Eroberungsmythos endgültig in knallhartes Business um. Aber eine entscheidende Gemeinsamkeit gibt es dann doch bei Western und Magischem Realismus: Beide handeln die Grenzen aus zwischen Zivilisation und Wildnis, zwischen Dies- und Jenseits, auf denen ihr Held balanciert.
Da leuchtet es ein, dass die Wunder in "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu" aus dem Film selbst geboren zu sein scheinen, wo Italiener in Spanien drehen und so tun, als seien sie in Amerika, wo körperlose Stimmen, Weissagungen, sprechende Tiere und feuerfeste Frauen qua medialer Beschaffenheit kein Problem mehr sind. Dafür hat das Genre einen anderen Haken. Aus einem einfachen Grund: Just als glühendes Technicolor die Schwarz-Weiß-Bilder ablöste, wurde die Einfarbigkeit des Genres allgegenwärtig. Verwaschenes Braun allüberall, in den Holzhütten, der Bohnenpampe, den angefaulten Zähnen, im Staub in sämtlichen Ritzen.
Der Roman tappt weder thematisch noch stilistisch in die Einfarbigkeitsfalle. Tom Lin nutzt die volle Leinwandbreite, um einen Roman zu schaffen, dessen Vision weit über sich selbst hinausreicht, der die Idee eines offenen, verheißungsvollen Landes, das es mit eigener Geschichte anzufüllen gilt, neu in die Köpfe seiner Leser pflanzt. Dazu greift er die Metapher auf, die sich geradezu aufdrängt: die Eisenbahn, die eine Landschaft vorbeiziehen lässt wie im Kino; die Schiene, die ja nicht umsonst einem Filmstreifen ähnelt. "Die Gleise flogen als zwei glatte Linien neben ihm dahin, zerfielen zu einem Gewirr aus halb losen Bahnschwellen, verstreuten Nägeln, schimmernden Eisensträngen. Dann waren die Gleise weg. Nur noch ödes Land peitschte vorbei, und er ritt nach Westen, hinaus in die weiße, uralte, ewige Salzwüste." KATRIN DOERKSEN
Tom Lin: "Die tausend Verbrechen des Ming Tsu".
Thriller.
Aus dem Amerikanischen von Volker Oldenburg.
Suhrkamp Verlag,
Berlin 2022.
304 S., br., 16.- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
Beeindruckend findet Rezensentin Sonja Hartl Tom Lins Debütroman, weil der Autor gekonnt am Mythos des Westerns kratzt, indem er die Geschichte eines von chinesischen Eltern geborenen Außenseiters auf Rachefeldzug in den USA erzählt. Hartl mit seinem rasanten Stil und den kurzen Kapiteln an Cormac McCarthy erinnernd, schafft es der Text laut Rezensentin, die durchaus bekannten Motive und Figuren eines klassischen Setups neu zu besetzen. Indem der Autor blinde Seher und Bauchredner auftreten lässt, gelingen ihm magische Momente, erklärt Hartl. Die Konstruiertheit des amerikanischen Mythos wird durch Lins Sicht etwa auf den Bau der Central Pacific Railroad durch chinesische Arbeiter erkennbar, meint sie.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Die tausend Verbrechen des Ming Tsu ist ein faszinierendes und flott geschriebenes Stück Literatur, das spielerisch Genre-Grenzen sprengt.« Florian Schmid neues deutschland 20230427