Marcel Beyer geht der Frage nach, wie sich Schriftsteller:innen heute zur medialen Verarbeitung des Krieges verhalten können. Der Angriffskrieg auf die Ukraine als Zeitwende – nicht nur des Politischen, sondern auch des Erzählens? In seinen Vorlesungen zur Wuppertaler Poetikdozentur für faktuales Erzählen reflektiert Marcel Beyer die Bedeutung der Medien für die Konstitution von "Wirklichkeit" in Zeiten des Krieges: Wann berichte ich nur über das, was ich auf Bildern sehe, wann berichte ich und füge unbewusst meine Imaginationen hinzu? Wann berichte ich nicht mehr nur, sondern erfinde? Kann ich von dem berichten, was ich gesehen habe, ohne zu imaginieren? Was meint "Erfindung", was "Bericht" und welche Rolle kommt dem Schriftsteller dabei zu? Ausgehend von der persönlichen Auseinandersetzung mit der medialen Berichterstattung aus der Ukraine im Frühjahr und Sommer 2022 eröffnet Beyer so Einsichten in die Funktionen des Erzählens zwischen Fakten und Fiktionen. Der Band wird abgerundet durch die erste deutschsprachige Übersetzung eines zentralen Bezugstextes für Beyer, Viktor Schklowskis Beschreibung der Belagerung von Petersburg während des russischen Bürgerkriegs im Winter 1919/20, sowie ein Interview mit Marcel Beyer, in dem er auf die Besonderheiten seiner Schreibpraxis eingeht.
Perlentaucher-Notiz zur FAS-Rezension
Alexander Kluge und Marcel Beyer seien "verwandte Geister", die sich für historisches Wissen, die Sprache und Bilder interessierten, leitet Tobias Rüther seine Rezension ein. Dass der 91-jährige Kluge die Weitwinkel-Perspektive und der 58 Jahre alte Beyer den Makro-Ausschnitt präferieren, kennzeichne die beiden Bücher über den Krieg in der Ukraine, die aus gänzlich unterschiedlichen Positionen geschrieben seien. Kluge ist aus Angst vor einem Atomkrieg gegen die Lieferung schwerer Nato-Waffen an die Ukraine. Beyer steht voll und ganz auf der Seite Kiews. Mit den Vorlesungstexten für seine Poetikdozentur fixiere Beyer Fotos und beschreibe den leidvollen Alltag, fasst Rüther zusammen. Damit wolle er von seinem Laptop in Dresden aus Putins Krieg "für sich sprechen" lassen, findet Rüther, und die Imagination ganz ohne Fiktion retten. Kluge hingegen wolle unter Verweis auf Mythen, militärische Chroniken und Heiner Müller in "typisch sprunghaft-assoziativer Manier" deutlich machen, dass jeder Krieg ein Dämon sei. Wo Beyer zoome, wechsle Kluge das Motiv, so der Rezensent - und das liest sich als Kritik am Großdenker, der wie Beyer das Privileg habe "im Frieden über den Krieg anderer Leute nachzudenken".
© Perlentaucher Medien GmbH
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»klug, denkanstiftend, überraschend, poetisch, treffend und empathisch« (Christine Hamel, BR kulturWelt, 03.04.2023) »Mit dem Fokus auf fehlende Krähen im Ukraine-Krieg und mit der Spur der Tiere folgt Marcel Beyer nicht nur kongenial Viktor Schklowskij, sondern auch einer Erzähl-Devise des Denkers Roland Barthes: Je unwichtiger das Detail, desto mehr Wirkung entfaltet es als Indiz für die 'Wahrheit' der Darstellung.« (Christine Hamel, BR kulturWelt, 03.04.2023) »Beyers Nahaufnahme fixiert die Szenen, die Putins Krieg hervorgebracht hat, und lässt sie für sich sprechen« (Tobias Rüther, FAZ, 14.04.2022) »Es ist die Kunst des Marcel Beyer, in seine Sätze kleine Widerhaken einzubauen, Wahrnehmung zu ermöglichen, unsere nach immer neuer Abwechslung suchenden Reflexe auszuhebeln (...). Mit dem Russen Schklowski als Komplizen und dem Wahldresdener Beyer als Berichterstatter, rückt die Wirklichkeit dieses unfassbaren Krieges beklemmend nah an uns heran.« (Dirk Hohnsträter, WDR3 Lesestoff - neue Bücher, 26.05.2023) »'Die tonlosen Stimmen beim Anblick der Toten auf den Straßen von Butscha' ist durch seine genaue Komposition, das überraschende Zusammenfügen unterschiedlichen Materials, die zunächst unverbunden wirkenden Beobachtungen nicht nur Poetologie, sondern selbst ein Stück faktualer Erzählkunst.« (Ulrich Rüdenauer, Badische Zeitung, 06.06.2023) »Beyers essayistische Notate mit Blick auf die Details sind eine ebenso faktuale wie poetische Erzählung« (Gerhard Zeillinger, Der Standard, 17.06.2023) »Marcel Beyers Vorlesungen sind eine Poetik ohne akademisches Ritual.« (Michael Braun, literaturkritik.de, 15.08.2023)