Dieses Buch ist Reportage und Geschichte des Massakers, dessen Datum für immer im Gedächtnis bleiben wird: der 7. Oktober 2023:
Am Morgen des 7. Oktober wurden Amir Tibon und seine Frau von Mörsergranaten geweckt, die in der Nähe ihres Hauses im Kibbuz Nahal Oz, einer israelischen Siedlung an der Grenze zum Gazastreifen, einschlugen. Sie verbarrikadierten sich mit den beiden kleinen Töchter im Schutzraum des Hauses und ermahnten sie, nicht zu weinen, während sie die Schüsse der Hamas-Angreifer vor ihren Fenstern hörten.
Die Tore von Gaza erzählt die Geschichte des 7. Oktobers durch das Prisma der Ereignisse, die in Nahal Oz über die Familie hereinbrachen, die schließlich von Amir Tibons eigenem Vater mit unglaublichem Mut gerettet wurde. Das Buch schildert den jahrzehntelangen Kampf einer Gemeinschaft um Leben, Wohlstand und Wachstum an einer der gefährlichsten Grenzen der Welt. Es ist zugleich eine kurze Geschichte Israels, auch über das Versagen der israelischen Politik, für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sorgen.
Mit großem Einfühlungsvermögen und auf der Grundlage israelischer und palästinensischer Quellen sowie Originalinterviews mit den Polizisten und Soldaten, die am 7. Oktober an der Seite seiner Eltern kämpften, zeichnet Amir Tibon einen schonungslosen, aber letztlich hoffnungsvollen Blick auf diesen scheinbar unlösbaren Konflikt und seine globalen Auswirkungen.
Am Morgen des 7. Oktober wurden Amir Tibon und seine Frau von Mörsergranaten geweckt, die in der Nähe ihres Hauses im Kibbuz Nahal Oz, einer israelischen Siedlung an der Grenze zum Gazastreifen, einschlugen. Sie verbarrikadierten sich mit den beiden kleinen Töchter im Schutzraum des Hauses und ermahnten sie, nicht zu weinen, während sie die Schüsse der Hamas-Angreifer vor ihren Fenstern hörten.
Die Tore von Gaza erzählt die Geschichte des 7. Oktobers durch das Prisma der Ereignisse, die in Nahal Oz über die Familie hereinbrachen, die schließlich von Amir Tibons eigenem Vater mit unglaublichem Mut gerettet wurde. Das Buch schildert den jahrzehntelangen Kampf einer Gemeinschaft um Leben, Wohlstand und Wachstum an einer der gefährlichsten Grenzen der Welt. Es ist zugleich eine kurze Geschichte Israels, auch über das Versagen der israelischen Politik, für die Sicherheit der eigenen Bevölkerung zu sorgen.
Mit großem Einfühlungsvermögen und auf der Grundlage israelischer und palästinensischer Quellen sowie Originalinterviews mit den Polizisten und Soldaten, die am 7. Oktober an der Seite seiner Eltern kämpften, zeichnet Amir Tibon einen schonungslosen, aber letztlich hoffnungsvollen Blick auf diesen scheinbar unlösbaren Konflikt und seine globalen Auswirkungen.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Gleich drei Bücher zum Jahrestag des 07. Oktobers nimmt sich Rezensent René Wildangel vor, der sich als Historiker vorwiegend mit dem Nahen und Mittleren Osten befasst: Amir Tibon ist Redakteur der linksliberalen israelischen Zeitung Haaretz und hat den Horror der Hamas-Massaker im Kibbuz Nahal-Oz mit seiner Familie selbst erlebt. Er verbindet die Schilderung dieses Tages mit der Geschichte des Kibbuz, erklärt der Kritiker. Wildangel kann dadurch einen guten Überblick über die Vorgeschichte dieses Konflikts erlangen, aber auch über die Verbindungen, die es über lange Jahre zwischen dem Kibbuz und dessen palästinensischen Nachbarn gegeben hat, besonders nach dem Abkommen von Oslo, bis die zweite Intifada das unmöglich macht. Bisweilen wirken die Schilderungen fast wie ein grausamer Thriller, so etwa, wenn Tibon von seinem Vater erzählt, der sich in einer spektakulären Rettungsaktion von Tel Aviv aus durchschlägt und die Familie seines Sohnes befreit, hält der Kritiker fest.
© Perlentaucher Medien GmbH
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»Amir Tibon ... verwebt in seinem Buch den dramatischen Angriff auf einen der Kibbuzim, Nagal Oz, mit der Geschichte dieses direkt dem Gazastreifen gelegenen Ortes. ... Die Kapitel, in denen Tibon die Vorgänge jenen Tages im Kibbuz schildert, muten teils an wie ein mit besonders viel Fantasie - und Grausamkeit - erdachter Actionthriller.« René Wildangel Süddeutsche Zeitung 20241029
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 28.10.2024Kaleidoskop aus
Leid und Trauer
Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Saul Friedländer,
Amir Tibon und Lee Yaron versuchen, den Horror
der Hamas-Attacke in Worte zu fassen.
VON RENÉ WILDANGEL
Rund um den Jahrestag des 7. Oktobers, des grausamen Angriffs der Hamas auf israelische Grenzgemeinden des Gazastreifens, sind gleich mehrere Bücher israelischer Autorinnen und Autoren auf Deutsch erschienen. Sie wollen an jenen furchtbaren Tag und seine Opfer erinnern und die Folgen betrachten. Allerdings gingen sie beim Schreiben wohl nicht davon aus, dass auch nach einem Jahr die schrecklichen Folgen nicht nur andauern, sondern stetig eskalieren. Erst recht hatten sie nicht erwartet, dass die aktuelle israelische Regierung noch im Amt ist, während die Geiseln noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt sind.
Besonders deutlich wird das im neuen Tagebuch von Saul Friedländer. Der 92-jährige Doyen der Holocaustforschung ist sich nur wenige Tage nach dem Angriff sicher: „Netanjahu ist am Ende“ (14. Oktober 2023). Umso größer ist das Entsetzen über den „widerwärtigen“ Premierminister, darüber, dass er einfach weitermache. Friedländer trägt die Nachrichten des Tages zusammen, und so entfaltet sich das Unheil durch seine Einträge nochmals Tag für Tag. Wie sehr im Fluss, wie außergewöhnlich die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass der geübte Beobachter israelischer Politik mit seinen Einschätzungen ständig danebenliegt: Die Bodenoffensive sei „wahrscheinlich vom Tisch“, schreibt er am 25. Oktober; während des Waffenstillstands im November prognostiziert er, dies bedeute wohl das Ende des Krieges wegen der noch in Gaza befindlichen Geiseln.
Friedländer hat die israelischen Medien im Blick, hinterfragt sie auch; oftmals allerdings gibt er dabei Einschätzungen der israelischen Armee wieder, die als Kriegspartei ihre eigenen Interessen verfolgt. „Der Nebel des Krieges“, so Friedländer selbst, „ist dichter denn je.“ So kommt es mitunter auch zu Schieflagen in seiner Darstellung. Am 13. Mai hält er fest, die UN hätten die Zahlen der „seit Beginn des Krieges getöteten Zivilisten revidiert“ und die „Zahl der getöteten Frauen und Kinder (. . .) um die Hälfte reduziert“. Dahinter steht der Vorwurf, den Todeszahlen sei nicht zu trauen, mit ihnen werde Hamas-Propaganda betrieben. Doch anders als vom Autor suggeriert, erachten die Vereinten Nationen die Angaben des „von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums“ als zuverlässig und stellen klar, dass sich am hohen Anteil der getöteten Frauen und Kinder von 60 Prozent nichts geändert habe.
Trotz seines Entsetzens über die Brutalität der Verbrechen der Hamas weist Friedländer Vergleiche mit dem Holocaust zurück, die oftmals instrumentalisiert würden: „Jedes Mal, wenn ich sehe oder höre, dass im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg auf den Holocaust Bezug genommen wird, erschaudere ich.“ Nur in einem Punkt sieht er eine Ähnlichkeit, der Hass der islamistischen Organisationen erinnere ihn an die Ideologie der Nazis. Immer wieder wird deutlich, wie fassungslos Friedländer über den weltweit angewachsenen Antisemitismus ist. Er sieht einen „Tsunami der internationalen Feindseligkeit“ gegen Israel. Allerdings wäre hier eine stärkere Differenzierung zwischen den zunehmenden Angriffen auf Jüdinnen und Juden weltweit und der wachsenden Kritik an Israels Kriegsführung angebracht gewesen. Wenn er behauptet, die BBC spiele ihre „übliche propalästinensische Rolle“, oder das US-Außenministerium verfiele in traditionelle Antisemitismusmuster, weil dort 100 Bedienstete in einem offenen Brief die US-Nahostpolitik kritisierten, schießt er weit über das Ziel hinaus.
Friedländer zieht immer wieder die Parallele zum Jom-Kippur-Krieg 1973; allerdings habe sich die Niederlage damals in einen „relativen Sieg“ verwandelt, während Israel heute angreifbar und verwundet wirke. Damit ist das Versprechen des Staates, ein sicherer Ort für Jüdinnen und Juden zu sein, in Gefahr. Seine Eltern hatten einst gehofft, im britischen Mandatsgebiet Palästina, wo ein jüdischer Staat Konturen annahm, Aufnahme zu finden. Doch die Auswanderung wurde verwehrt, sie wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet. Die Hoffnung seiner Eltern auf Rettung vor der Nazi-Barbarei ist für Saul Friedländer die zentrale Rechtfertigung für die Existenz eines jüdischen Staates. Gerne würde man mehr lesen über seine historische Einordnung, über biografische Ausgangspunkte seines Denkens, doch zu oft verbleiben die Aufzeichnungen dieses Tagebuchs im Tagespolitischen und im Allgemeinen.
Amir Tibon, Redakteur der linksliberalen Tageszeitung Haaretz, verwebt in seinem Buch den dramatischen Angriff auf einen der Kibbuzim, Nahal Oz, mit der Geschichte dieses direkt neben dem Gazastreifen gelegenen Ortes. Daran wiederum erzählt er die Geschichte des Konflikts von 1948 bis heute. Den Ort wählt er nicht zufällig: Tibon zog 2014 mit seiner Familie nach Nahal Oz, weil er von Gemeinschaft und Zusammenhalt des kleinen, abgelegenen Ortes fasziniert war.
So fand er sich mit seiner Familie am Morgen des 7. Oktober im Zentrum des Albtraums wieder, der sich im Grenzgebiet entfaltete. Zwar gehörte regelmäßiger Raketenalarm längst zum Alltag der Familie, doch normalerweise flogen die Geschosse über ihre Köpfe hinweg in die nächstgelegenen Städte. Nun, das realisierten Tibon und seine Frau schnell, wurde der Kibbuz selbst angegriffen. Aus dem Bett flüchteten sie mit ihren beiden kleinen Töchtern in ihren privaten Schutzraum.
Tibon erzählt in wechselnden Kapiteln diesen dramatischen Tag und die Grundzüge der historischen Entwicklung. Letztere bieten einen guten Überblick über die Vorgeschichte des 7. Oktobers, auch wenn wenig Neues zutage gefördert wird – vom israelisch-arabischen Krieg 1948 über den sogenannten „Sechstagekrieg“ 1967, den Jom-Kippur-Krieg 1973 bis zur Intifada 1987 und den folgenden Friedensprozess inklusive der Verbitterung über dessen Scheitern. Interessant ist die Wahrnehmung dieser Etappen aus der Perspektive der Grenzregion. Tibon hat dafür Interviews geführt mit Zeitzeugen, die größtenteils seine Nachbarn waren.
Der Titel des Buches „Die Tore von Gaza“ stammt aus einer in Israel berühmt gewordenen Rede des damaligen Verteidigungsministers Mosche Dajan. Auf ihn ging auch die Gründung des Kibbuz Nahal Oz im Jahr 1951 zurück. Er schickte eine kleine Gruppe von Soldatinnen und Soldaten dorthin, um die Grenzsicherung des jungen Staates an neuralgischen Punkten zu gewährleisten. Erst später wurde daraus eine zivile Gemeinde. Die Kibbuzim waren nicht nur die oft romantisierten Agrarkommunen mit sozialistischem Anstrich, sondern erfüllten auch eine wichtige militärische und strategische Funktion. Allerdings ging es in Nahal Oz um die Absicherung der international vereinbarten Waffenstillstandslinie von 1948 und nicht um deren Ausdehnung nach Gaza oder im Westjordanland. Ein Punkt, der für Tibon als Verfechter der Zweistaatenlösung und Gegner von Netanjahus Siedlungspolitik zentral ist.
Als 1956 ein Mitgründer des Kibbuz, Roz Rutberg, von palästinensischen Angreifern erschossen wird, kommt Verteidigungsminister Dajan persönlich und hält seine Rede, die ganz vom zionistischen Kampfgeist beseelt ist. Sie enthält aber auch ein seltenes Bekenntnis zur „Nakba“, der israelischen Vertreibung von etwa 700 000 Palästinenserinnen und Palästinensern aus ihren Dörfern im Jahre 1948. Laut Tibon wurde in späteren Versionen der Rede dieses Bekenntnis getilgt, weil es gegen das offizielle israelische Narrativ verstoßen habe.
Tibon schildert die Anfangsjahre des Kibbuz mit vielen Kontakten nach Gaza, wechselseitigen Besuchen und Ausflügen zum Einkaufen, was bald schwieriger und schließlich unmöglich wird. Gaza wird zunehmend abgeriegelt und isoliert, die Islamisten profitieren. Trotzdem oder gerade deswegen ist die Euphorie in den frühen Tagen von „Oslo“ riesig. Der Kibbuz feiert ein Friedensfest gemeinsam mit den Nachbarn aus Gaza, bis alle Hoffnungen in der grenzenlosen Gewalt der zweiten Intifada untergehen. Doch alle historischen Episoden, so bewegt sie auch sein mögen, werden von der Dramatik der Schilderungen des 7. Oktobers in den Schatten gestellt.
Die Kapitel, in denen Tibon die Vorgänge jenen Tages im Kibbuz schildert, muten teils an wie ein mit besonders viel Fantasie – und Grausamkeit – erdachter Actionthriller. Das gilt insbesondere für die unglaubliche Rettungsaktion seines Vaters Noam. Der pensionierte Armeegeneral macht sich mit seiner Frau und anfangs nur mit einer Pistole bewaffnet von Tel Aviv auf den Weg und gelangt auf abenteuerlichen Umwegen nach Nahal Oz. Dort wird er selbst in Kämpfe verwickelt, bis er die Familie seines Sohnes schließlich befreien kann.
Keines der zum Jahrestag erschienenen Analysen schafft es so eindringlich, die Geschichte des 7. Oktobers zu erzählen wie Lee Yaron, ebenfalls Haaretz-Journalistin. In ihrem Buch (SZ vom 2. Oktober) lernen wir die Geschichten der Menschen kennen, die an diesem Tag getötet werden, verletzt, entführt, und die Geschichte der trauernden und traumatisierten Hinterbliebenen. Kaum auszuhalten sind die Schilderungen, nicht nur wegen der unvorstellbaren Grausamkeiten, der sinnentleerten Gewalt, sondern wegen der Dokumentation der endlosen, herzzerreißenden Verluste, welche die Hinterbliebenen erleiden müssen. Kinder verlieren ihre Eltern, hochbetagte Menschen ihre Partner. Menschen, in deren Familiengeschichten nicht selten tiefe Traumata angesichts der Schoah, von Krieg und Vertreibung eingebrannt sind. Menschen, die sich ihr Leben lang für eine friedliche Lösung und die Menschenrechte der Palästinenser einsetzten, und Menschen, die gerade erst vor Kriegen wie dem in der Ukraine geflohen sind. Aber auch Beduinen oder thailändische Gastarbeiter.
Yaron schreibt ihre Geschichten auf, um ihre eigene Hilflosigkeit zu überwinden. Auch Yaron teilt die Fassungslosigkeit, den Schmerz, die Wut über das völlige Versagen des israelischen Staates, die Katastrophe vorauszusehen und in der Stunde der Not seine Bürgerinnen und Bürger zu beschützen. Schon zwei Wochen nach dem Massaker fuhr sie in den Süden, um mit Überlebenden zu sprechen. Diese direkten Berichte ergänzt sie mit weiteren inoffiziellen und offiziellen Quellen. All dies fügt sich zu einem herzzerreißenden Kaleidoskop des Leids und der Trauer. Yarons Mann Joshua Cohen setzt im Nachwort das Buch in den Kontext der Yizkor-(Erinnerungs-)Bücher, in denen vorwiegend aschkenasische Überlebende Erinnerungen an das Leben ihrer in der Schoah ausgelöschten Gemeinden festhalten. Eine ebenso deprimierende wie überwältigende Lektüre.
Aus allen Büchern spricht der anhaltende Schock über den noch immer unfassbaren Angriff der Hamas und das unermessliche Leid, das er hervorgebracht hat. Dabei präsentieren sie naturgemäß israelische Sichtweisen; wenn auch allesamt liberale Sichtweise, die das palästinensische Leid nicht ignorieren und immer wieder auf die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung drängen. Und dennoch erinnern die Bücher auch an eine riesige Leerstelle, denn eine vergleichbare palästinensische Erzählung, ein Tagebuch aus Gaza oder individuelle Geschichten aus Libanon fehlen noch. „Ich warte, in aller Demut, auf die Bücher meiner palästinensischen Kollegen, die sicher bald die Geschichten der Unschuldigen von Gaza erzählen werden“, schreibt Yaron. Zur Empathie mit allen Menschen in der Region ist es noch ein weiter Weg.
René Wildangel ist Historiker und schreibt zum Schwerpunkt Naher / Mittlerer Osten.
Ein Friedensfest
mit Palästinensern
im Kibbuz – lange her
Eine Leerstelle bleibt,
trotz der Dokumentation
herzzereißender Verluste
Amir Tibon:
Die Tore von Gaza. Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung. Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, Berlin 2024. 320 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
Saul Friedländer:
Israel im Krieg.
Ein Tagebuch. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C.H. Beck, München 2024. 204 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
Ein Jahr danach: Wand mit Porträts der Opfer am Ort des Nova-Musikfestivals, bei dem Hunderte Feiernde getötet und von der islamistischen Hamas entführt wurden.
Foto: Ariel Schalit / dpa
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Leid und Trauer
Ein Jahr nach dem 7. Oktober: Saul Friedländer,
Amir Tibon und Lee Yaron versuchen, den Horror
der Hamas-Attacke in Worte zu fassen.
VON RENÉ WILDANGEL
Rund um den Jahrestag des 7. Oktobers, des grausamen Angriffs der Hamas auf israelische Grenzgemeinden des Gazastreifens, sind gleich mehrere Bücher israelischer Autorinnen und Autoren auf Deutsch erschienen. Sie wollen an jenen furchtbaren Tag und seine Opfer erinnern und die Folgen betrachten. Allerdings gingen sie beim Schreiben wohl nicht davon aus, dass auch nach einem Jahr die schrecklichen Folgen nicht nur andauern, sondern stetig eskalieren. Erst recht hatten sie nicht erwartet, dass die aktuelle israelische Regierung noch im Amt ist, während die Geiseln noch immer nicht nach Hause zurückgekehrt sind.
Besonders deutlich wird das im neuen Tagebuch von Saul Friedländer. Der 92-jährige Doyen der Holocaustforschung ist sich nur wenige Tage nach dem Angriff sicher: „Netanjahu ist am Ende“ (14. Oktober 2023). Umso größer ist das Entsetzen über den „widerwärtigen“ Premierminister, darüber, dass er einfach weitermache. Friedländer trägt die Nachrichten des Tages zusammen, und so entfaltet sich das Unheil durch seine Einträge nochmals Tag für Tag. Wie sehr im Fluss, wie außergewöhnlich die Lage ist, zeigt die Tatsache, dass der geübte Beobachter israelischer Politik mit seinen Einschätzungen ständig danebenliegt: Die Bodenoffensive sei „wahrscheinlich vom Tisch“, schreibt er am 25. Oktober; während des Waffenstillstands im November prognostiziert er, dies bedeute wohl das Ende des Krieges wegen der noch in Gaza befindlichen Geiseln.
Friedländer hat die israelischen Medien im Blick, hinterfragt sie auch; oftmals allerdings gibt er dabei Einschätzungen der israelischen Armee wieder, die als Kriegspartei ihre eigenen Interessen verfolgt. „Der Nebel des Krieges“, so Friedländer selbst, „ist dichter denn je.“ So kommt es mitunter auch zu Schieflagen in seiner Darstellung. Am 13. Mai hält er fest, die UN hätten die Zahlen der „seit Beginn des Krieges getöteten Zivilisten revidiert“ und die „Zahl der getöteten Frauen und Kinder (. . .) um die Hälfte reduziert“. Dahinter steht der Vorwurf, den Todeszahlen sei nicht zu trauen, mit ihnen werde Hamas-Propaganda betrieben. Doch anders als vom Autor suggeriert, erachten die Vereinten Nationen die Angaben des „von der Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums“ als zuverlässig und stellen klar, dass sich am hohen Anteil der getöteten Frauen und Kinder von 60 Prozent nichts geändert habe.
Trotz seines Entsetzens über die Brutalität der Verbrechen der Hamas weist Friedländer Vergleiche mit dem Holocaust zurück, die oftmals instrumentalisiert würden: „Jedes Mal, wenn ich sehe oder höre, dass im Zusammenhang mit dem laufenden Krieg auf den Holocaust Bezug genommen wird, erschaudere ich.“ Nur in einem Punkt sieht er eine Ähnlichkeit, der Hass der islamistischen Organisationen erinnere ihn an die Ideologie der Nazis. Immer wieder wird deutlich, wie fassungslos Friedländer über den weltweit angewachsenen Antisemitismus ist. Er sieht einen „Tsunami der internationalen Feindseligkeit“ gegen Israel. Allerdings wäre hier eine stärkere Differenzierung zwischen den zunehmenden Angriffen auf Jüdinnen und Juden weltweit und der wachsenden Kritik an Israels Kriegsführung angebracht gewesen. Wenn er behauptet, die BBC spiele ihre „übliche propalästinensische Rolle“, oder das US-Außenministerium verfiele in traditionelle Antisemitismusmuster, weil dort 100 Bedienstete in einem offenen Brief die US-Nahostpolitik kritisierten, schießt er weit über das Ziel hinaus.
Friedländer zieht immer wieder die Parallele zum Jom-Kippur-Krieg 1973; allerdings habe sich die Niederlage damals in einen „relativen Sieg“ verwandelt, während Israel heute angreifbar und verwundet wirke. Damit ist das Versprechen des Staates, ein sicherer Ort für Jüdinnen und Juden zu sein, in Gefahr. Seine Eltern hatten einst gehofft, im britischen Mandatsgebiet Palästina, wo ein jüdischer Staat Konturen annahm, Aufnahme zu finden. Doch die Auswanderung wurde verwehrt, sie wurden von den Nazis in Auschwitz ermordet. Die Hoffnung seiner Eltern auf Rettung vor der Nazi-Barbarei ist für Saul Friedländer die zentrale Rechtfertigung für die Existenz eines jüdischen Staates. Gerne würde man mehr lesen über seine historische Einordnung, über biografische Ausgangspunkte seines Denkens, doch zu oft verbleiben die Aufzeichnungen dieses Tagebuchs im Tagespolitischen und im Allgemeinen.
Amir Tibon, Redakteur der linksliberalen Tageszeitung Haaretz, verwebt in seinem Buch den dramatischen Angriff auf einen der Kibbuzim, Nahal Oz, mit der Geschichte dieses direkt neben dem Gazastreifen gelegenen Ortes. Daran wiederum erzählt er die Geschichte des Konflikts von 1948 bis heute. Den Ort wählt er nicht zufällig: Tibon zog 2014 mit seiner Familie nach Nahal Oz, weil er von Gemeinschaft und Zusammenhalt des kleinen, abgelegenen Ortes fasziniert war.
So fand er sich mit seiner Familie am Morgen des 7. Oktober im Zentrum des Albtraums wieder, der sich im Grenzgebiet entfaltete. Zwar gehörte regelmäßiger Raketenalarm längst zum Alltag der Familie, doch normalerweise flogen die Geschosse über ihre Köpfe hinweg in die nächstgelegenen Städte. Nun, das realisierten Tibon und seine Frau schnell, wurde der Kibbuz selbst angegriffen. Aus dem Bett flüchteten sie mit ihren beiden kleinen Töchtern in ihren privaten Schutzraum.
Tibon erzählt in wechselnden Kapiteln diesen dramatischen Tag und die Grundzüge der historischen Entwicklung. Letztere bieten einen guten Überblick über die Vorgeschichte des 7. Oktobers, auch wenn wenig Neues zutage gefördert wird – vom israelisch-arabischen Krieg 1948 über den sogenannten „Sechstagekrieg“ 1967, den Jom-Kippur-Krieg 1973 bis zur Intifada 1987 und den folgenden Friedensprozess inklusive der Verbitterung über dessen Scheitern. Interessant ist die Wahrnehmung dieser Etappen aus der Perspektive der Grenzregion. Tibon hat dafür Interviews geführt mit Zeitzeugen, die größtenteils seine Nachbarn waren.
Der Titel des Buches „Die Tore von Gaza“ stammt aus einer in Israel berühmt gewordenen Rede des damaligen Verteidigungsministers Mosche Dajan. Auf ihn ging auch die Gründung des Kibbuz Nahal Oz im Jahr 1951 zurück. Er schickte eine kleine Gruppe von Soldatinnen und Soldaten dorthin, um die Grenzsicherung des jungen Staates an neuralgischen Punkten zu gewährleisten. Erst später wurde daraus eine zivile Gemeinde. Die Kibbuzim waren nicht nur die oft romantisierten Agrarkommunen mit sozialistischem Anstrich, sondern erfüllten auch eine wichtige militärische und strategische Funktion. Allerdings ging es in Nahal Oz um die Absicherung der international vereinbarten Waffenstillstandslinie von 1948 und nicht um deren Ausdehnung nach Gaza oder im Westjordanland. Ein Punkt, der für Tibon als Verfechter der Zweistaatenlösung und Gegner von Netanjahus Siedlungspolitik zentral ist.
Als 1956 ein Mitgründer des Kibbuz, Roz Rutberg, von palästinensischen Angreifern erschossen wird, kommt Verteidigungsminister Dajan persönlich und hält seine Rede, die ganz vom zionistischen Kampfgeist beseelt ist. Sie enthält aber auch ein seltenes Bekenntnis zur „Nakba“, der israelischen Vertreibung von etwa 700 000 Palästinenserinnen und Palästinensern aus ihren Dörfern im Jahre 1948. Laut Tibon wurde in späteren Versionen der Rede dieses Bekenntnis getilgt, weil es gegen das offizielle israelische Narrativ verstoßen habe.
Tibon schildert die Anfangsjahre des Kibbuz mit vielen Kontakten nach Gaza, wechselseitigen Besuchen und Ausflügen zum Einkaufen, was bald schwieriger und schließlich unmöglich wird. Gaza wird zunehmend abgeriegelt und isoliert, die Islamisten profitieren. Trotzdem oder gerade deswegen ist die Euphorie in den frühen Tagen von „Oslo“ riesig. Der Kibbuz feiert ein Friedensfest gemeinsam mit den Nachbarn aus Gaza, bis alle Hoffnungen in der grenzenlosen Gewalt der zweiten Intifada untergehen. Doch alle historischen Episoden, so bewegt sie auch sein mögen, werden von der Dramatik der Schilderungen des 7. Oktobers in den Schatten gestellt.
Die Kapitel, in denen Tibon die Vorgänge jenen Tages im Kibbuz schildert, muten teils an wie ein mit besonders viel Fantasie – und Grausamkeit – erdachter Actionthriller. Das gilt insbesondere für die unglaubliche Rettungsaktion seines Vaters Noam. Der pensionierte Armeegeneral macht sich mit seiner Frau und anfangs nur mit einer Pistole bewaffnet von Tel Aviv auf den Weg und gelangt auf abenteuerlichen Umwegen nach Nahal Oz. Dort wird er selbst in Kämpfe verwickelt, bis er die Familie seines Sohnes schließlich befreien kann.
Keines der zum Jahrestag erschienenen Analysen schafft es so eindringlich, die Geschichte des 7. Oktobers zu erzählen wie Lee Yaron, ebenfalls Haaretz-Journalistin. In ihrem Buch (SZ vom 2. Oktober) lernen wir die Geschichten der Menschen kennen, die an diesem Tag getötet werden, verletzt, entführt, und die Geschichte der trauernden und traumatisierten Hinterbliebenen. Kaum auszuhalten sind die Schilderungen, nicht nur wegen der unvorstellbaren Grausamkeiten, der sinnentleerten Gewalt, sondern wegen der Dokumentation der endlosen, herzzerreißenden Verluste, welche die Hinterbliebenen erleiden müssen. Kinder verlieren ihre Eltern, hochbetagte Menschen ihre Partner. Menschen, in deren Familiengeschichten nicht selten tiefe Traumata angesichts der Schoah, von Krieg und Vertreibung eingebrannt sind. Menschen, die sich ihr Leben lang für eine friedliche Lösung und die Menschenrechte der Palästinenser einsetzten, und Menschen, die gerade erst vor Kriegen wie dem in der Ukraine geflohen sind. Aber auch Beduinen oder thailändische Gastarbeiter.
Yaron schreibt ihre Geschichten auf, um ihre eigene Hilflosigkeit zu überwinden. Auch Yaron teilt die Fassungslosigkeit, den Schmerz, die Wut über das völlige Versagen des israelischen Staates, die Katastrophe vorauszusehen und in der Stunde der Not seine Bürgerinnen und Bürger zu beschützen. Schon zwei Wochen nach dem Massaker fuhr sie in den Süden, um mit Überlebenden zu sprechen. Diese direkten Berichte ergänzt sie mit weiteren inoffiziellen und offiziellen Quellen. All dies fügt sich zu einem herzzerreißenden Kaleidoskop des Leids und der Trauer. Yarons Mann Joshua Cohen setzt im Nachwort das Buch in den Kontext der Yizkor-(Erinnerungs-)Bücher, in denen vorwiegend aschkenasische Überlebende Erinnerungen an das Leben ihrer in der Schoah ausgelöschten Gemeinden festhalten. Eine ebenso deprimierende wie überwältigende Lektüre.
Aus allen Büchern spricht der anhaltende Schock über den noch immer unfassbaren Angriff der Hamas und das unermessliche Leid, das er hervorgebracht hat. Dabei präsentieren sie naturgemäß israelische Sichtweisen; wenn auch allesamt liberale Sichtweise, die das palästinensische Leid nicht ignorieren und immer wieder auf die Notwendigkeit einer friedlichen Lösung drängen. Und dennoch erinnern die Bücher auch an eine riesige Leerstelle, denn eine vergleichbare palästinensische Erzählung, ein Tagebuch aus Gaza oder individuelle Geschichten aus Libanon fehlen noch. „Ich warte, in aller Demut, auf die Bücher meiner palästinensischen Kollegen, die sicher bald die Geschichten der Unschuldigen von Gaza erzählen werden“, schreibt Yaron. Zur Empathie mit allen Menschen in der Region ist es noch ein weiter Weg.
René Wildangel ist Historiker und schreibt zum Schwerpunkt Naher / Mittlerer Osten.
Ein Friedensfest
mit Palästinensern
im Kibbuz – lange her
Eine Leerstelle bleibt,
trotz der Dokumentation
herzzereißender Verluste
Amir Tibon:
Die Tore von Gaza. Eine Geschichte von Terror, Tod, Überleben und Hoffnung. Aus dem Englischen von Ursula Kömen. Suhrkamp Verlag/Jüdischer Verlag, Berlin 2024. 320 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
Saul Friedländer:
Israel im Krieg.
Ein Tagebuch. Aus dem Englischen von Andreas Wirthensohn. Verlag C.H. Beck, München 2024. 204 Seiten, 24 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
Ein Jahr danach: Wand mit Porträts der Opfer am Ort des Nova-Musikfestivals, bei dem Hunderte Feiernde getötet und von der islamistischen Hamas entführt wurden.
Foto: Ariel Schalit / dpa
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