Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Abrechnung mit dem Spuk des Kolonialismus – die junge Autorin Nona Fernández aus Chile
Als die chilenische Schriftstellerin Nona Fernández kürzlich im Berliner Instituto Cervantes zu Gast war, wollte sie sich nicht beklagen. Insgesamt lägen die Dinge in ihrem Heimatland heute besser: Die Militärdiktatur ist Vergangenheit, das bedrückende Schweigen, das sich nach Pinochets Absetzung über das Land gelegt hatte, wird von der heranwachsenden Generation zusehends aufgebrochen. Die jüngeren Schriftsteller hätten heute einen neuen Gegner: den Neoliberalismus. Das Produktivitätsprinzip mache in Chile auch vor den Künsten nicht halt, für jeden Förderantrag müsse man einen Businessplan entwerfen.
Die Regierung wolle stets ganz genau wissen, worin genau der gesellschaftliche Mehrwert des Kunstwerks bestehe, das man sich da vorgenommen habe. Und weil man nicht jedes Mal Friedrich Schillers „Ästhetische Erziehung“ an den Förderantrag heften könne, helfe es, Glanz, Erfolg und ein idealisiertes, bürgerliches Künstlerbild im Stile Pablo Nerudas auszustrahlen.
Nona Fernández strahlt allerdings eher ein borgesianisches Geschichtsbewusstsein aus, das in den Chroniken der chilenischen Elite vor allem die weißen Flecken sieht. Ihr großartiger Debütroman „Die Toten im trüben Wasser des Mapocho“ ist, als er bei uns 2012 erschien, nahezu unbemerkt durch die Buchsaison gerauscht. Im Original ist der Roman schon im Jahr 2000 erschienen – wenn ein Buch nach anderthalb Jahrzehnten noch immer eine solche Kraft entfaltet, wird es sich behaupten.
In „Mapocho“ erzählt Rucia von ihrer Rückkehr in ihre Heimatstadt Santiago de Chile. Als sie noch ein Kind war, haben freundliche Männer in Zivil das Haus der Familie aufgesucht und den Vater abgeholt – nur eine Kleinigkeit, in ein paar Stunden sei die Sache erledigt. Der Vater verabschiedete sich ostentativ flüchtig von seiner Familie, als könne er damit sein Schicksal abwenden. Denn natürlich war ihm nicht entgangen, dass im Viertel neuerdings Leute verschwinden. Auch er kehrt nie zurück.
Die Mutter emigriert mit den Kindern nach Spanien, wo sie den Rest ihres Lebens in einer trauerbedingten Haltung innerer Gesamtverweigerung verbringt. Sie wäscht sich nur noch selten, weint jede Nacht. Als sie entdeckt, dass sich ihre Kinder Indio und Rucia näherkommen, als es Geschwistern zukommt, wirft sie Indio aus dem Haus. Nach dem Tod der Mutter fliegt Rucia zurück nach Santiago, um deren Asche in den Mapocho zu streuen.
Eine zentrale Rolle, die des Über-Ichs, spielt der opportunistische Historiker Fausto, der für seine mehrbändige chilenische Nationalgeschichte von den Machthabern reich entlohnt wurde, jedoch wegen all der Passagen, die er wider besseres Wissen ausließ, im Alter verbittert ist und sich heute nur noch selbst erträgt, indem er sich vom Whiskey weichzeichnen lässt. Er kommt über die Welt nicht hinweg, die er selbst erschaffen hat: „Seine Version ist die richtige. Das, was er geschrieben hat, existiert und was er nicht aufschreibt, verdient, vergessen zu werden. Das war die Arbeit, die man ihm auftrug.“
Der Roman adaptiert eine bürgerlich-europäische Erzählweise, die die Suche des Einzelnen nach seinem Platz in der Geschichte ins Zentrum stellt. Wenn die Glaubensbekenntnisse der Eltern, der gesellschaftlichen Eliten und der Historiker vor Falschheit, Verdrängung und Angst triefen, sucht sich das sozialisierungswillige Ich neue Gesprächspartner. In dem allegorischen Verfahren dieses Romans repräsentiert der Historiker Fausto die koloniale Geschichtsversion des chilenischen Nationalstaates, während der Bruder Indio die verbotene Liebe der Ich-Erzählerin gibt. Rationale Autorität gegen unterdrückte Sehnsucht, Apollo und Dionysos.
Die Erzählerin Rucia zerreißt es zwischen diesen Urkräften, die ihr jeweils die Möglichkeit eines abschließenden Selbstentwurfes, eines ideellen Friedens anbieten. In ihr tritt der chilenische Nationalgeist hervor – gleich der erste Satz des Romans, „Verflucht kam ich zur Welt“, erklärt das koloniale Konstrukt namens Chile zur Missgeburt. Die Erzählung ist durchsetzt mit Episoden aus der Kolonialgeschichte, in denen mutige Eroberer Brücken und Bahnhöfe bauen, widerspenstige Indianer enthaupten und Marienstatuen errichten: „Die Stadt Santiago hat ein jungfräuliches Gesicht und weit geöffnete Arme aus weißem Steingut, vor denen etliche ihre Knie beugen, nachdem sie dafür den ganzen Hügel hinaufgestiegen sind. Sie stören sich nicht daran, dass diese, da Ausländerin, weder ihre Gebete noch ihre Bitten begreift.“ Diese Geschichtsversion kontrastiert Fernández mit der inzestuösen Liebe Rucias zu ihrem leidenschaftlichen, musischen Bruder Indio, der ihrem Herzen so etwas wie eine verbotene Heimat gibt. Als sie miteinander schlafen, spürt sie ihn gleich in vielfacher Hinsicht „in mir“.
Allerdings imitiert der Roman die europäische Erzähltradition nicht bloß, er unterläuft sie. Ähnlich wie Frida Kahlo den deutschen Expressionismus als Baukasten für eine Ästhetik benutzt hat, die in erster Linie mexikanisch ist, latinisiert auch Fernández den europäischen Vernunft-Leidenschaft-Dualismus, indem sie ihn in einer mythologisch-assoziativen Prosa auflöst: „Träume und Erinnerungen sind eng miteinander verwoben. Die Erinnerung nährt den Kopf während des Schlafs, speist ihn mit bekannten Bildern und heraus kommt eine seltsame Mischung an Dingen, die wir schon einmal gesehen haben.“ Von der Postmoderne will der Roman nicht das Geringste wissen, umso entschiedener tritt er postkolonial auf: „Als Künstlerin spüre ich eine historische Verantwortung“, sagte Fernández in Berlin.
In diesem Frühjahr ist Fernández’ Erzählband „Der Himmel“ auf Deutsch erschienen, eine Sammlung abgründiger Alltagsbegebenheiten, mit Gespenstern und untoten Vormietern. Mit ihrem Debüt können es diese dann doch arg formelhaft geratenen Geschichten freilich nicht aufnehmen. Die Geister, die hier herumspuken, waren in der Gruselliteratur der Gründerzeit besser aufgehoben. Mit ihrem ersten Roman jedoch ist Nona Fernández in Chile zu einer öffentlichen Figur geworden. Sie hatte ihrem Debüt bereits weitere Romane folgen lassen: „ Av. 10 de Julio Huamachuco“ (2007), „Fuenzalida“ (2012) und „ Space invaders“ (2013). Ihr österreichischer Verlag arbeitet an der Übersetzung.
FELIX STEPHAN
Nona Fernández : Die Toten im trüben Wasser des Mapocho. Roman. Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz. Septime, Wien 2012. 256 Seiten, 20,90 Euro.
Der Himmel. Erzählungen. Aus dem chilenischen Spanisch von Anna Gentz. Septime, Wien 2014. 168 Seiten, 18,40 Euro.
Der erste Roman machte Nona
Fernández zur öffentlichen Figur
„Die Erinnerung nährt den Kopf während des Schlafs“: Nona Fernández.
dpa
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de