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Das Buch wurde vor Kriegsbeginn in der Ukraine abgeschlossen. Es liest sich aber wie eine sehr aktuelle Mahnung zur Umkehr.
Von Thomas Speckmann
Politische Bücher kommen und gehen. Je nach Anlass, je nach Gemengelage, je nach Konjunktur des öffentlichen Interesses. Aber manche bleiben. Das geschieht dann, wenn sie ein Thema nicht nur aufgreifen, sondern es formen und weiterentwickeln. Wenn aus ihnen ein politischer Fahrplan nicht nur für die unmittelbare Gegenwart, sondern auch für die nach Möglichkeit nicht allzu ferne Zukunft hervorgeht. Und wenn dieser Fahrplan mehr ist als eine Vision, mehr als ein frommer Wunsch. Wenn dieser Fahrplan zumindest eine reelle Chance hat, nicht nur wahrgenommen, sondern auch umgesetzt zu werden. Dann bleiben politische Bücher länger als die von ihnen beschriebene Politik ihrer eigenen Gegenwart.
In Zeiten, in denen - wieder einmal - viel von Zeitenwenden, von Zäsuren, von Umbrüchen und Umwälzungen die Rede ist, tut ein Autor gut, der bereits politische Bücher geschrieben hat, die bleiben. Vor zehn Jahren veröffentlichte Josef Braml ein Buch zum "amerikanischen Patienten". Das war im besten Sinne transatlantische Politikberatung. Der international ausgewiesene USA-Kenner und heutige Generalsekretär der Deutschen Gruppe der Trilateralen Kommission, einer globalen Plattform für den Dialog zwischen Amerika, Europa und Asien, stach nicht nur hervor mit einer sehr treffenden Prognose der Politik Washingtons - er befürchtete bereits am Ende der ersten Amtszeit von Barack Obama aufgrund der massiven Probleme der Vereinigten Staaten einen neuen Protektionismus, eine verschärfte Ressourcenrivalität mit China, eine zunehmende Sicherung eigener Interessen sowie eine Abwälzung sicherheitspolitischer Lasten auf die westlichen Verbündeten.
Braml gab den Europäern darüber hinaus wertvolle Hinweise für ihren künftig notwendigen Umgang mit den USA. Eine zentrale Empfehlung, die zwar bislang nicht umgesetzt wurde, aber nun angesichts von Russlands Überfall auf die Ukraine eine Renaissance nicht zuletzt in Deutschland als Moskaus wichtigstem Gaskunden in Europa erlebt: eine transatlantische Umwelt- und Energiepartnerschaft, die Forschung und Investitionen im Bereich neuer Technologien und den freien Handel alternativer Kraftstoffe im multilateralen Rahmen fördert, als Grundlage für eine multilaterale, umweltverträgliche Energiesicherheitspolitik.
Zwar hat Braml sein neues Buch vor dem russischen Überfall vollendet - die Druckfahnen lagen Anfang Februar vor. Aber erneut ist seine Stärke die vorausschauende Empfehlung, die auf historischer Erfahrung basiert. So nimmt er den europäischen Weg im Umgang mit Russland vorweg, der nun - wieder - eingeschlagen wird: glaubwürdige militärische Abschreckung, verbunden mit diplomatischer (Wieder-)Annäherung. Denn für Braml hat sich gegenüber Moskau historisch bewährt: "Es braucht eine Kombination aus einer Politik der Stärke und einer Politik der ausgestreckten Hand." Damit knüpft Braml ausdrücklich an das an, was Helmut Kohl und Horst Teltschik in der zweiten Hälfte der 1980er-Jahre auch in seinen Augen sehr erfolgreich praktiziert hatten, aufbauend auf dem NATO-Doppelbeschluss und der Ostpolitik von Willy Brandt und Egon Bahr.
Zu dieser sicherheitspolitischen Tradition zurückzukehren bedeutet für Braml, keine Zweifel daran aufkommen zu lassen, dass militärische Aggressionen nicht unbeantwortet bleiben werden, und sicherzustellen, dass auch glaubwürdige militärische Mittel zur Abschreckung vorhanden sind - eine Vorwegnahme des nun verkündeten 100-Milliarden-Nachrüstungsprogramms der Ampelkoalition. Es bedeutet für Braml aber ebenso, nach neuen Wegen zu suchen, wie das Sicherheitsdilemma in Europa aufzulösen ist, wie neues Vertrauen geschaffen werden kann. Dabei geht es ihm um Initiativen für eine neue Sicherheitsarchitektur, in der die Interessen aller Parteien aufgehoben sind, Sicherheit miteinander, nicht gegeneinander - dies dürfte für die nun kommenden Jahre umso mehr gelten, nicht trotz, sondern gerade wegen der russischen Aggression und ihrer Eindämmung durch den Westen.
Auch Braml denkt hier nicht zuletzt an Rüstungskontrolle. Ein Schritt könnte nach seinem Urteil die Wiederbelebung des A-KSE-Prozesses sein - des Versuchs, den im November 1990 unterzeichneten KSE-Vertrag zur Begrenzung der konventionellen Streitkräfte in Europa an die Gegebenheiten nach der Auflösung des Warschauer Paktes und der Sowjetunion anzupassen. Die Wiederaufnahme dieser Verhandlungen könnte nach Bramls Vorstellung dann den Auftakt bilden für eine Neubelebung der Abrüstungsverträge.
Um Europas Sicherheit und Zusammenhalt allerdings wirklich strategisch zu gewährleisten, plädierte Braml schon vor Moskaus Feldzug gegen Kiew weitsichtig dafür, vorauszudenken und dementsprechend mutig zu handeln. Dazu wandelte er ein - russisches! - Sprichwort für Europas Staaten zeitgemäß ab: "Vertrauen in andere ist gut, eigene Verteidigungsfähigkeit ist besser." Sein Fazit aus der jüngeren Entwicklung: Es sei höchste Zeit, dass sich die Europäer neben vertrauensbildenden Maßnahmen gegenüber Russland auch über eigene, von den USA unabhängige militärische Fähigkeiten Gedanken machten - im konventionellen wie im nuklearen Bereich -, auch um möglichen Erpressungsversuchen oder gar Aggressionen der russischen Führung vorzubeugen. Was ist dem noch hinzuzufügen? Außer: Zu spät für die Ukraine, hoffentlich nicht auch noch zu spät für die ukrainische Nachbarschaft im Westen.
Den bereits kurz nach der Ankündigung der "100-Milliarden-Bazooka" für die Bundeswehr aufkommenden kritischen Stimmen in Deutschland sei zur Lektüre empfohlen, was Braml von seinem Kollegen Lawrence Freedman vom King's College London in Erinnerung ruft: Der Doyen der Abschreckungsforschung beschreibe die "inhärente normative Anziehungskraft" dieses Verteidigungskonzepts. Wenn ein Staat eine Abschreckungsstrategie wähle, signalisiere er, dass er keinen Kampf anstrebe, aber dennoch einige Interessen für so wichtig halte, dass sie es wert seien, dafür zu kämpfen. "Es ist eine defensive Absicht ohne Schwäche. Sie versucht, Aggressionen zu verhindern, während sie nicht aggressiv ist. Sie unterstützt den Status quo, anstatt ihn zu stören." Umso mehr hält Braml das Konzept der Abschreckung für vereinbar mit den Prinzipien einer wehrhaften liberalen Demokratie.
Eben eine solche für Europa erneut entstehen zu lassen - daran scheitern die Europäer bislang. Und zwar nicht an anderen, sondern an sich selbst. Sie werden von Braml daran erinnert, dass sie durchaus schon heute die Voraussetzungen dafür hätten, sich selbst zu verteidigen. Die Zahlen weiß er dabei auf seiner Seite: Die Mitglieder der Europäischen Union geben gemeinsam fast dreimal so viel wie Moskau für Verteidigung aus. Allein Frankreich und Deutschland wenden zusammen rund zwei Drittel mehr für Rüstung auf als Russland - und dies bereits vor dem Aufbau des Sondervermögens für die deutschen Streitkräfte in Höhe von zwei ihrer aktuellen Jahreshaushalte.
Es muss folglich auch nach Bramls Analyse weniger darum gehen, sehr viel höhere Verteidigungsausgaben vorzusehen, sondern vielmehr darum, effizienter zu investieren, um die notwendigen Fähigkeiten zu entwickeln, indem man im europäischen Rahmen Waffensysteme gemeinsam einkauft und weiterentwickelt. Braml zitiert eine von der Münchner Sicherheitskonferenz bereits 2013 in Auftrag gegebene McKinseyStudie: Sie bezifferte die jährlichen Kosten bisheriger Ineffizienzen in Europa auf 13 Milliarden Euro - ein Drittel der damaligen Ausgaben für die europäische Rüstungsbeschaffung. Die daraus in den vergangenen Jahren immer wieder abgeleitete, aber eben bislang nicht umgesetzte Schlussfolgerung: Durch "Pooling & Sharing" ihrer Fähigkeiten könnten die Europäer auch ihrer Diplomatie mehr Gewicht verleihen. Hatte nicht Wolfgang Ischinger schon lange vor Putins Griff nach der gesamten Ukraine gemahnt: "Diplomatie bleibt heiße Luft ohne militärische Fähigkeit"? Bramls Buch ist eine Mahnung, die bleibt.
Josef Braml: Die transatlantische Illusion. Die neue Weltordnung und wie wir uns darin behaupten können.
C. H. Beck Verlag, München 2022. 176 S., 16,95 Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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