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Das Experiment Treuhandanstalt im wiedervereinigten Deutschland - Geschichte einer Überforderung
Von Karl-Rudolf Korte
Die DDR war unbekannt. Man besichtigte nach der Wiedervereinigung 1990 mit erstauntem Blick ein marodes Industriemuseum. Wirtschaftslage und Wettbewerbssituation der DDR konnten 1989 nicht richtig eingeschätzt werden. Das galt nicht nur für westdeutsche, sondern auch für ostdeutsche Analysen. Wie sollte aus westdeutscher Sicht eine realistische ökonomische Eröffnungsbilanz gemacht werden, wenn alle Zahlenwerke der DDR überhaupt keinen Realitätsbezug hatten? Führende Wirtschaftsinstitute errechneten, dass die DDR bald ihren Finanzierungsbedarf aus dem eigenen Wachstum werde erwirtschaften können. Manch einer sprach 1989/90 vom "Schnäppchen DDR" (Günter Grass). Der Verkaufswert von über 9000 Unternehmenseinheiten mit mehr als 40 0000 Betriebsstätten in der ehemaligen DDR wurde von der Treuhandanstalt mit 600 Milliarden D-Mark im Herbst 1990 angegeben. Es dauerte nicht einmal mehr ein weiteres Jahr, bis klarwurde, dass die Treuhand keinesfalls mit Gewinn, sondern mit einem gigantischen Verlust ihre Arbeit beenden würde. Das trat dann mit der Auflösung der Treuhand am 31. Dezember 1994 ein.
Die frei gewählte Volkskammer der DDR hatte rechtlich die Treuhandanstalt eingesetzt. Deren einzige Aufgabe: früher "volkseigene" Betriebe so zu strukturieren, dass sie im Wettbewerb bestehen konnten. Anschließend sollten sie privatisiert werden. Dafür gab es weltweit kein Vorbild, an dem man sich hätte orientieren können. Man stand vielmehr vor der historisch einzigartigen Aufgabe, eine zentralwirtschaftlich organisierte Wirtschaftsstruktur der ehemaligen DDR in die sozial und marktwirtschaftlich gestaltete Ordnungsform der Bundesrepublik Deutschland zu transformieren.
Der junge Historiker Marcus Böick erinnert daran wortgewaltig in einem voluminösen Werk über die Treuhandanstalt. Sein Blick gilt seismographisch dem Personal, nicht der ökonomischen Bilanz. Solche Anstalten des öffentlichen Rechts sind nie nur zweckrationale Organisationen. Menschen arbeiten dort, soziale Strukturen führen deshalb oft ein zweckfreies Eigenleben. Wir wissen heute, dass Akteure jeweilige Institutionen formen. Aber jede Organisation hinterlässt auch Spuren bei den Mitarbeitern. Insofern widmet sich Böick einem Forschungsgegenstand, der in mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich ist.
Als Gutachter für den Ostbeauftragten der Bundesregierung ist der Autor bereits erfahren genug, um das Minenfeld behutsam zu sichten. Denn die Treuhandanstalt ist nicht irgendeine Abwicklungsbehörde in revolutionären Zeiten gewesen. Sie ist für viele Ostdeutsche bis heute das Codewort für den Ausverkauf, die Abwicklung, oft den Betrug an ihrem Vermögen. Die Treuhand machte aus der Bevölkerung der DDR Deutsche zweiter Klasse. Zumindest bleibt dieser Eindruck erinnerungsgeschichtlich relevant. Kaum einem Absatz im Buch fehlt dieses Narrativ tiefer Traumatisierung. Ob berechtigt oder nicht, interessiert den Autor nicht. Selbstbilder der Mitarbeiter stehen im Zentrum seiner Analyse.
Im Westen existiert hingegen kein Wissen und auch kein Bild über diese Einrichtung vom Anfang der neunziger Jahre. Wenn Erinnerungen aufkommen, dann eher im Zusammenhang mit der Ermordung des Treuhand-Chefs Rohwedder im April 1991. Die RAF-Terroristen sahen in der Treuhand symbolhaft verdichtet die Institution des zu bekämpfenden Kapitalismus.
Wie aber sah sich das Personal selbst? Wo wurde es wie rekrutiert? Wie ausgebildet, gefördert und gefordert? Böick bringt die Menschen zum Sprechen. Die Manager, Beamten, "Kader" aus dem Osten und "Wessis", sie alle kommen zu Wort. Ihre Erzählungen und ihre Erfahrungen füllen das Buch. In der Bilanz bleibt der Eindruck von vollkommen überforderten Menschen. Die Lernorganisation, die mit dem Experiment Treuhand gegründet wurde, führte nicht zu Lernerfolgen bei denjenigen, die täglich dort mit Unzufriedenen, mit Gedemütigten, mit Abstiegsbedrohten verhandeln sollten. Der Autor weist zunächst reflektiert auf unterschiedliche Ebenen der Wahrnehmung hin. Die Debattenlandschaft ist geprägt von öffentlicher und veröffentlichter Meinung, denen wiederum sich das Personal auch nicht entziehen konnte. Die Ideen- und Konzeptgeschichte des Treuhand-Modells wird zudem in den ideologischen Kontext eingebettet.
Innovativer und auch origineller erzählt sind die beiden anschließenden Großkapitel. Die "Organisations- und Praxisgeschichte" gehört zunächst dazu. Unterschiedliche Chefs - von Gohlke über Rohwedder bis zu Breuel - verändern sowohl Zugänge und Informationshierarchien als auch das Personal. Das Kapitel "Sozial- und Erfahrungsgeschichte" erschließt Typologien und Erzählungen einer Übergangsgesellschaft. Es kommen Typenbilder zum Vorschein von: Industriemanagern, Verwaltungsexperten, Planwirtschaftskadern, Yuppies/Frauen-Ausländern ("Die ,Anderen' bei der Treuhandanstalt"). Das liest sich ziemlich traurig, wenngleich der Autor von Abenteuergemeinschaften spricht.
Im heutigen Vokabular gehörte die Treuhand zu der Kategorie einer "Bad Bank". Ein Begriffscontainer für eingehegte Abwicklungen, derer man sich entledigen möchte. Durch den Dreiklang Ideenfeld (ideologischer Hintergrund), Praxisort (institutionelle Arbeitsweise) und Erfahrungsraum (Angestellte im Ausnahmezustand) findet Böick eine narrative Illustration, die nachdenklich macht. Die Treuhand lebt durch ihn neu auf "in ihrer sich selbst verstärkenden Radikalisierung, Beschleunigung und Entgrenzung sowie der anschließenden Wiedereinhegung, Domestizierung und Auflösung".
Die Transformation der Übergangsgesellschaft war eindeutig ein verzwicktes Problem. Komplex, mehrdimensional, ohne Vorbilder und lineare Auswege. Wie hätte man damals intelligent mit Nichtwissen umgehen müssen? Sich wechselseitig eingestandene Ratlosigkeit, die angesichts solcher Probleme ratsam gewesen wäre, wurde schon aus Zeitgründen nicht zugelassen. Moralisch und ideologisch hätte zugestandene Ratlosigkeit alle zum Abrüsten bewegt. Das Konstatieren von Gewissheitsschwund hätte alle eher in einen Suchprozess nach Lösungen eingebunden. Doch damals wie heute zwingt der Sofortismus die Politik zum Handeln im Minutentakt. Als ob man wüsste, wie Problemlösungen auszusehen hätten. Das erwarten die Bürger von ihren Politikern. Insofern ist die von Böick glänzend komponierte und akribisch recherchierte Erinnerungsgeschichte keineswegs nur eine Studie über eine abgewickelte Anstalt. Sie zeigt im Umkehrschluss politikberatend, was wir besser machen könnten, wenn die Geschichte wieder einmal "aus den Fugen" gerät.
Marcus Böick: Die Treuhand. Idee - Praxis - Erfahrung 1990-1994.
Wallstein Verlag, Göttingen 2018.
767 S., 79,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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