Wo liegt Gottfried Kellers imaginäres Seldwyla? Es ist eine typische Schweizer Stadt, deren soziale Grundzüge auch für Deutschland und andere Länder um die Mitte des 19. Jahrhunderts Geltung haben. In einem Kreis von zehn Novellen schreitet Keller das Figurenarsenal und die Erscheinungsformen des zeitgenössischen bäuerlichen und bürgerlichen Lebens aus und zeigt dabei den Übergang von traditionalen Wertvorstellungen in die dynamisierten Handlungsmuster der modernen Gesellschaft. Worin jeweils falsches und richtiges, gutes und schlechtes Verhalten besteht, ist unter den Rahmenbedingungen der Moderne nur mehr am novellistischen Einzelfall, das heisst im wechselseitigen Ausgleich von unterschiedlichen Kräften, Interessen und Standpunkten auszuhandeln. Der Band stellt die Seldwyla-Novellen im zeit- und werkgeschichtlichen Kontext vor, erörtert ihre Stellung in der Gattungstradition der Novellistik und im bürgerlichen Realismus. In ausführlichen Werkbetrachtungen kommen die zehn Seldwyla-Novellen mit ihren kühnen und verzagten, ihren rückständigen und ihren weltzugewandten Protagonisten selbst zu Wort. Gezeigt wird dabei, wie sich jeweils das beschreibende Temperament des Chronisten und das didaktische des exemplarischen Erzählers überkreuzen. So stellen in strukturgeschichtlicher Hinsicht die Seldwyla-Novellen Gottfried Kellers ihr modellhaftes Figurenpersonal vor die Probleme und Herausforderungen der gesellschaftlichen Modernisierung. Die erzählten Tugenden und Laster erweisen sich dabei als Steuerungselemente einer sozialen Bestandsaufnahme und Verhaltenslehre des bürgerlichen Lebens.
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