Preis der Leipziger Buchmesse 2016 in der Kategorie ÜbersetzungWas für Irland Joyces ULYSSES, ist für Serbien DIE TUTOREN: ein avantgardistisches, fast unübersetzbares Meisterwerk voller Wortspiele und Stilbrüche, ein experimentelles Labor der Sprache - aber dabei hochkomisch!Im Mittelpunkt steht eine in Slawonien angesiedelte Familienchronik, die auf vielfältige Weise erzählt wird: anhand einer Rauferei in einer Kneipe, in Form eines Lexikons oder als Beratungsgespräch in einer Buchhandlung. Dabei hat der Erzähler als leidenschaftlicher Sammler kurioser Phänomene ein besonderes Augenmerk für Alltagsdinge.Bora Cosic, der während der Entstehung der TUTOREN mit Veröffentlichungsverbot belegt war, bietet alles auf, womit sich nationalistische Mythen und Ideologien jeglicher Couleur lächerlich machen lassen: Ausgehend von einem rebellischen orthodoxen Priester des 19. Jahrhunderts über tatkräftige unternehmerische Frauen bis hin zu einem namenlosen Autor spannt er einen Bogen über 150 Jahre europäischer Geschichte.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Jörg Magenau liest Bora Cosics Monumentalroman in eigentlich unmöglicher Übersetzung und mit großem Vergnügen. Sein Dank geht an die Übersetzerin Brigitte Döbert, die laut Magenau die Vielstimmigkeit und den Wortwitz des Textes souverän übertragen hat. Das ist wichtig, da der logos Ausgangspunkt und Zentrum des Textes ist, wie der Rezensent feststellt, und das Nebeneinander der Sprachen und Kulturen des Vielvölkerstaates, in dem Cosic seine 200 Jahre umfassende Familiengeschichte ansiedelt, abbildet. Einkaufslisten, Firmenverzeichnisse und Kochbucheinträge stehen hier neben Volksliedern, Geschwätz und Briefen, neben Bibelzitaten und Redewendungen, erklärt Magenau. Dass ihm Handlung oder psychologisch fassbare Charaktere im Buch gefehlt hätten, kann er nicht behaupten. Der Tagesablauf eines Mannes in seiner dörflichen Welt von 1828 wird für ihn immerhin sichtbar und darüber hinaus so viel, dass er von diesem Buch als von einem großen europäischen Roman sprechen möchte.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 06.01.2016Modernes Welttheater der Kleinbürger
Bora Cosic hat mit der parodistischen Familiensaga "Die Tutoren" einen Höhepunkt europäischer Sprachartistik erreicht. Nun erscheint der Roman, der lange als unübersetzbar galt, zum ersten Mal auf Deutsch.
Alle Familien leben so ähnlich, aber unsere, die hat bei Gott alles erlebt." Atemlos quasselt Frau Danica in einer Belgrader Buchhandlung nach dem Krieg auf den Buchhändler ein, und ihre Halbbildung, die sich nicht auf den verdrehten Anfangssatz aus Tolstois "Anna Karenina" beschränkt, entfaltet dabei ihre komödiantische Wirkung: die Leiden der jungen Wörter, éducation seximentale, Porträt des Künstlers als junger Hund - Hust, Proust und Pust! Es sind Sätze, an denen man sich kaum sattlesen kann, wild-skurrile Wortkaskaden aus einem Rabelaisschen Narrenspiel der Sprache, das zugleich eine Familiensaga über hundertfünfzig Jahre europäischer Geschichte darstellt.
Sie entstammt der Feder von Bora Cosic, dem Doyen der modernen serbischen Literatur, geboren 1932 in Zagreb und heute abwechselnd in Berlin und im kroatischen Rovinij zu Hause. Man kennt ihn als messerscharfen Satiriker und klugen Essayisten. Sein jetzt auf Deutsch erschienenes Opus magnum "Die Tutoren" entstand bereits in den siebziger Jahren, in einer Zeit, als die Tito-Diktatur den unangepassten Schriftsteller in die innere Emigration getrieben hatte. 1978 in Belgrad erschienen, galt dieses Meisterwerk der literarischen Avantgarde lange Zeit als unübersetzbar. Der Schöffling-Verlag und die Übersetzerin Brigitte Döbert haben sich schließlich an diesen Achttausender der Sprachgewalten gewagt. Herausgekommen ist ein fulminanter deutscher Text mit hintersinnigem Humor, der kein bisschen verstaubt ist. Vielmehr klingt vieles heute, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, Jugoslawiens und im Zuge der wieder erwachenden nationalistischen Kleinstaaterei, wie traurig wahr gewordene Voraussagungen.
Alles beginnt wie das Buch der Bücher mit dem "Wort", hier als Eintrag in einer wirr anmutenden Enzyklopädie, die ein Vorfahre des Autors, der serbisch-orthodoxe Priester Theodor, im Jahre 1828 in der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden fiktiven Kleinstadt Grunt in Slawonien zusammenstellt. Der deutsch klingende Name gehört durchaus zum ästhetischen Programm, und wer bei Slawonien, ein Landstrich im Osten Kroatiens, an Schlawiner denkt, ist, zumindest was den Schalk im Wort ausmacht, auch nicht so ganz auf dem Holzweg. Für Theodor ist das "Wort" ein "Buchstabenstapel", der sich zu einem Gegenstand formt, "den der eine versteht, der andere nicht". Die Hoheit der Kirche über die Sprache ist längst passé, eine neue Ordnung der Dinge muss her. Mit seiner keinem nachvollziehbaren System folgenden Sammlung, in der sich Göttliches und Weltliches auf urkomische Weise mischen - die Schwiegermutter mit dem Teufel, Geschlechtskrankheiten wie "Franzosen bekommen" mit Psalter und Paprikasch -, ist Theodor der erste in einer Reihe von Dokumentier- und Sortierwütigen in dieser so gar nicht außergewöhnlichen Familie.
Spätestens beim zweiten Buch wird deutlich, dass der Roman, aufgebaut wie der alttestamentarische Pentateuch, nicht den Gesetzen landläufiger Prosawerke folgt. Es geht nicht so sehr um die Figuren, sondern um eine Neuvermessung der Welt mittels der Sprache. Aus Monologen und Possenspielen, Listen von Gesetzen und Verordnungen, Rezepten, Neuigkeiten und Überliefertem, Buchtiteln und Volksplatituden wie "Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu" entsteht ein polyphones Welttheater, aufgeführt in einem Hinterzimmer Europas, das zum Versuchslabor der Moderne umgebaut wurde. Gespielt wird es von unbedarften Kleinbürgern, denen die Welt letztlich egal ist.
Auf Theodor folgt 1871 Katharina, seine Schwiegertochter, eine kluge Geschäfts- und Hausfrau, die, aus kroatischem Adel stammend, ihrem Mann zuliebe zur Orthodoxie konvertierte und deshalb von ihrer reichen Familie enterbt wurde. In ihren Aufzeichnungen vermengen sich Häusliches und Geschäftliches, Politisches und Privates, kassandraartige Prophezeiungen über die Verwerfungen des kommenden Jahrhunderts und betuliche Bilderbögen, in denen der Kaiser als beschränkter Biedermann herumgeistert. Katharinas "Gott und die Leut" wird zu einem literarischen Monumentalbild, ein Hieronymus Bosch in Worten. Es gipfelt in einem volkstümlich gereimten Endzeitmonolog: "Nach dem jüngsten Gericht weilen im Paradies nur ein paar alte Frauen, die auf die Erde schauen, dazu einige Krüppel und Chinesen, die sind zu kurz am Leben gewesen."
Mittels des Theaters, das in einem dadaistisch anmutenden Volksstück daherkommt, wird die nächste Tutorin, Laura, Katharinas aus Graz stammende deutsche Schwiegertochter, eingeführt. Sie reist vor dem Ersten Weltkrieg in einem Zugabteil mit dem geschwätzigen Provinzler Hinko Hinkovic nach Paris, ihrem Mann, einem Arzt hinterher. Die ihr neue Welt des Massenkonsums entdeckt sie durch Werbeslogans und Ratgeberliteratur. Seitenweise folgen wir absurden "Regeln für Überraschungsgäste" oder - als sei's ein Ich-bin-doch-nicht-blöd-Spruch von heute - "Schicken Sie Geld, die Ware existiert nicht". Mit Lazar, Lauras Schwiegersohn, und seiner Frau Danica gelangen wir schließlich ins Jahr 1938 und von dort bis in die Nachkriegsepoche. Lazar ist Handlungsgehilfe und Taugenichts, den es nach Belgrad verschlagen hat, wo er sich mit Saufgelagen und Hurerei die Zeit vertreibt. Danica liest Groschenromane und Frauenzeitschriften, ihre Gedanken kreisen um das traute Heim; ihre Sorge gilt ihrem Sohn Bora und dabei vor allem der Tatsache, dass er mit einem "kleinen Juden" mit der Tram die Großstadt erkundet.
Zwischen all dem Geplapper verstecken sich die wahren Tragödien der Familie und der Geschichte. So erfährt man in Nebensätzen, dass Katharina ermordet wurde, Lauras Mann einem Hochverratsprozess entging und an der Spanischen Grippe starb und Danica von Lazar für eine Kassiererin sitzengelassen wurde. Er starb an der "Leber", wie praktisch jeder Zweite. Hitler, Stalin, der Holocaust, Kriege und der Zusammenbruch von Imperien, alles kommt in Platituden daher, verdreht in einer Art Stille-Post-Spiel. Die wahre Heldin dieses großen, sich dem Leser nicht ganz leicht erschließenden europäischen Romans ist die Sprache, jene, wie es der Autor in seinem Nachwort schreibt, fremde, dem Volk übergestülpte Sprache, eine Nicht-Sprache, in der sich "immer alles findet, im Guten wie im Bösen". Nur was genau sich da finden soll, haben die Helden vergessen.
SABINE BERKING.
Bora Cosic: "Die Tutoren". Roman.
Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 800 S., geb., 39,95 [Euro]. Unter www.die-tutoren.de bietet der Verlag einen Ergänzungsband als kostenloses E-Book: Sabine Baumann (Hrsg.): "Der große Roman Europas - Bora Cosic: ,Die Tutoren'." 128 S., Material, Texte, Fotos.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Bora Cosic hat mit der parodistischen Familiensaga "Die Tutoren" einen Höhepunkt europäischer Sprachartistik erreicht. Nun erscheint der Roman, der lange als unübersetzbar galt, zum ersten Mal auf Deutsch.
Alle Familien leben so ähnlich, aber unsere, die hat bei Gott alles erlebt." Atemlos quasselt Frau Danica in einer Belgrader Buchhandlung nach dem Krieg auf den Buchhändler ein, und ihre Halbbildung, die sich nicht auf den verdrehten Anfangssatz aus Tolstois "Anna Karenina" beschränkt, entfaltet dabei ihre komödiantische Wirkung: die Leiden der jungen Wörter, éducation seximentale, Porträt des Künstlers als junger Hund - Hust, Proust und Pust! Es sind Sätze, an denen man sich kaum sattlesen kann, wild-skurrile Wortkaskaden aus einem Rabelaisschen Narrenspiel der Sprache, das zugleich eine Familiensaga über hundertfünfzig Jahre europäischer Geschichte darstellt.
Sie entstammt der Feder von Bora Cosic, dem Doyen der modernen serbischen Literatur, geboren 1932 in Zagreb und heute abwechselnd in Berlin und im kroatischen Rovinij zu Hause. Man kennt ihn als messerscharfen Satiriker und klugen Essayisten. Sein jetzt auf Deutsch erschienenes Opus magnum "Die Tutoren" entstand bereits in den siebziger Jahren, in einer Zeit, als die Tito-Diktatur den unangepassten Schriftsteller in die innere Emigration getrieben hatte. 1978 in Belgrad erschienen, galt dieses Meisterwerk der literarischen Avantgarde lange Zeit als unübersetzbar. Der Schöffling-Verlag und die Übersetzerin Brigitte Döbert haben sich schließlich an diesen Achttausender der Sprachgewalten gewagt. Herausgekommen ist ein fulminanter deutscher Text mit hintersinnigem Humor, der kein bisschen verstaubt ist. Vielmehr klingt vieles heute, nach dem Zusammenbruch des Kommunismus, Jugoslawiens und im Zuge der wieder erwachenden nationalistischen Kleinstaaterei, wie traurig wahr gewordene Voraussagungen.
Alles beginnt wie das Buch der Bücher mit dem "Wort", hier als Eintrag in einer wirr anmutenden Enzyklopädie, die ein Vorfahre des Autors, der serbisch-orthodoxe Priester Theodor, im Jahre 1828 in der damals zu Österreich-Ungarn gehörenden fiktiven Kleinstadt Grunt in Slawonien zusammenstellt. Der deutsch klingende Name gehört durchaus zum ästhetischen Programm, und wer bei Slawonien, ein Landstrich im Osten Kroatiens, an Schlawiner denkt, ist, zumindest was den Schalk im Wort ausmacht, auch nicht so ganz auf dem Holzweg. Für Theodor ist das "Wort" ein "Buchstabenstapel", der sich zu einem Gegenstand formt, "den der eine versteht, der andere nicht". Die Hoheit der Kirche über die Sprache ist längst passé, eine neue Ordnung der Dinge muss her. Mit seiner keinem nachvollziehbaren System folgenden Sammlung, in der sich Göttliches und Weltliches auf urkomische Weise mischen - die Schwiegermutter mit dem Teufel, Geschlechtskrankheiten wie "Franzosen bekommen" mit Psalter und Paprikasch -, ist Theodor der erste in einer Reihe von Dokumentier- und Sortierwütigen in dieser so gar nicht außergewöhnlichen Familie.
Spätestens beim zweiten Buch wird deutlich, dass der Roman, aufgebaut wie der alttestamentarische Pentateuch, nicht den Gesetzen landläufiger Prosawerke folgt. Es geht nicht so sehr um die Figuren, sondern um eine Neuvermessung der Welt mittels der Sprache. Aus Monologen und Possenspielen, Listen von Gesetzen und Verordnungen, Rezepten, Neuigkeiten und Überliefertem, Buchtiteln und Volksplatituden wie "Alles, alles geht vorbei, doch wir sind uns treu" entsteht ein polyphones Welttheater, aufgeführt in einem Hinterzimmer Europas, das zum Versuchslabor der Moderne umgebaut wurde. Gespielt wird es von unbedarften Kleinbürgern, denen die Welt letztlich egal ist.
Auf Theodor folgt 1871 Katharina, seine Schwiegertochter, eine kluge Geschäfts- und Hausfrau, die, aus kroatischem Adel stammend, ihrem Mann zuliebe zur Orthodoxie konvertierte und deshalb von ihrer reichen Familie enterbt wurde. In ihren Aufzeichnungen vermengen sich Häusliches und Geschäftliches, Politisches und Privates, kassandraartige Prophezeiungen über die Verwerfungen des kommenden Jahrhunderts und betuliche Bilderbögen, in denen der Kaiser als beschränkter Biedermann herumgeistert. Katharinas "Gott und die Leut" wird zu einem literarischen Monumentalbild, ein Hieronymus Bosch in Worten. Es gipfelt in einem volkstümlich gereimten Endzeitmonolog: "Nach dem jüngsten Gericht weilen im Paradies nur ein paar alte Frauen, die auf die Erde schauen, dazu einige Krüppel und Chinesen, die sind zu kurz am Leben gewesen."
Mittels des Theaters, das in einem dadaistisch anmutenden Volksstück daherkommt, wird die nächste Tutorin, Laura, Katharinas aus Graz stammende deutsche Schwiegertochter, eingeführt. Sie reist vor dem Ersten Weltkrieg in einem Zugabteil mit dem geschwätzigen Provinzler Hinko Hinkovic nach Paris, ihrem Mann, einem Arzt hinterher. Die ihr neue Welt des Massenkonsums entdeckt sie durch Werbeslogans und Ratgeberliteratur. Seitenweise folgen wir absurden "Regeln für Überraschungsgäste" oder - als sei's ein Ich-bin-doch-nicht-blöd-Spruch von heute - "Schicken Sie Geld, die Ware existiert nicht". Mit Lazar, Lauras Schwiegersohn, und seiner Frau Danica gelangen wir schließlich ins Jahr 1938 und von dort bis in die Nachkriegsepoche. Lazar ist Handlungsgehilfe und Taugenichts, den es nach Belgrad verschlagen hat, wo er sich mit Saufgelagen und Hurerei die Zeit vertreibt. Danica liest Groschenromane und Frauenzeitschriften, ihre Gedanken kreisen um das traute Heim; ihre Sorge gilt ihrem Sohn Bora und dabei vor allem der Tatsache, dass er mit einem "kleinen Juden" mit der Tram die Großstadt erkundet.
Zwischen all dem Geplapper verstecken sich die wahren Tragödien der Familie und der Geschichte. So erfährt man in Nebensätzen, dass Katharina ermordet wurde, Lauras Mann einem Hochverratsprozess entging und an der Spanischen Grippe starb und Danica von Lazar für eine Kassiererin sitzengelassen wurde. Er starb an der "Leber", wie praktisch jeder Zweite. Hitler, Stalin, der Holocaust, Kriege und der Zusammenbruch von Imperien, alles kommt in Platituden daher, verdreht in einer Art Stille-Post-Spiel. Die wahre Heldin dieses großen, sich dem Leser nicht ganz leicht erschließenden europäischen Romans ist die Sprache, jene, wie es der Autor in seinem Nachwort schreibt, fremde, dem Volk übergestülpte Sprache, eine Nicht-Sprache, in der sich "immer alles findet, im Guten wie im Bösen". Nur was genau sich da finden soll, haben die Helden vergessen.
SABINE BERKING.
Bora Cosic: "Die Tutoren". Roman.
Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2015. 800 S., geb., 39,95 [Euro]. Unter www.die-tutoren.de bietet der Verlag einen Ergänzungsband als kostenloses E-Book: Sabine Baumann (Hrsg.): "Der große Roman Europas - Bora Cosic: ,Die Tutoren'." 128 S., Material, Texte, Fotos.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 11.01.2016Enzyklopädie des Geschwätzes
VON JÖRG MAGENAU
Was für ein Buch: genialisch, grandios, unlesbar. Der äußere Rahmen: Knapp 200 Jahre Familiengeschichte, fünf Stationen, fünf Hauptfiguren. Aber was heißt schon Geschichte, wenn es dabei weder um eine Chronik, noch um Geschichten geht, nicht um eine greifbare Handlung und noch nicht einmal um Figuren als Erzähler oder zumindest als psychologisch fassbare Einheiten. Stattdessen geht es vor allem und in erster Linie um Worte, Sprache, Sprechweisen, um ein Gewirbel von Sätzen, Ideen, Gerede. Ein Buch als Rausch und Exerzitium der Einsamkeit: rücksichtslos und monomanisch. Es kommt aus einer längst untergegangenen Nische der Zeitgeschichte, in der das Schreiben, das Weiterschreiben existentielle Notwendigkeit besaß. Und das ist ausnahmsweise einmal keine Phrase.
Bora Ćosić, 1932 in Zagreb geboren, hat einmal gesagt, er habe schon in seiner Kindheit Buchstaben als Platzhalter für bestimmte Dinge betrachtet, die an anderem Ort existierten. Mit Worten lässt sich spielen. So fand er naturgemäß zum Dadaismus, später dann zum Surrealismus, nachdem er entdeckt hatte, dass nicht allein Künstler, sondern alle Menschen und besonders die der eigenen Familie zu merkwürdigen Verhaltensweisen neigen. Bekannt wurde Ćosić hierzulande 1994 mit dem Roman „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“, der ihn, 1968 in Jugoslawien erschienen, dort zur persona non grata machte, weil er allzu respektlos mit den sozialistischen Errungenschaften umging. Nachdem das Buch in mehreren Versionen verfilmt wurde, verlor Ćosić nach eigenen Angaben den Überblick darüber, wer denn nun eigentlich sein Vater, seine Mutter oder seine Onkel wären: „erstens wegen ihres Benehmens insgesamt, zweitens wegen der unmöglichen Garderobe“.
Drittens aber betrieb er mit „Die Tutoren“ die erforderliche Ahnenforschung, um aus dieser Verwirrung herauszufinden. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe dieses eigentlich für unübersetzbar gehaltenen Ziegelsteins von einem Roman gibt Bora Ćosić Auskunft über seine Lebenssituation zur Entstehungszeit der „Tutoren“. Als das Buch 1978 in Belgrad erschien, war er 46 Jahre alt und hatte einige Jahre hinter sich bringen müssen, in denen ihm geraten worden war, öffentlich möglichst nicht in Erscheinung zu treten. Auch wenn es keine offizielle Zensur gab in Titos rosarotem Kommunismus, so gab es doch unausgesprochene Verbote. Ćosić dachte damals, als auch Freunde die Straßenseite wechselten, wenn sie ihm begegneten, an seinen großen Vorgänger Ivo Andrić, der die Jahre der deutschen Besatzung in einem Zimmerchen in Belgrad überdauert hatte. Und auch Ćosić hörte in seiner Kammer nicht auf zu schreiben, ja er nutzte den entstandenen Leerraum produktiv: „Mit einem Mal vogelfrei, heimatlos, meiner Verpflichtungen gegenüber der erweiterten Familie des Vaterlandes ledig“, verbündete er sich mit „dem großen Proletariat der Sprache“ und tauchte darin unter.
Er wurde zu einem Erforscher und Sammler von Redewendungen, zu einem Historiker und Systematiker der Sprache. In einem Antiquariat erwarb er allerlei Bücher über Meteorologie, über Gemüseanbau oder Gebirge oder die Organisation des Turnerbundes, Kataloge, Firmenverzeichnisse, Gesetzbücher, Kochbücher und Lexika. Aus diesen Ingredienzien entstanden „Die Tutoren“, worunter Ćosić alle „Nicht-Sprachen“, „Wider-Sprachen“, „nachgeschwatzte Sprachen“ versteht, die ihn umgaben. Seine Zettelsammlungen und Exzerpte bildeten den Nukleus der einzelnen Kapitel, die tatsächlich als Lexikon, Bauernkalender, Anekdotenheft, Haushaltsverzeichnis, gereimtes Volksliederbuch, Schundroman, Briefwechsel, Bildunterschriften und Bilderbogen durchgeführt sind – und als Persiflagen der jeweiligen Ausdrucksweise. Bibelzitate stehen neben Katalogtexten; alles ist möglich, sofern es Sprache wird. Dass man dabei an den „Ulysses“ von James Joyce denkt, liegt nicht nur daran, dass ein Kapitel ganz offensichtlich diesem Vorbild hinterhergeschrieben ist.
So etwas Gewaltiges bringt nur jemand fertig, der jegliche Hoffnung auf Publikation von vornherein aufgegeben hat. Ćosić erschuf sich in der Isolation seine eigene Welt und Familiengeschichte. Logos ist der Ausgangspunkt, und wenn das erste Kapitel, dessen Protagonist, der Pope Theodor aus dem fiktiven Dörfchen Grunt, ein Ururgroßvater des Autors gewesen sein soll, dann ist dieser Anfang logischerweise in Form eines Lexikons gehalten, das mit nichts anderem beginnen kann, als mit dem „Wort“, mit dem ja auch schon in der Bibel alles beginnt: „jenes, was dem Munde entweicht, so mir scheint, ich müsse mich erbrechen oder echauffieren. Buchstabenstapel zu einem Gegenstande, welchen der eine versteht, der andere nicht.“
Aus derlei Eintragungen entsteht über 130 Seiten hinweg dann so etwas wie der Tagesablauf dieses braven Mannes und seiner dörflichen Welt. Die Lexikonform der Nicht-Erzählung ergibt sich aber auch aus dem Jahr 1828, dem diese Aufzeichnungen zugeordnet sind. In diesem Jahr nämlich erschien das erste serbische Wörterbuch, vergleichbar dem der Brüder Grimm in Deutschland. Die Nationwerdung der europäischen Völker war auch eine Selbstbesinnung auf die eigene Sprache und ihre Herkunft. Ćosić steht in dieser Tradition und weist über sie hinaus.
Die Vielstimmigkeit, das Nebeneinander der Völkerschaften und Kulturen – Serbisch, Kroatisch, Deutsch – innerhalb der Familiengeschichte, und die Thematisierung der kleinen, radikalen nationalistischen Bewegungen machen aus den „Tutoren“ einen großen europäischen Roman, der auch den Zerfall des Landes und den irrsinnigen Krieg zwischen Kroaten und Serben bereits in manchen Details vorausahnt. Ende 1992 verließ Ćosić Belgrad aus Protest gegen die Politik von Slobodan Milošević und lebt seitdem in Rovinj/Istrien und in Berlin.
Dass die für unübersetzbar gehaltenen „Tutoren“ nun doch auf Deutsch vorliegen, ist der Unermüdlichkeit der Übersetzerin Brigitte Döbert zu verdanken, die – und auch das schreibt Ćosić im Nachwort – beherzt genug gewesen ist, ein Buch vorzulegen, „das sie mit kritischem, schrägem Blick in mein altes Manuskript selbst verfasste“. In einem Begleitband mit Materialien und Fotos, das der Verlag dankenswerterweise zu diesem ohne solche Handreichung wohl unentzifferbaren Roman als Gratis-E-Book herausgebracht hat, gibt die Übersetzerin Auskunft über die Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hatte. Wie folgt man einem Sprechen, das nirgends Erzählen werden will, sondern wild assoziierend den Worten und ihrer Vieldeutigkeit folgt?
Abgesehen von all den Anspielungen auf historische Ereignisse und Personen, auf Buchtitel und Zitate, abgesehen auch von Marken- und Firmennamen ferner Länder und Zeiten, war es Ćosić eine Lust, Worte zu verballhornen, umgangssprachlich und dialektal zu schreiben und allen Nonsens und alles Alltagsgeschwätz ungebrochen zu Papier zu bringen. Doch wie übersetzt man das in eine andere Sprache mit anderen historischen Bezügen, Sprichwörtern, Redewendungen, Denkweisen? Dabei galt es zudem, die besonderen Diktionen der Jahre 1828, 1871, 1902, 1938 und 1977, in denen die fünf Großkapitel angesiedelt sind, nachzubilden, ohne dabei allzu altertümelnd zu wirken. Nichts an diesem Roman, so schreibt Döbert, wolle intellektuell oder literarisch sein; die „Tutoren“ seien „Enzyklopädie des Geschwätzes, der Borniertheit, Brutalität, Halbbildung, Vorurteile, Banalitäten und Banalisierungen, dummdreisten Einebnungen und unzulässigen Verquickungen“. Versteht sich, dass es mühsam ist, dem Autor und seiner Übersetzerin in all diese Abgründe zu folgen.
Brigitte Döbert hat all diese Schwierigkeiten souverän gemeistert. An der Unlesbarkeit und Unverstehbarkeit dieses Großwerkes können nun nur noch die Leser selber scheitern. Das wird unweigerlich geschehen, sofern man von vorne beginnt und sich stur von Kapitel zu Kapitel durch das Sprachgebirge durcharbeitet. Besser ist es, selektiv zu lesen, vielleicht mit den Kalendergeschichte im Stil von Johann Peter Hebel zu beginnen und dann zu den ins Absurde verdrehten Volksliedern überzugehen. Eines ist sicher: Mit allen gewohnten Konventionen bricht dieser Roman. „Dieses Buch will niemanden beherbergen. Es ist sperrig und widersetzt sich dem Konsum. Vergnüglich ist es aber trotzdem, auch wenn Ćosićs spezifischer Humor und Sprachwitz nur gelegentlich aufblitzen und nur ansatzweise in eine andere Sprache und Epoche zu übertragen sind.
Bora Ćosić: Die Tutoren. Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2015. 792 Seiten, 39,95 Euro
Zum besseren Verständnis
gibt es einen Materialienband
als kostenloses E-Book
Bora Ćosić in seinem Sommerhaus in Rovinj, wo seine literarische Ahnenforschung „Die Tutoren“ entstand.
Foto: privat
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
VON JÖRG MAGENAU
Was für ein Buch: genialisch, grandios, unlesbar. Der äußere Rahmen: Knapp 200 Jahre Familiengeschichte, fünf Stationen, fünf Hauptfiguren. Aber was heißt schon Geschichte, wenn es dabei weder um eine Chronik, noch um Geschichten geht, nicht um eine greifbare Handlung und noch nicht einmal um Figuren als Erzähler oder zumindest als psychologisch fassbare Einheiten. Stattdessen geht es vor allem und in erster Linie um Worte, Sprache, Sprechweisen, um ein Gewirbel von Sätzen, Ideen, Gerede. Ein Buch als Rausch und Exerzitium der Einsamkeit: rücksichtslos und monomanisch. Es kommt aus einer längst untergegangenen Nische der Zeitgeschichte, in der das Schreiben, das Weiterschreiben existentielle Notwendigkeit besaß. Und das ist ausnahmsweise einmal keine Phrase.
Bora Ćosić, 1932 in Zagreb geboren, hat einmal gesagt, er habe schon in seiner Kindheit Buchstaben als Platzhalter für bestimmte Dinge betrachtet, die an anderem Ort existierten. Mit Worten lässt sich spielen. So fand er naturgemäß zum Dadaismus, später dann zum Surrealismus, nachdem er entdeckt hatte, dass nicht allein Künstler, sondern alle Menschen und besonders die der eigenen Familie zu merkwürdigen Verhaltensweisen neigen. Bekannt wurde Ćosić hierzulande 1994 mit dem Roman „Die Rolle meiner Familie in der Weltrevolution“, der ihn, 1968 in Jugoslawien erschienen, dort zur persona non grata machte, weil er allzu respektlos mit den sozialistischen Errungenschaften umging. Nachdem das Buch in mehreren Versionen verfilmt wurde, verlor Ćosić nach eigenen Angaben den Überblick darüber, wer denn nun eigentlich sein Vater, seine Mutter oder seine Onkel wären: „erstens wegen ihres Benehmens insgesamt, zweitens wegen der unmöglichen Garderobe“.
Drittens aber betrieb er mit „Die Tutoren“ die erforderliche Ahnenforschung, um aus dieser Verwirrung herauszufinden. Im Nachwort zur deutschen Ausgabe dieses eigentlich für unübersetzbar gehaltenen Ziegelsteins von einem Roman gibt Bora Ćosić Auskunft über seine Lebenssituation zur Entstehungszeit der „Tutoren“. Als das Buch 1978 in Belgrad erschien, war er 46 Jahre alt und hatte einige Jahre hinter sich bringen müssen, in denen ihm geraten worden war, öffentlich möglichst nicht in Erscheinung zu treten. Auch wenn es keine offizielle Zensur gab in Titos rosarotem Kommunismus, so gab es doch unausgesprochene Verbote. Ćosić dachte damals, als auch Freunde die Straßenseite wechselten, wenn sie ihm begegneten, an seinen großen Vorgänger Ivo Andrić, der die Jahre der deutschen Besatzung in einem Zimmerchen in Belgrad überdauert hatte. Und auch Ćosić hörte in seiner Kammer nicht auf zu schreiben, ja er nutzte den entstandenen Leerraum produktiv: „Mit einem Mal vogelfrei, heimatlos, meiner Verpflichtungen gegenüber der erweiterten Familie des Vaterlandes ledig“, verbündete er sich mit „dem großen Proletariat der Sprache“ und tauchte darin unter.
Er wurde zu einem Erforscher und Sammler von Redewendungen, zu einem Historiker und Systematiker der Sprache. In einem Antiquariat erwarb er allerlei Bücher über Meteorologie, über Gemüseanbau oder Gebirge oder die Organisation des Turnerbundes, Kataloge, Firmenverzeichnisse, Gesetzbücher, Kochbücher und Lexika. Aus diesen Ingredienzien entstanden „Die Tutoren“, worunter Ćosić alle „Nicht-Sprachen“, „Wider-Sprachen“, „nachgeschwatzte Sprachen“ versteht, die ihn umgaben. Seine Zettelsammlungen und Exzerpte bildeten den Nukleus der einzelnen Kapitel, die tatsächlich als Lexikon, Bauernkalender, Anekdotenheft, Haushaltsverzeichnis, gereimtes Volksliederbuch, Schundroman, Briefwechsel, Bildunterschriften und Bilderbogen durchgeführt sind – und als Persiflagen der jeweiligen Ausdrucksweise. Bibelzitate stehen neben Katalogtexten; alles ist möglich, sofern es Sprache wird. Dass man dabei an den „Ulysses“ von James Joyce denkt, liegt nicht nur daran, dass ein Kapitel ganz offensichtlich diesem Vorbild hinterhergeschrieben ist.
So etwas Gewaltiges bringt nur jemand fertig, der jegliche Hoffnung auf Publikation von vornherein aufgegeben hat. Ćosić erschuf sich in der Isolation seine eigene Welt und Familiengeschichte. Logos ist der Ausgangspunkt, und wenn das erste Kapitel, dessen Protagonist, der Pope Theodor aus dem fiktiven Dörfchen Grunt, ein Ururgroßvater des Autors gewesen sein soll, dann ist dieser Anfang logischerweise in Form eines Lexikons gehalten, das mit nichts anderem beginnen kann, als mit dem „Wort“, mit dem ja auch schon in der Bibel alles beginnt: „jenes, was dem Munde entweicht, so mir scheint, ich müsse mich erbrechen oder echauffieren. Buchstabenstapel zu einem Gegenstande, welchen der eine versteht, der andere nicht.“
Aus derlei Eintragungen entsteht über 130 Seiten hinweg dann so etwas wie der Tagesablauf dieses braven Mannes und seiner dörflichen Welt. Die Lexikonform der Nicht-Erzählung ergibt sich aber auch aus dem Jahr 1828, dem diese Aufzeichnungen zugeordnet sind. In diesem Jahr nämlich erschien das erste serbische Wörterbuch, vergleichbar dem der Brüder Grimm in Deutschland. Die Nationwerdung der europäischen Völker war auch eine Selbstbesinnung auf die eigene Sprache und ihre Herkunft. Ćosić steht in dieser Tradition und weist über sie hinaus.
Die Vielstimmigkeit, das Nebeneinander der Völkerschaften und Kulturen – Serbisch, Kroatisch, Deutsch – innerhalb der Familiengeschichte, und die Thematisierung der kleinen, radikalen nationalistischen Bewegungen machen aus den „Tutoren“ einen großen europäischen Roman, der auch den Zerfall des Landes und den irrsinnigen Krieg zwischen Kroaten und Serben bereits in manchen Details vorausahnt. Ende 1992 verließ Ćosić Belgrad aus Protest gegen die Politik von Slobodan Milošević und lebt seitdem in Rovinj/Istrien und in Berlin.
Dass die für unübersetzbar gehaltenen „Tutoren“ nun doch auf Deutsch vorliegen, ist der Unermüdlichkeit der Übersetzerin Brigitte Döbert zu verdanken, die – und auch das schreibt Ćosić im Nachwort – beherzt genug gewesen ist, ein Buch vorzulegen, „das sie mit kritischem, schrägem Blick in mein altes Manuskript selbst verfasste“. In einem Begleitband mit Materialien und Fotos, das der Verlag dankenswerterweise zu diesem ohne solche Handreichung wohl unentzifferbaren Roman als Gratis-E-Book herausgebracht hat, gibt die Übersetzerin Auskunft über die Schwierigkeiten, die sie zu überwinden hatte. Wie folgt man einem Sprechen, das nirgends Erzählen werden will, sondern wild assoziierend den Worten und ihrer Vieldeutigkeit folgt?
Abgesehen von all den Anspielungen auf historische Ereignisse und Personen, auf Buchtitel und Zitate, abgesehen auch von Marken- und Firmennamen ferner Länder und Zeiten, war es Ćosić eine Lust, Worte zu verballhornen, umgangssprachlich und dialektal zu schreiben und allen Nonsens und alles Alltagsgeschwätz ungebrochen zu Papier zu bringen. Doch wie übersetzt man das in eine andere Sprache mit anderen historischen Bezügen, Sprichwörtern, Redewendungen, Denkweisen? Dabei galt es zudem, die besonderen Diktionen der Jahre 1828, 1871, 1902, 1938 und 1977, in denen die fünf Großkapitel angesiedelt sind, nachzubilden, ohne dabei allzu altertümelnd zu wirken. Nichts an diesem Roman, so schreibt Döbert, wolle intellektuell oder literarisch sein; die „Tutoren“ seien „Enzyklopädie des Geschwätzes, der Borniertheit, Brutalität, Halbbildung, Vorurteile, Banalitäten und Banalisierungen, dummdreisten Einebnungen und unzulässigen Verquickungen“. Versteht sich, dass es mühsam ist, dem Autor und seiner Übersetzerin in all diese Abgründe zu folgen.
Brigitte Döbert hat all diese Schwierigkeiten souverän gemeistert. An der Unlesbarkeit und Unverstehbarkeit dieses Großwerkes können nun nur noch die Leser selber scheitern. Das wird unweigerlich geschehen, sofern man von vorne beginnt und sich stur von Kapitel zu Kapitel durch das Sprachgebirge durcharbeitet. Besser ist es, selektiv zu lesen, vielleicht mit den Kalendergeschichte im Stil von Johann Peter Hebel zu beginnen und dann zu den ins Absurde verdrehten Volksliedern überzugehen. Eines ist sicher: Mit allen gewohnten Konventionen bricht dieser Roman. „Dieses Buch will niemanden beherbergen. Es ist sperrig und widersetzt sich dem Konsum. Vergnüglich ist es aber trotzdem, auch wenn Ćosićs spezifischer Humor und Sprachwitz nur gelegentlich aufblitzen und nur ansatzweise in eine andere Sprache und Epoche zu übertragen sind.
Bora Ćosić: Die Tutoren. Roman. Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt/Main 2015. 792 Seiten, 39,95 Euro
Zum besseren Verständnis
gibt es einen Materialienband
als kostenloses E-Book
Bora Ćosić in seinem Sommerhaus in Rovinj, wo seine literarische Ahnenforschung „Die Tutoren“ entstand.
Foto: privat
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»Es sind Sätze, an denen man sich kaum sattlesen kann. (...) Ein Meisterwerk der literarischen Avantgarde.«Sabine Berking, FAZ»Diese Übersetzung bringt im Deutschen das Flittergold des Geredes zum Glänzen und entlockt dem Volksmund Weltwissen.«Jurybegründung zur Verleihung des Straelener Übersetzerpreises an Brigitte Döbert