Russland ist dieser Tage aus traurigem Anlass auf allen Kanälen rund um die Uhr präsent. Der schreckliche Krieg gegen die Ukraine hat bei den meisten die Gefühle und Ansichten über Putin und seinen Staat geändert oder gefestigt. Ich habe „Die Überlebenskünstler“ gelesen, bevor von einem Angriff
überhaupt die Rede war, und bin froh darüber, denn sicher hätte dieses Wissen meinen Blickwinkel…mehrRussland ist dieser Tage aus traurigem Anlass auf allen Kanälen rund um die Uhr präsent. Der schreckliche Krieg gegen die Ukraine hat bei den meisten die Gefühle und Ansichten über Putin und seinen Staat geändert oder gefestigt. Ich habe „Die Überlebenskünstler“ gelesen, bevor von einem Angriff überhaupt die Rede war, und bin froh darüber, denn sicher hätte dieses Wissen meinen Blickwinkel verändert. Heute würde ich es bestimmt mit anderen Augen lesen, aber die Rezension soll weitestgehend das wiedergeben, was ich mir damals in Friedenszeiten in Stichwörtern notiert habe.
Ich sage es gleich, ich bin gewöhnlich kein Leser von Sachliteratur. Meine Leidenschaft gehört der Belletristik. Wenn ich mich über ein Thema tiefer informieren möchte, schaue ich mir eine Dokumentation an. Das liegt zum einen daran, dass mir die lebendigen Bilder helfen, genauer zu verstehen, zum anderen aber auch, dass Sachbücher früher in der Regel entweder knochentrocken oder wenig hilfreich und oberflächlich waren. Der Markt hat sich geändert, mein Vorurteil noch nicht ganz. Aber als ich „Die Überlebenskünstler – Menschen in Putins Russland zwischen Wahrheit, Selbstbetrug und Kompromissen“ von Joshua Yaffa sah, konnte ich nicht widerstehen. Ich hatte schon immer eine Vorliebe für dieses riesige Land, dass sich mit seiner Vielzahl an Kulturen und Jahrtausenden an bewegter Geschichte so gar nicht greifen lässt. Darum freue ich mich über jedes neue Puzzleteil, das mir begegnet.
Und Yaffa hat mit seinem Buch ein Puzzleteil vorgelegt, dass mir so noch ganz neu war. Er thematisiert den Spagat zwischen eigenen Ambitionen und ausreichender Konformität mit dem Putin-Regime. Die (nicht nur Russland betreffende) spannende Frage, was bin ich bereit zu zahlen, um meine Vorstellungen umzusetzen? Wie viele Kompromisse kann ich eingehen, ohne mein Gewissen zu verkaufen? Wie viel Kooperation rechtfertigt das höhere Ziel? Oder auch andersrum, ist es richtig, sein höheres Ziel aufzugeben, um seine Ideale nicht verraten zu müssen?
Yaffa deckt ein weites Gebiet ab, um diesen Fragen auf den Grund zu gehen, behandelt in jedem Kapitel einen anderen Bereich von Kultur, Religion oder Wirtschaft mit je einem wichtigen Vertreter dieses Bereiches im Mittelpunkt. So begegnen wir einem Leiter eines regierungsfreundlichen großen Fernsehkanals, einer Menschenrechtlerin in Tschteschenien, einem Priester, einem Tierparkbesitzer auf der Krim, dem Leiter der Gedenkstätte bzw. des Museeums Perm-36, einem ehemaligen Arbeitslager unter Stalin, einer Ärztin, die sich um Sterbende und Obdachlose kümmert, und kranke Kinder aus Kriegsgebieten holt und schließlich einem Regisseur, der die Balance auf dem schmalen Grat zwischen regimekonform und freier künstlerischen Entfaltung kaum halten kann. Und jedem dieser Szenarien nährt sich Yaffa mit viel Respekt und Offenheit, beleuchtet verschiedene Perspektiven, tritt weit zurück, um den geschichtlichen Kontext verständlich zu machen, und kommt ganz nah an die Menschen heran, schafft ein Bild aus diversen Hintergründen.
Es lässt sich schwer sagen, ob das Interesse an Büchern über Russland in diesen Zeiten eher wachsen oder abnehmen wird. Ich denke jedenfalls, dass es seine Leser gerade jetzt verdient. Natürlich erklärt „Die Überlebenskünstler“ nicht den Krieg, aber wir kriegen einen Einblick, wie der Staat und seine Einwohner durch Manipulationen und Repressionen beeinflusst und gelenkt werden. Ein kleiner Schritt zu mehr Verständnis, und Verständnis ist immer ein wichtiger Bestandteil von Frieden.