Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine: Historische Einordnung und geschichtspolitische Folgen Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine hat die europäische Sicherheitsarchitektur grundlegend verändert. Zudem berührt er aber auch die Frage, ob sich bestehende Formen des Umgangs mit dem Nationalsozialismus in Deutschland und Europa im Zeichen des Krieges verschieben. Welche Rolle spielt die Erinnerung an die deutsche Besatzungs- und Vernichtungspolitik in Osteuropa überhaupt in diesem Krieg, dessen Vorgeschichte oft noch viel zu wenig berücksichtigt wurde? Die Autorinnen und Autoren des Bandes nähern sich diesen Fragen aus unterschiedlichen Perspektiven, um sowohl das ukrainisch-russisch-deutsche Beziehungsgeflecht seit den 1990er-Jahren als auch den 24. Februar 2022 als mögliche geschichtspolitische Zäsur zu untersuchen. Beleuchtet werden dadurch etwa der Umgang mit der Massengewalt im 20. Jahrhundert, neue Formen imperialer Politik, zivilgesellschaftliche Initiativen, außenpolitische Interessen und religiöse Legitimationsformen des gegenwärtigen Krieges. Aus dem Inhalt: Martin Aust: Indifferenz, Differenzierung und Neo-Imperialismus. Russland und das Erbe der Imperien seit 1991 Franziska Davies: Verdrängen, erinnern, aufarbeiten. Vom Umgang mit Holodomor und Holocaust in der Ukraine Volkhard Knigge: "Faschismus", "Vernichtungskrieg", "Völkermord". NS-Begrifflichkeiten im Spannungsfeld von Mobilisierung und Erkenntnis.
»den Historikerinenn und Historikern (...) ist es gelungen, den Lesern die historischen Zusammenhänge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine in einer Weise aufzuzeigen, die es ihnen erlaubt, aktuelle Nachrichten für sich zu bewerten.« (Walter Gierlich, Süddeutsche Zeitung, 19.02.2024)
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Wichtige Fragen zur Vorgeschichte des russischen Angriffs auf die Ukraine im Jahr 2022 behandelt dieser Band laut Rezensent Ulrich Schmid. Diskutiert wird in dem von den Historikern Sybille Steinbacher und Dietmar Süß herausgegebenen Buch unter anderem, ist zu lesen, die fatale Entwicklung der russischen Erinnerungspolitik unter Putin, wo, durchaus mit Blick auf Deutschland, inzwischen eine russische Wiedervereinigung auf Kosten der Ukraine gefordert wird. Auch die Frage, ob es sich beim gegenwärtigen Russland um einen faschistischen Staat handelt, wird behandelt, wie auch, führt Schmid aus, erinnerungspolitische Diskurse in der Ukraine rund um den Holodomor und den Holocaust. Das ist alles sehr interessant, findet der Rezensent, der allerdings eine Reihe unschöner Flüchtigkeitsfehler moniert.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 16.04.2024Manipulative Geschichtserzählungen
Putin setzt Geschichte als Waffe ein. Westliche Historiker streiten darüber, ob in Moskau ein "faschistisches Regime" an der Macht ist.
Campino, der Leadsänger der "Toten Hosen", verweigerte vor vierzig Jahren den Wehrdienst. Im Mai 2022 sagte er, dass er sich heute wohl anders entscheiden würde. Mit diesem Statement, das exemplarisch für eine heute anstehende Neubewertung früherer Positionen zu Krieg und Frieden stehen kann, eröffnen die Historiker Sybille Steinbacher und Dietmar Süß einen Band mit Beiträgen zu einer Konferenz in Dachau, die im Oktober 2022 stattgefunden hat. Die Frage, die alle Teilnehmer umtrieb, lautete: Welche Entwicklungen haben zur Katastrophe vom 24. Februar 2022 geführt? Natalia Kolyagina antwortet mit dem Hinweis auf die fehlende staatliche Aufarbeitung der Sowjetverbrechen. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es Hoffnung auf eine kritische Vergangenheitsbewältigung. Besonders die Gesellschaft Memorial erwarb sich große Verdienste bei der Dokumentation und Aufarbeitung der kommunistischen Repressionen. Allerdings führte der Tschetschenienkrieg erneut zu einem patriotischen Schulterschluss in der Gesellschaft. Während seiner ersten beiden Amtszeiten war Wladimir Putin mit dem Aufbau der Machtvertikale beschäftigt und zeigte wenig Interesse an der Geschichtspolitik. Unter Präsident Medwedjew kam es zu einer vorsichtigen Liberalisierung, die sich aber in engen Grenzen bewegte. So wurde zwar ein Gulag-Museum eröffnet, aber gleichzeitig wachte eine Expertenkommission über die "historische Wahrheit". Nach dem Protestwinter 2011/2012 setzte Putin die nationale Geschichte als Machtressource ein.
Er sieht sich mittlerweile als Vollstrecker einer zivilisatorischen Mission, nämlich der "Wiedervereinigung" dessen, was er als "historisches Russland" bezeichnet. Die Vokabel "Wiedervereinigung" ist natürlich strategisch gewählt und richtet sich vor allem an das deutsche Publikum: Wenn sich die Deutschen wiedervereinigen dürfen, warum sollte man dasselbe den "Russen" auf der Krim und in der Ostukraine verweigern?
Wie Martin Aust ausführt, ist gerade die Geschichtswissenschaft in dieser Situation gefordert. Wenn ein Diktator die Geschichte als Waffe einsetzt, dann muss die historische Forschung die Zünder dieser explosiven Rhetorik entschärfen. Putin legt eine monströse Geschichtsklitterung vor: Er lobt Stalin, behauptet eine polnische Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und spricht schließlich der Ukraine eine eigene Staatlichkeit ab. Dabei ist es eher langweilig, Putin im Einzelnen zu widerlegen. Spannender ist die Frage, wie sich Russland zum Hauptfeind der europäischen Sicherheit entwickelt hat. Volkhard Knigge verweist auf die Uneinigkeit der Historiker in der Frage, ob heute in Moskau ein "faschistisches Regime" herrsche. Namhafte Historiker wie Timothy Snyder oder Anne Applebaum bejahen eine solche Qualifizierung vorbehaltlos. Widerspruch kommt vor allem aus der deutschen Geschichtswissenschaft. Der gewichtigste sachliche Einwand betrifft die fehlende Mobilisierung der Massen in Russland. Es ist unvorstellbar, dass ein Mitglied von Putins Führungsclique sich vor eine Menge stellt und schreit: "Wollt ihr den totalen Krieg?", und dann brandet ihm ein "Ja!" entgegen. Der Ukrainekrieg durfte bis vor Kurzem nicht einmal "Krieg" genannt werden. Putins Grundstrategie besteht umgekehrt in der Entpolitisierung der russischen Gesellschaft. Das hat für ihn einen Vorteil und einen Nachteil: Die Menschen protestieren zwar nicht mehr auf der Straße, unterstützen das herrschende System aber nur halbherzig.
Auch in der Ukraine werden bestimmte Geschichtsnarrative forciert. Franziska Davies nennt als Beispiel die Hungersnot von 1932/33, die erst in den Siebzigerjahren im ukrainischen Exilmilieu in deutlicher Anlehnung an den "Holocaust" die Bezeichnung "Holodomor" erhielt. In der Sowjetunion durfte weder an den "Holodomor" noch an den "Holocaust" erinnert werden - die Kremlführung wollte auf keinen Fall einen Opferpartikularismus aufkommen lassen.
Erst der dritte ukrainische Präsident Juschtschenko setzte den "Holodomor" ganz oben auf die geschichtspolitische Traktandenliste und wollte damit einen sowjetischen Genozid am ukrainischen Volk begründen. In der Tat hatte der geistige Vater der UN-Genozid-Konvention Raphael Lemkin den "Holodomor" bereits 1953 als "klassischen sowjetischen Völkermord" bezeichnet. Allerdings ist sich die Wissenschaft heute nicht einig, ob der "Holodomor" tatsächlich die Kriterien der Genozid-Konvention erfüllt oder ob es sich hier um einen Massenmord handelt, der sich auch auf südrussische und kasachische Gebiete erstreckte. Der "Holocaust" bleibt nach wie vor im Hintergrund und findet hauptsächlich in spezifisch ukrainischen Kontexten Eingang in die offizielle Erinnerungskultur, so etwa beim Gedenken an die Ermordung der Kiewer Juden in Babyn Jar 1941.
Katja Makhotina hebt den mittlerweile auch in der russischen Geschichtspolitik prominenten Opferdiskurs hervor. Der ehemalige Kulturminister Medinskij weist in einem programmatischen Text aus dem Januar 2023 darauf hin, dass "jeder Fünfte" in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs gestorben sei. Er leitet daraus einen "klassischen Genozid" an der sowjetischen Bevölkerung ab. Sein Argument läuft darauf hinaus, dass ein Volk, das selbst einen Genozid erlitten habe, nicht am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuld sein könne.
Joachim von Puttkamer gelangt im Rückblick zum Schluss, dass der Aufbau von Putins Diktatur die Voraussetzung des Angriffs auf die Ukraine darstelle und dass die "gesuchte Konfrontation mit dem Westen" das zentrale Mittel zum Erhalt des bisherigen Machtsystems sei. Daraus zieht Puttkamer einen wichtigen Schluss: Der Westen folge in der allzu zögerlichen Ukrainehilfe Putins Aggressionslogik. Erst wenn Putin stürze, könne die Ukraine gewinnen.
Der Band eröffnet zahlreiche interessante Perspektiven, weist aber einige ärgerliche Fehler auf. So wird der Titel von Agnieszka Hollands "Holodomor"-Film zur Unkenntlichkeit entstellt, die Schreibweise der ukrainischen und russischen Namen ist durchweg uneinheitlich, und schließlich tritt sogar Hillary Clinton plötzlich als Mitglied der Republikanischen Partei auf. ULRICH SCHMID
Sybille Steinbacher, Dietmar Süß (Hrsg.): Die Ukraine, Russland und die Deutschen. 1990/91 bis heute. Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 21.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 245 S., 20,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Putin setzt Geschichte als Waffe ein. Westliche Historiker streiten darüber, ob in Moskau ein "faschistisches Regime" an der Macht ist.
Campino, der Leadsänger der "Toten Hosen", verweigerte vor vierzig Jahren den Wehrdienst. Im Mai 2022 sagte er, dass er sich heute wohl anders entscheiden würde. Mit diesem Statement, das exemplarisch für eine heute anstehende Neubewertung früherer Positionen zu Krieg und Frieden stehen kann, eröffnen die Historiker Sybille Steinbacher und Dietmar Süß einen Band mit Beiträgen zu einer Konferenz in Dachau, die im Oktober 2022 stattgefunden hat. Die Frage, die alle Teilnehmer umtrieb, lautete: Welche Entwicklungen haben zur Katastrophe vom 24. Februar 2022 geführt? Natalia Kolyagina antwortet mit dem Hinweis auf die fehlende staatliche Aufarbeitung der Sowjetverbrechen. Unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es Hoffnung auf eine kritische Vergangenheitsbewältigung. Besonders die Gesellschaft Memorial erwarb sich große Verdienste bei der Dokumentation und Aufarbeitung der kommunistischen Repressionen. Allerdings führte der Tschetschenienkrieg erneut zu einem patriotischen Schulterschluss in der Gesellschaft. Während seiner ersten beiden Amtszeiten war Wladimir Putin mit dem Aufbau der Machtvertikale beschäftigt und zeigte wenig Interesse an der Geschichtspolitik. Unter Präsident Medwedjew kam es zu einer vorsichtigen Liberalisierung, die sich aber in engen Grenzen bewegte. So wurde zwar ein Gulag-Museum eröffnet, aber gleichzeitig wachte eine Expertenkommission über die "historische Wahrheit". Nach dem Protestwinter 2011/2012 setzte Putin die nationale Geschichte als Machtressource ein.
Er sieht sich mittlerweile als Vollstrecker einer zivilisatorischen Mission, nämlich der "Wiedervereinigung" dessen, was er als "historisches Russland" bezeichnet. Die Vokabel "Wiedervereinigung" ist natürlich strategisch gewählt und richtet sich vor allem an das deutsche Publikum: Wenn sich die Deutschen wiedervereinigen dürfen, warum sollte man dasselbe den "Russen" auf der Krim und in der Ostukraine verweigern?
Wie Martin Aust ausführt, ist gerade die Geschichtswissenschaft in dieser Situation gefordert. Wenn ein Diktator die Geschichte als Waffe einsetzt, dann muss die historische Forschung die Zünder dieser explosiven Rhetorik entschärfen. Putin legt eine monströse Geschichtsklitterung vor: Er lobt Stalin, behauptet eine polnische Schuld am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs und spricht schließlich der Ukraine eine eigene Staatlichkeit ab. Dabei ist es eher langweilig, Putin im Einzelnen zu widerlegen. Spannender ist die Frage, wie sich Russland zum Hauptfeind der europäischen Sicherheit entwickelt hat. Volkhard Knigge verweist auf die Uneinigkeit der Historiker in der Frage, ob heute in Moskau ein "faschistisches Regime" herrsche. Namhafte Historiker wie Timothy Snyder oder Anne Applebaum bejahen eine solche Qualifizierung vorbehaltlos. Widerspruch kommt vor allem aus der deutschen Geschichtswissenschaft. Der gewichtigste sachliche Einwand betrifft die fehlende Mobilisierung der Massen in Russland. Es ist unvorstellbar, dass ein Mitglied von Putins Führungsclique sich vor eine Menge stellt und schreit: "Wollt ihr den totalen Krieg?", und dann brandet ihm ein "Ja!" entgegen. Der Ukrainekrieg durfte bis vor Kurzem nicht einmal "Krieg" genannt werden. Putins Grundstrategie besteht umgekehrt in der Entpolitisierung der russischen Gesellschaft. Das hat für ihn einen Vorteil und einen Nachteil: Die Menschen protestieren zwar nicht mehr auf der Straße, unterstützen das herrschende System aber nur halbherzig.
Auch in der Ukraine werden bestimmte Geschichtsnarrative forciert. Franziska Davies nennt als Beispiel die Hungersnot von 1932/33, die erst in den Siebzigerjahren im ukrainischen Exilmilieu in deutlicher Anlehnung an den "Holocaust" die Bezeichnung "Holodomor" erhielt. In der Sowjetunion durfte weder an den "Holodomor" noch an den "Holocaust" erinnert werden - die Kremlführung wollte auf keinen Fall einen Opferpartikularismus aufkommen lassen.
Erst der dritte ukrainische Präsident Juschtschenko setzte den "Holodomor" ganz oben auf die geschichtspolitische Traktandenliste und wollte damit einen sowjetischen Genozid am ukrainischen Volk begründen. In der Tat hatte der geistige Vater der UN-Genozid-Konvention Raphael Lemkin den "Holodomor" bereits 1953 als "klassischen sowjetischen Völkermord" bezeichnet. Allerdings ist sich die Wissenschaft heute nicht einig, ob der "Holodomor" tatsächlich die Kriterien der Genozid-Konvention erfüllt oder ob es sich hier um einen Massenmord handelt, der sich auch auf südrussische und kasachische Gebiete erstreckte. Der "Holocaust" bleibt nach wie vor im Hintergrund und findet hauptsächlich in spezifisch ukrainischen Kontexten Eingang in die offizielle Erinnerungskultur, so etwa beim Gedenken an die Ermordung der Kiewer Juden in Babyn Jar 1941.
Katja Makhotina hebt den mittlerweile auch in der russischen Geschichtspolitik prominenten Opferdiskurs hervor. Der ehemalige Kulturminister Medinskij weist in einem programmatischen Text aus dem Januar 2023 darauf hin, dass "jeder Fünfte" in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs gestorben sei. Er leitet daraus einen "klassischen Genozid" an der sowjetischen Bevölkerung ab. Sein Argument läuft darauf hinaus, dass ein Volk, das selbst einen Genozid erlitten habe, nicht am Ausbruch des Zweiten Weltkriegs schuld sein könne.
Joachim von Puttkamer gelangt im Rückblick zum Schluss, dass der Aufbau von Putins Diktatur die Voraussetzung des Angriffs auf die Ukraine darstelle und dass die "gesuchte Konfrontation mit dem Westen" das zentrale Mittel zum Erhalt des bisherigen Machtsystems sei. Daraus zieht Puttkamer einen wichtigen Schluss: Der Westen folge in der allzu zögerlichen Ukrainehilfe Putins Aggressionslogik. Erst wenn Putin stürze, könne die Ukraine gewinnen.
Der Band eröffnet zahlreiche interessante Perspektiven, weist aber einige ärgerliche Fehler auf. So wird der Titel von Agnieszka Hollands "Holodomor"-Film zur Unkenntlichkeit entstellt, die Schreibweise der ukrainischen und russischen Namen ist durchweg uneinheitlich, und schließlich tritt sogar Hillary Clinton plötzlich als Mitglied der Republikanischen Partei auf. ULRICH SCHMID
Sybille Steinbacher, Dietmar Süß (Hrsg.): Die Ukraine, Russland und die Deutschen. 1990/91 bis heute. Dachauer Symposien zur Zeitgeschichte 21.
Wallstein Verlag, Göttingen 2024. 245 S., 20,- Euro.
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