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Politische Partizipation in Deutschland 30 Jahre nach der Wiedervereinigung
Kurz vor der Bundestagswahl 2017 erklärte der damalige Kanzleramtsminister Peter Altmaier auf Nachfrage, ein Nichtwähler sei besser als ein AfD-Wähler. Diese Äußerung stieß nicht nur bei der AfD auf heftige Kritik, sondern auch bei anderen Parteien, weil sie so klang, als rede der CDU-Politiker politischer Apathie das Wort. Schließlich sei Partizipation ein wesentliches Element des demokratischen Verfassungsstaates.
Wie ist es mit der Partizipation in Deutschland bestellt, fast 30 Jahre nach der Einheit? Eine Untersuchung im Auftrag des Arbeitsstabes für die neuen Bundesländer im Bundesministerium für Wirtschaft und Energie unter der Ägide des bekannten Hallenser Politikwissenschaftlers Everhard Holtmann, von dem knapp ein Drittel des Textes stammt, nimmt diese Frage ins Visier. Im Vordergrund stehen mögliche unterschiedliche Einstellungsund Verhaltensmuster zwischen den neuen und den alten Bundesländern.
Eingangs heißt es, die Bundestagswahl 2017 belege ein deutlicher gespaltenes Ost-West-Wahlverhalten als zuvor. Mit Blick auf die AfD stimmt dies - sie erreichte 21,9 Prozent im Osten (2013: 5,8 Prozent) und 10,7 Prozent im Westen (2013: 4,4 Prozent), nicht jedoch mit Blick auf Die Linke - diese verlor in ihrer Hochburg 4,9 Prozentpunkte, konnte sich im Westen, nach wie vor notorisch schwach, aber um 1,8 Punkte steigern. Gleichwohl ist sie weiterhin stärker eine Ostpartei als die AfD. Auch die These, ostdeutsche Männer unterschieden sich in ihrem Wahlverhalten wesentlich stärker von westdeutschen als ostdeutsche Frauen von westdeutschen, stimmt in dieser Pauschalität nicht, wie die repräsentative Wahlstatistik erhellt. 27,6 Prozent der ostdeutschen Männer votierten für die AfD (und 13,9 Prozent der westdeutschen), hingegen 16,5 Prozent der ostdeutschen Frauen (und 7,6 Prozent der westdeutschen). Und bei der Partei Die Linke fällt die Differenz für die Frauen (Ost: 18,1 Prozent; West: 6,8 Prozent) erst recht größer aus als für die Männer (Ost: 17,5 Prozent; West: 8,0 Prozent).
Nach Holtmann, und nicht nur nach ihm, fördert die deutlich schwächere Parteiidentifikation im Osten das höhere Ausmaß an Volatilität, ebenso die größere Protestbereitschaft. Der Autor erwähnt die neue Konfliktlinie zwischen "Kosmopoliten", die sich als Weltbürger verstehen, und "Kommunitaristen", denen das hohe Maß an Zuwanderung als "Eingriff in gewohnte Lebensformen" erscheint. Das gilt mehr für Ost- als für Westdeutschland.
In mehreren Beiträgen ist von einem "doppelten Transformationsschock" die Rede: zum einen bezogen auf die "Wende" 1989/90, zum andern auf die Finanz- und Wirtschaftskrise von 2008/09, jeweils mit ihren Folgen. Das Vertrauen in die Politik ließ für den ostdeutschen Bürger, der an einen intervenierenden Staat gewöhnt war, dadurch massiv nach, wenngleich es sich durch wohlfahrtsstaatliche Ausgaben zunächst noch auffangen ließ. Erst der massive Zuzug von Flüchtlingen löste heftige Abwehrreflexe aus und schürte Ängste vor dem Fremden ebenso wie Ängste vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, im Osten mehr als im Westen. Soziokulturelle und sozioökonomische Faktoren begünstigten den Protest gleichermaßen.
Der lange in Stuttgart lehrende Politikwissenschaftler Oscar W. Gabriel sieht aufgrund einer neuen Untersuchung nur wenige Unterschiede in der Partizipation zwischen alten und neuen Bundesländern. Die DDR-Bevölkerung sei durch die Friedliche Revolution politisch mobilisiert worden. Der Autor nimmt vor allem drei Herausforderungen wahr - politische Apathie und Ungleichheit, die Schwächung der repräsentativen Strukturen des Systems sowie Politikverdrossenheit - und bietet für alle Problemfelder Lösungen an. Wenn Gabriel überzeugend dafür plädiert, das Gewicht der Wahlen zu stärken, so sollte er dabei nicht verharren, sondern die Regierungsbildung einbeziehen. Wahlen verlieren nämlich dann an Einfluss, wenn danach für den Bürger überraschende, zum Teil so nicht gewollte Koalitionen zustande kommen.
Im Gegensatz zu Gabriel und zum Kommunikationswissenschaftler Jürgen Mai von der Universität Koblenz-Landau, der die Mediennutzung analysiert, betont der Hallenser Wirtschaftswissenschaftler Matthias Brachert bei der Untersuchung nach Räumen und Regionen beträchtliche Ost-West-Unterschiede. Seine Daten legen nahe: "In Schockregionen sind beispielsweise die Zufriedenheit mit der bundesdeutschen Demokratie und das Institutionenvertrauen schwächer, aber die direktdemokratischen Sympathien stärker ausgeprägt als in Gewinnregionen."
Die Autoren des Sammelbandes kritisieren zu Recht die Vorbehalte vieler Bürger gegenüber den Mechanismen des Repräsentativsystems. "Punktuelle Kampagnenpartizipation" fördert kaum Gemeinsinn. Die Unzufriedenheit mit dem Repräsentativsystem weist in Deutschland eine längere, freilich keine ehrwürdige Tradition auf. So haben die Grünen, basisdemokratisch argumentierend, früher ihr Unverständnis zum Ausdruck gebracht. Dieser Aspekt kommt nicht zur Sprache.
Die Interpretationen des mit zahlreichen Abbildungen versehenen, empirisch dichten und methodisch anspruchsvollen Bandes sind mit ihrer Fülle an Daten, die keine plakativen Befunde liefern, nicht ganz einfach nachzuvollziehen. Insofern dankt der Leser für Zwischenfazits und eine Zusammenfassung der Ergebnisse. Das Resümee: Unterschiede zwischen Ost und West nehmen allmählich ab. Der Begriff von der "Umdeutung der Demokratie" meint, mit Proteststimmen dem Establishment den Kampf anzusagen. Gewiss, aber das kann ein Weckruf für dieses sein. Der Tenor fällt wohl zu negativ aus, ist doch der hiesige Verfassungsstaat keine Schönwetterdemokratie. Und selbst in den neuen Bundesländern steht fast drei Dezennien nach der Einheit bei aller Unzufriedenheit die Demokratie nicht auf dem Spiel - ungeachtet einer starken AfD, die in diesem Band mehr indirekt als direkt auftaucht.
Auf der einen Seite plädieren die Autoren für Partizipation, auf der anderen Seite sehen sie die Gefahr, populistische Kräfte könnten politikferne Gruppen mobilisieren. Gerade die AfD gilt für viele bisher politisch Abstinente als eine Wahlalternative. Wer die Befunde des Bandes mit Altmaiers Statement abgleicht, könnte zu dem Ergebnis gelangen, die Verfasser lavieren und neigen wohl zu einem "jein".
ECKHARD JESSE.
Everhard Holtmann (Hrsg.): Die Umdeutung der Demokratie. Politische Partizipation in Ost- und Westdeutschland.
Campus Verlag, Frankfurt 2019. 375 S., 45,- [Euro].
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