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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Katja Kettus heftiger Roman "Die Unbezwingbare"
Mehr als zweihundert Kinderleichen wurden unlängst auf dem Gelände eines ehemaligen Internates für indigene Kinder in Kanada gefunden, bald stieß man andernorts auf weitere siebenhundertfünfzig. Auch jenseits der kanadischen Grenze - in den Vereinigten Staaten, wo es ein ähnliches System von Umerziehungsschulen gab - war der Schock groß. Deb Haaland, amerikanische Innenministerin mit indigenen Wurzeln, erinnerte in einem Zeitungsartikel an ihre Großeltern, die im Alter von acht Jahren ihrer Familie "gestohlen" und für fünf Jahre in ein solches Internat gesteckt worden seien. Es ging darum, schreibt sie, "unsere Kultur auszurotten", "uns als Volk auszulöschen".
Wer sich unter solchen Sätzen nichts vorstellen kann, sollte Katja Kettus Roman "Die Unbezwingbare" lesen, der im Original 2018 erschien. Es handelt vom Leid, das indigenen Frauen im zwanzigsten Jahrhundert im Mittleren Westen der Vereinigten Staaten angetan wurde, auch hier kommen die fürchterlichen Internate zur Sprache: "An einem Spätsommertag kamen die Schergen des Büros für Indianerangelegenheiten mit Keschern und Handschellen, und sie jagten uns wie Feuerkäfer und steckten uns in einen nach Pferd riechenden Rosshaarsack und von da in einen gelben Schulbus . . . Als wir durch das Tor einfuhren, meinte ich, in einen Albtraum zu kommen . . . Hier wird nur die Sprache von Jesus gesprochen! . . . Wir wurden in einen langgestreckten Raum geführt und gezwungen, uns vor einem vierköpfigen Rat nackt auszuziehen."
Die Autorin gehört nicht zu den Anishinaabe, von denen sie schreibt. Sie ist Finnin und stieß auf das Thema, weil einst viele finnische Auswanderer nach Minnesota gelangten. Die Regierung gab ihnen Land, das den Ojibwe-Indianern gehörte, man arrangierte sich, und auch gemischte Ehen von Finnen und Indianern kamen zustande - die Nachfahren heißen "Findianer".
Kettu erzählt die Lebensumstände einer solchen Familie vom Eintreffen eines finnischen Anarchisten in New York, wo er zunächst Arbeit beim Hochhausbau zu finden versucht, über die Vermählung seines Sohnes mit einer Frau aus dem Reservat bis in die Gegenwart, in der die Enkeltochter des finnischen Immigranten, die "Findianerin" Lempi, über die Familiengeschichte und ihre eigene Identität nachdenkt. Allerdings nicht chronologisch. Der Roman besteht durchweg aus Briefen, die 2018 von Lempi und 1973 von ihrer Mutter Rose geschrieben wurden.
Auch sprachlich ist das Buch eine Herausforderung. Die Autorin möchte "mit der Stimme derjenigen erzählen, die zum Schweigen gebracht worden sind", sie hat ausgiebig im Reservat Fond Du Lac im Nordosten Minnesotas recherchiert, nebenher Interviews für einen Dokumentarfilm gedreht und beim Schreiben über knifflige Details wie die zeitgenössisch übliche, aber eben den Kolonistenblick verewigende Begrifflichkeit "Indianer" gegrübelt (zugunsten der zeitgenössischen Verwendung).
Doch wie authentisch ist es, wenn eine Finnin in der Ich-Form mit der Stimme einer Indianerin und einer "Findianerin" erzählt? Diese Frage kommt einem bei schwülstig-pathetischen Passagen wiederholt in den Sinn, obwohl es selbstverständlich zu den ureigenen Aufgaben von Literaten gehört, sich in das Fremde hineinzuversetzen. Jedenfalls wüsste man gerne, wie "Die Unbezwingbare" in Minnesota beurteilt wird. Und wo bei Sätzen wie diesem die Grenze zum Kitsch verläuft: "Das Mitleid schnürte mir die Brust zusammen, als ich die früher so starken, mich wiegenden Hände des Waldarbeiters in der Blässe des Morgens zittern sah wie durchscheinendes Espenlaub."
Sehr gekonnt wiederum, mit zwei ineinander verschlungenen Rätseln, zieht uns die Autorin in die Story: Als das "Halbblut" Lempi 2018 ihre Briefe an einen Vietnam-Veteranen namens Jim Graupelz schreibt, ist sie vom Sheriff in Cloquet gerade ins Reservat gerufen worden. Ein Mädchen verschwand, Lempis demenzkranker Vater Ettu Haverinen gilt als verdächtig - und der stammelt zugleich auch wieder von Rose, seiner 1973 verschwundenen Gattin. Lempis Mutter. Die Briefe von Rose wiederum setzen kurz vor ihrem Verschwinden ein. Sie sind an Lempi gerichtet, die damals noch ein Kind gewesen sein muss, und deuten ein Verbrechen an, das Rose beging.
Katja Kettu, die 2011 mit dem rohen Weltkriegsdrama "Wildauge" bekannt wurde, weiß bei der Verflechtung dieser Stränge genau, was sie tut, und noch besser, wie sie nebenher vom Leben der Ureinwohner Nordamerikas im zwanzigsten Jahrhundert erzählt. Immer tiefer führt sie den Leser in ein dunkles, bestürzend trauriges und doch zuweilen auch an kurze Lichtblicke wie das Wirken des "American Indian Movement" erinnerndes Kapitel der amerikanischen Geschichte: "Jetzt machen wir Revolution, flüsterte Mutter." Nichts für nebenher.
MATTHIAS HANNEMANN
Katja Kettu: "Die Unbezwingbare". Roman.
Aus dem Finnischen von Angela Plöger. Ecco Verlag, Hamburg 2021. 335 S., geb., 22,- [Euro].
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