Die hochgelobte Edition der im Universitätsarchiv Tübingen verwahrten Krankengeschichte Aby Warburgs erfüllt ein lange gehegtes Desiderat der Warburg-Forschung. Mit der nun auch auf Deutsch vorliegenden, gegenüber der italienischen um wichtige Dokumente erweiterten Ausgabe kann endlich darangegangen werden, die »Leerstelle« zwischen Werk und Psyche Warburgs zu schließen, die von seinen Biographen wie etwa Ernst Gombrich geflissentlich verschwiegen wurde.
Der Band umfasst neben den Krankenakten von der Hand Ludwig Binswangers auch die autobiographischen Aufzeichnungen Warburgs aus jener Zeit, den Briefwechsel zwischen den beiden Persönlichkeiten, Wärterprotokolle sowie Aufzeichnungen und Briefe von Warburgs Assistenten Fritz Saxl. »Die unendliche Heilung« wird zum einmaligen Zeugnis der Begegnung zweier bedeutender intellektueller Protagonisten des 20. Jahrhunderts.
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Wie der Kunsthistoriker Aby Warburg sich selber heilte: Endlich gibt es die Krankengeschichte
Im Oktober 1918, kurz vor Ende des Weltkriegs, holte Aby Warburg seinen Revolver und drohte, seine Frau und die drei Kinder zu erschießen. Er hatte einen psychotisch-paranoiden Schub und war in seiner Zwangsvorstellung davon überzeugt, dass seine Familie von unbekannten Verfolgern entführt, verschleppt, gefoltert und getötet werden würde und nur der Selbstmord bliebe. Glücklicherweise konnte man dem Wahnsinnigen die Pistole rechtzeitig entwenden. Die Psychose hatte sich in den letzten Kriegsmonaten angekündigt. Warburgs Schüler Carl Georg Heise besuchte ihn Ende 1918 in Hamburg und fand ihn "völlig zerstört", aber noch nicht "irrsinnig" vor: "Sein Gehirn arbeitete fieberhaft und hemmungslos, alles übertreibend und dadurch verzerrend, doch war die Logik seiner allerdings sehr sprunghaften, immer wieder abreißenden Gedankengänge keineswegs unklar, sondern von einer auf die Spitze getriebenen Schärfe und Folgerichtigkeit, die sich eben deshalb als ungültig im Dunstkreis der Wirklichkeit erwies. Alles, was ihn je in schlaflosen Stunden gequält haben mochte, überwältigte ihn jetzt in apokalyptischen Visionen."
Warburg, der als Kunsthistoriker Bahnbrechendes geleistet hatte, als Wissenschaftler und als Direktor der von ihm aufgebauten Hamburger "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg", verbrachte die folgenden sechs Jahre in der Psychiatrie und in Sanatorien, zuerst in Hamburg, dann in Jena und seit 1921 in Kreuzlingen am Bodensee in der Schweizer Privatklinik des Psychiaters Ludwig Binswanger. Hier wurden auch der russische Tänzer Nijinskij, der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner und der Schauspieler Gustaf Gründgens behandelt. Über die Kreuzlinger Zeit Warburgs - und auch die Jahre in Jena - informiert die komplette Krankengeschichte, welche, sorgfältig ediert, jetzt im Diaphanes-Verlag erschienen ist.
Sensationell ist die Veröffentlichung nicht nur für die Warburg-Forschung, sondern auch weil eine derart dicht überlieferte, gut dokumentierte und zeitlich lange Krankengeschichte selten ist. Hier erfährt man, wie Anfang der zwanziger Jahre in einer fortschrittlichen Reformklinik eine Psychose behandelt wurde: als man noch nicht über Medikamente verfügte, die in ein paar Wochen die Wahnvorstellungen abklingen lassen. Binswanger stellte die Diagnose: Schizophrenie, die man damals auch als Dementia praecox, frühzeitige Demenz, bezeichnete. Erst als Warburg bereits zwei Jahre in Kreuzlingen war, führte der Starpsychiater Emil Kraepelin eine weitere Diagnose durch und korrigierte das Krankheitsbild zum "manisch-depressiven Mischzustand" - eine weitaus günstigere Diagnose; denn deren Symptome sind reversibel. "Prognose entsprechend, durchaus günstig", schrieb Kraepelin in die Krankenakte, auch wenn er von einer sofortigen Entlassung abrät, "gerade weil es sich um einen akuten Fall handelt, und die Entlassung den Heilungsprozeß nur verzögert".
Ludwig Binswanger war etwas verschnupft angesichts dieser Korrektur seiner Diagnosekünste - und doch sollte er mit seinem Vorschlag an Warburg, einen Selbstheilungsakt zu versuchen, den entscheidenden Anstoß zu dessen endgültiger Heilung geben. Im Jahr 1923 empfahl er Warburg, so etwas wie eine Autobiographie zu verfassen. Warburg machte sich an die Arbeit und diktierte der Stationsschwester ein autobiographisches Fragment, das ebenfalls im Band enthalten ist. Dann fasste er den Plan, einen Vortrag über seine Arizona-Reise von 1895 zu verfassen. Damals war er nach Santa Fé und Albuquerque aufgebrochen, um die Stammesriten der Pueblo-Indianer zu studieren. Ende des Jahrhunderts hatte die Reise zunächst keinen direkten wissenschaftlichen Ertrag gebracht. Jetzt wollte er sich mit Hilfe seines Mitarbeiters Fritz Saxl an die Ausarbeitung seiner Erlebnisse machen. Mit dem erst postum veröffentlichten Vortrag sollte er Wissenschaftsgeschichte schreiben.
Aby Warburg wurde 1866 geboren. Der Vater leitete das Hamburger Bankhaus M. M. Warburg & Co, das Aby, das älteste von sieben Kindern, einmal übernehmen sollte. Aby begehrte früh gegen das orthodox jüdische Elternhaus auf. Seine jüngeren Brüder Max, Paul und Felix wurden später Bankiers - der selbstbewusste Aby hatte anderes im Sinn. Der Bruder Max überlieferte die Anekdote, die Teil der Warburg-Legende werden sollte: "Als er dreizehn Jahre alt war, offerierte er mir sein Erstgeborenenrecht. (. . .) Er offerierte es mir aber nicht für ein Linsengericht, sondern verlangte von mir eine Zusage, dass ich ihm immer alle Bücher kaufen würde, die er brauchte. Hiermit erklärte ich mich nach sehr kurzer Überlegung einverstanden. Ich sagte mir, dass schließlich Schiller, Goethe, Lessing, vielleicht auch noch Klopstock von mir, wenn ich im Geschäft wäre, doch immer bezahlt werden könnten, und gab ihm ahnungslos, wie ich heute zugeben muss, sehr großen Blankokredit. Die Liebe zum Lesen, zum Buch war seine frühe, große Leidenschaft."
Nachdem er also sein Erstgeburtsrecht verkauft hatte, machte er, gegen den Willen der Eltern, ein altsprachliches Abitur und begann sein Studium der Kunstgeschichte und Geschichte. Obwohl Warburg später zwei Rufe auf kunsthistorische Lehrstühle erhielt, wollte er Privatgelehrter bleiben und eine "kunsthistorische Station" in Hamburg gründen. Ab 1900 betrieb er systematisch den Aufbau einer Bibliothek, der späteren "Kulturwissenschaftlichen Bibliothek Warburg". Warburg kaufte ein Haus an der Alster für seine Familie und die Bibliothek.
Warburg gilt in der Wissenschaftsgeschichte als Erfinder der Ikonologie, einer Methode, die bei der Deutung von Kunstwerken den "Zeitgeist" mit einbeziehen will und aus ganz unterschiedlichen Medien wie Kunsthandwerk, Literatur oder auch so prosaischen Dingen wie Kaufverträgen und Sammlungskatalogen Bildgehalte rekonstruiert. Von Warburg, der zeitlebens als Kunsthistoriker eher eine esoterische Berühmtheit blieb, stammen Begriffe wie "Denkräume" und "Pathosformel", die in den Sprachgebrauch seiner Disziplin eingegangen sind. Sein Lebenshauptwerk aber ist die Warburg-Bibliothek, die mit ihrer speziellen Systematik heute eine der wichtigsten Fachbibliotheken der Welt ist. Nach Warburgs Tod 1929 konnte Fritz Saxl als Bibliotheksdirektor das Projekt bis 1938 weiterführen - und die Bibliothek vor den Nazis nach London retten, wo sie noch heute residiert.
In der Kreuzlinger Klinik treiben Warburg schlimme paranoide Phantasien um. Er leidet jahrelang unter der Zwangsvorstellung, dass seine Familie geschlachtet und ihm zum Essen vorgesetzt würde. Kartoffeln sind für ihn Eiterklumpen, sein Steak ist aus Menschenfleisch. Warburg hat heftige cholerische Ausbrüche und muss zeitweise von vier kräftigen Pflegern zur Einnahme seines Veronals gezwungen werden. Die Psychopharmakologie steckt noch in ihren Kinderschuhen. Kraepelin ordnet eine Opiumkur an, die Warburgs Befinden allerdings nur verschlimmert. Jedoch verbessert sich Warburgs Zustand mit der Zeit, und im März 1923 kann ihn der Getreue Fritz Saxl zu intensiven Arbeitssitzungen in der Psychiatrie besuchen. Im April 1923 kann Warburg dann vor Ärzten, Schwestern, Patienten und eingeladenen Freunden seinen Reisebericht vortragen. Im Mittelpunkt des Vortrages steht das Schlangenritual, dessen Zeuge er bei seinem Besuch eines dreitägigen Fests der Pueblo-Indianer wurde.
Wenngleich dieser Vortrag Warburg selbst "formlos und philologisch schlecht fundiert" zu sein schien (und er sich die Veröffentlichung verbat), entwickelte er darin eine umfassende Theorie der rituellen Symbolik. Die Schlangen repräsentierten für die Pueblo-Indianer Blitze, und die Herrschaft über die Schlangen garantierte die magische Kontrolle über das überlebenswichtige Wetter. Revolutionär an Warburgs Vortragstechnik war neben der formalen Multimedialität - er zeigte viele Lichtbilder und reprographiertes Material - jene Interdisziplinarität, die maßgebend für die heutige Kulturwissenschaft ist. Neben der in Warburgs Vortrag vertretenen These, dass sich Aufklärung immer wieder mit dem Rückfall in die Magie produktiv auseinanderzusetzen habe - dreizehn Jahre vor Horkheimer und Adorno -, lieferte er das formale Paradigma für eine kulturvergleichende Wissenschaft. Warburgs Arzt Ludwig Binswanger war zwar zufrieden mit dem Selbstheilungsprojekt, merkte aber säuerlich an, dass dem Vortrag im Ganzen - krankheitstypisch - der rote Faden fehlte. 1938, fast zehn Jahre nach Warburgs Tod, veröffentlichte Fritz Saxl eine von ihm überarbeitete englische Fassung des Vortrags, den der Wagenbach-Verlag 1988 auf Deutsch herausbrachte. Leider sind alle Ausgaben heute vergriffen.
Im August 1924 konnte Warburg in seine Hamburger Bibliothek zurückkehren; die Wahnvorstellungen waren fast vollständig abgeklungen. Mit Ludwig Binswanger, den er in seinen Wahnattacken als die "verfluchte Binswangerei" zu bezeichnen pflegte und den er stets verdächtigte, zu den "Verfolgern" zu gehören, verband ihn bis zu seinem Tod eine intensive Brieffreundschaft, die im Diaphanes-Band vollständig dokumentiert ist. 1925 schrieb Binswanger an Warburg: "Ich halte Sie jetzt keineswegs mehr für zur Normalität beurlaubt, sondern als endgültig entlassen."
Der "Selbstheilungsakt" des Vortrags ist selbst das, wovon er handelt: Heilung der immer prekären Aufklärung durch Kreativität, der Bann der dunklen Magie durch ästhetische Anschauung.
MARIUS MELLER.
Ludwig Binswanger, Aby Warburg: "Die unendliche Heilung. Aby Warburgs Krankengeschichte." Diaphanes, Zürich/Berlin 2007. 287 Seiten, 28,20 Euro
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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