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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Wie die Europäische Union allmählich zu dem wurde, was sie heute ist
Die Geschichte der europäischen Einigung nach dem Zweiten Weltkrieg wird zumeist als Politik- und Gesellschaftsgeschichte geschrieben. Das neue Buch des in Göttingen lehrenden Juristen Frank Schorkopf wählt einen anderen, seltener begangenen Pfad. Ihm geht es darum, die Gründungsgeschichte und den Aufbau der Europäischen Union als Verfassungsgeschichte zu schreiben. Im Zentrum seines Buches steht die Frage, wie sich die unterschiedlichen nationalen und supranationalen Interessen und Organisationen miteinander arrangierten und auf welchem rechtlichen Fundament die Ordnung basiert, die heute oftmals unhinterfragt politisches Handeln in der Europäischen Union strukturiert. Diese Frage ist nicht nur wegen der immer wieder auftretenden Konflikte zwischen den Mitgliedstaaten aktuell, sondern auch angesichts von Strömungen, die selbst einen teilweisen Souveränitätsverzicht eines Mitgliedslandes als unverzeihlichen Verlust demokratischer Partizipationsrechte beklagen und die sogar bereit sind, sich ganz grundsätzlich vom europäischen Projekt zurückzuziehen. Dass mit diesen Kräften politisch zu rechnen ist, hat nicht zuletzt der Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union am 31. Januar 2020 gezeigt.
Schorkopfs Buch macht deutlich, dass die Auseinandersetzung zwischen "Konstitutionalisten", "Gouvernementalisten" und "Pragmatisten" eine der grundlegenden Konstanten ist, die die Entstehung der Europäischen Union seit ihren Anfängen begleitet. Während die Konstitutionalisten früh eine echte Föderation auf demokratischer Grundlage anstrebten, eine Art Vereinigte Staaten von Europa mit Gewaltenteilung, Grundrechtsschutz und direkt gewähltem Parlament, setzten die Gouvernementalisten auf die supranationale Zusammenarbeit souveräner Staaten. Während sie eine Autonomie der Europäischen Union anerkennen, tun die Pragmatisten genau das nicht.
Im ersten Teil seines Buches schildert Schorkopf, wie sich anfänglich die Gouvernementalisten durchsetzten. Eine "Europäische Politische Gemeinschaft" kam nicht zustande. Europäische Integration hieß zuerst einmal Verwaltung - die Arbeit in den drei Gemeinschaften (Montanunion, Europäische Wirtschaftsgemeinschaft und Europäische Atomgemeinschaft) musste organisiert werden. Die maßgeblichen politischen Kräfte in den Mitgliedsländern waren zunächst noch stark von dem Scheitern vieler liberaler Demokratien in der Zwischenkriegszeit geprägt und bevorzugten es auch deshalb, die praktischen Aspekte der frühen europäischen Gemeinschaftsarbeit technokratischen Eliten anzuvertrauen. Die Regierungen der Mitgliedstaaten trafen die politischen Entscheidungen, während der 1949 gegründete Europarat überwiegend eine beratende Funktion ausübte. Mit der europäischen Menschenrechtskonvention von 1950 konnte er allerdings schon früh prägende Akzente setzen. Einige Jahre später stellte der Europäische Gerichtshof klar, dass die Mitgliedstaaten mit den Römischen Verträgen eine "neue Rechtsordnung des Völkerrechts" begründet hätten. Das neue Gemeinschaftsrecht begründe "individuelle Rechte für Bürger und Unternehmen".
Im zweiten Teil des Buches stehen die Versuche der 1970er- und frühen 1980er- Jahre im Mittelpunkt, durch parlamentarische Mitbestimmung und die Formulierung europäischer Grundrechte die europäische Staatengemeinschaft zu demokratisieren und auf diese Weise einen (west-)europäischen Identitätskern zu schaffen. Ein "Europa der Bürger" sollte die vermeintlich auf halber Strecke steckengebliebene Integration ablösen. Dies wäre allerdings zulasten der supranationalen Exekutive gegangen und wurde daher sowohl von ihr wie auch von den Nationalstaaten, die um ihre Souveränität fürchteten, erfolgreich bekämpft. Dennoch, und das ist eines der Hauptergebnisse der Studie, konnte sich zu keinem Zeitpunkt eine Seite endgültig durchsetzen. Verfassungsgeschichtliche Ideen, die politisch diskutiert, aber nicht umgesetzt wurden, blieben als Möglichkeit stets präsent. Inzwischen liegt konstitutionelle Macht nicht mehr ausschließlich bei den Mitgliedstaaten, ohne dass sie damit automatisch auf die Europäische Union übergegangen wäre. Den europäischen "Raum der Macht" beschreibt Schorkopf daher als eine Leerstelle, die von niemandem dauerhaft besetzt werden kann.
Im dritten und letzten Teil geht es um die Entwicklungen seit Mitte der 1980er- bis zu den frühen 2000er-Jahren, die nicht nur durch die nach dem Zerfall der Sowjetunion möglich gewordene Integration zahlreicher mittel-, ost- und südosteuropäischer Staaten, sondern auch durch wiederholte Versuche geprägt war, das Einstimmigkeitsprinzip zugunsten größerer Handlungsfreiheit der europäischen Exekutive und seiner Organe zu überwinden. Auch wenn es mit dem 2001 unterzeichneten Vertrag von Nizza tatsächlich gelang, die Legislativbefugnisse des Europäischen Parlaments auszuweiten und die Beschlussfassung mit qualifizierter Mehrheit im Europäischen Rat auf weitere Bereiche auszudehnen, so widersetzten sich in den Folgejahren besonders osteuropäische Staaten einem Machtzuwachs der europäischen Organe. Alle Versuche, der 2007 mit dem (Grundlagen-)Vertrag von Lissabon neu austarierten Europäischen Gemeinschaft eine förmliche Verfassung zu geben, sind bis heute erfolglos geblieben. Angesichts der EU-kritischen Mobilisierungserfolge in den letzten Jahren stehen die Chancen auf eine demokratische Mehrheit für eine solche Verfassung auch weiterhin schlecht.
Es wäre wünschenswert, wenn Schorkopfs verfassungsgeschichtlicher Ansatz den interdisziplinären Dialog mit der europäischen Zeitgeschichte voranbringen könnte. Allerdings wirkt die Welt der europäischen Institutionen, die er beschreibt, hermetisch. Die handelnden Subjekte seiner Erzählung sind Spitzenpolitiker und -juristen, die auf den europäischen Bühnen von Brüssel, Straßburg und Luxemburg erscheinen und abgehen, ohne dass die Leser über die Entwicklungen in den Mitgliedstaaten detailliert unterrichtet werden. Schorkopf erzählt mit kritischer Sympathie eine Erfolgsgeschichte mit Hindernissen, die zwar keinen Bundesstaat klassischer Prägung, aber doch eine in vielerlei Hinsicht handlungsfähige Union "mit erheblicher politischer Gestaltungskraft" hervorgebracht hat. Angelehnt an Karl Schefflers berühmtes Diktum über das Berlin der Kaiserzeit könnte man nach der Lektüre dieses Buches auch über die Europäische Union sagen, sie sei dazu "verdammt, immerfort zu werden und niemals zu sein". DANIEL SIEMENS
Frank Schorkopf: Die unentschiedene Macht. Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, 1948-2007.
Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2023. 381 S., 35,- Euro.
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Prof. Dr. Reinhard Zimmermann: »Juristische Bücher des Jahres - Eine Leseempfehlung«, JuristenZeitung 79 (2024)
»Alles in allem ist das von Frank Schorkopf verfasste Werk "Die unentschiedene Macht" ein äußerst lesenswertes Buch zur Verfassungsgeschichte der Europäischen Union, das Historiker wie Rechtswissenschaftler gleichermaßen zu inspirieren vermag.«
Christian Franke, H-Soz-Kult, 01.03.2024
»Das Buch sei daher nicht nur EU-Experten, sondern auch einem breiteren Publikum als Lektüre wärmstens empfohlen.«
Victor Jaeschke, sehepunkte 24 (2024), Nr. 2
»Wie sich die europäische Verfassungsgeschichte weiterhin materiell-evolutiv weiter entwickeln wird, vermag niemand vorauszusagen. Doch dank Schorkopfs großartigem Pionierwerk liegen die unterschiedlichen Optionen offen auf dem Tisch.«
Horst Dippel, Archiv für Sozialgeschichte 64, 2024
»Insgesamt lässt sich der Text sehr gut lesen, ist in klarem, schnörkellos und zugleich eleganten Stil geschrieben. Konsequent legt das Buch den Fokus auf die Europäischen Gemeinschaften bzw. die Europäische Union. Seitenblicke auf Ereignisse in den Mitgliedstaaten erlaubt sich Schorkopf nur selten und auch nur, wenn es um weichenstellende Entwicklungen geht, die direkt auf die europäische Integration ausstrahlen.«
Lisa-Marie Lührs, Zeitschrift für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht 84 (2024)