"Weil in jeder Familiengeschichte alles Wichtige der Weltgeschichte steckt", hat Miljenko Jergovic sich auf die Spuren seiner Familie begeben. Als seine Mutter, zu der er kein einfaches Verhältnis hat, im Sterben liegt, reist er nach Sarajevo und bringt sie zum Erzählen über die Vorfahren. Dort, wo jede Straße ihn in die Vergangenheit seiner traumatisierten Heimat führt, setzt er sich in einem schmerzlichen Prozess mit ihrem Erbe auseinander: Kinder des einstigen Habsburgerreichs, waren sie als Eisenbahner Zugereiste, und jeder Krieg stellte ihre Identitäten und Loyalitäten neu auf die Probe.Das Gefühl von Fremdheit ist dem großen europäischen Erzähler Miljenko Jergovic geblieben, auch wenn er sich an den Konflikten der Gegenwart auf seine Weise reibt. Fakten mit Fiktion vermischend und in konzentrischen Kreisen erzählend, zeigt er in diesem großen Weltentwurf, was das Leben in einem Vielvölkerstaat für den Einzelnen bedeutet, vor allem wenn er nicht zur Mehrheit gehört, sondern zu den "Anderen"."
Perlentaucher-Notiz zur TAZ-Rezension
Eine Familiengeschichte "dicker als ein Ziegelstein", voller uneindeutiger Charaktere, voller Exkurse, Skizzen, Pausen, detailreich, keiner Chronologie und keinen Konstanten folgend, ist das neue Buch des kroatisch-bosnischen Autors Miljenko Jergovic, erklärt Rezensentin Doris Akrap und man ist schon überzeugt, einen Verriss zu lesen, doch dann die überraschende Wende: Nur ein hervorragender Schriftsteller schafft es, so eine Geschichte spannend zu erzählen, und so einer ist Jergovic, meint Akrap. Die Geschichte des Niedergangs der Familie Stubler aus Sarajevo ist zugleich ein "zeithistorisches Porträt" der damaligen jugoslawischen Gesellschaft und überdies raffiniert gebaut, spannend und erhellend, lobt die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 31.08.2017Wechselnde Antworten auf eine unmögliche Frage
Miljenko Jergović erzählt die Geschichte seiner Familie, in einem Roman, der die Gattung bis an ihre Grenzen strapaziert
Sarajevo im Frühjahr 1945. Es fehlt an allem, vor allem an Nahrung, aber in den zerbombten Hinterhöfen spielen die Kinder, als wäre nichts. Manchmal bringen sie bunte Steinchen, die sie auf der Straße gefunden haben, mit nach Hause. „Der Vater schwieg. Beim zweiten Mal nahm er ihr die Steinchen weg und sagte: Damit spielt man nicht!“
Diese ruhige, aber energische Reaktion des Vaters auf so etwas harmloses wie ein paar bunte Kiesel, ist eine der frühesten Erinnerungen Javorka Regina Stublers, der Mutter von Miljenko Jergović, die er in seinem Buch nacherzählt. Die andere frühe Kindheitserinnerung ist die an einen Jungen, der ein Pita-Brot isst.
Die bunten Steine waren Teil eines Mosaiks, das die sephardische Synagoge in Sarajevo zierte, bis sie 1941 bei einem Luftangriff beschädigt, anschließend geplündert und nie wieder aufgebaut wurde. Jergović hat in Romanen, Essays und Artikeln über diese Zerstörung geschrieben, auch in seinem neuen Buch „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ spielt sie eine Rolle, neben den Erinnerungen der Mutter und der Frage nach der grundsätzlichen Selektion des Gedächtnisses: „Das Mosaik hätte wieder zusammengefügt werden müssen, und die Geschichte gehört erzählt, so wie sie sich tatsächlich zugetragen hat.“
Jergović weiß aber genau, dass es nicht so einfach ist mit dem Erzählen einer Geschichte, „so wie sie sich tatsächlich zugetragen hat“. Er versucht es mit der Geschichte seiner Familie trotzdem. Einer Geschichte, die vom späten 19. Jahrhundert bis zu ihm selbst reicht, die er „schon mehrfach erzählt“ hat, bei der sich in dieser Fassung „Ausschmückungen und Veränderungen leider verbieten“. Denn es geht ihm um eine Frage, die derzeit wieder aktuell ist, in den Staaten des Balkans aber nie geklärt war, also immer zur Debatte stand: Wer bin ich?
Die Literatur kann identitätsstiftend sein, häufig wird ihr diese Rolle aber auch nur unterstellt, denn identitätsstiftend kann alles sein, und den meisten Dingen tut man damit unrecht. Dass Literatur so oft als Gemeinsames einer Nation oder Volksgruppe dienen muss, hat mit der Sprache zu tun. Goethe für Deutschland und Dante für Italien sind Nationaldichter, die von jedem Schulkind gelesen werden und die jedes Volk als Kronzeugen der eigenen Kultur anführt. Zu Goethes und Dantes Zeiten existierten weder Deutschland noch Italien, aber wer heute Deutsch oder Italienisch spricht, der spricht immer ein wenig wie Goethe oder Dante.
Miljenko Jergović führt keinen kroatischen, keinen serbischen und keinen bosnischen Autor als Paten an. Am meisten beruft er sich wahrscheinlich auf sich selbst und auf Thomas Mann, aber auch da schwingt vor allem die Bewunderung für einen Autor mit, der sich eine Identität bewahrte, ob er in Deutschland, Italien, der Schweiz oder den USA lebte. „Wo ich bin, ist Deutschland“ lautet der berühmte Satz, den Thomas Mann bei der Ankunft in New York im amerikanischen Exil in die Mikrofone sprach.
Fragte man Jergović, was da sei, wo er ist, würde er vielleicht auf sein Buch verweisen, in dem sich das gesamte zwanzigste Jahrhundert, der Krieg, der gleichzeitig nahe und ferne k.u.k.-Prunk mit den deutschen, österreichischen, kroatischen und allen sonstigen Verwandten vermischt. Schmelztiegel gibt es überall auf der Welt, aber der auf dem Balkan sei ein ganz besonderer, behauptet Jergović: „Der Unterschied ist aber nicht der einer gemischt-nationalen Gesellschaft zu einer national homogenen Gesellschaft. Der Unterschied liegt im Umgang mit Verschiedenheit.“ Dieser sei besonders hasserfüllt, wofür Jergović nicht nur Geschichten wie die von der Synagoge von Sarajevo und ihrem Mosaik , sondern natürlich auch die Jugoslawienkriege am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und die Ablehnung anführt, die er selbst erlebt hat.
Als Nachkomme deutscher Vorfahren, als Bosnier, der auf Kroatisch schreibt, gehört er nirgends so richtig dazu. „Der Mob weiß, welches Wappen, welche Fahne, welcher Name ihm gehört, und brüllt es frei heraus, wir hingegen sehen uns zu langen, umständlichen Erklärungen, Romanen, Filmen, fiktiven und wahren Geschichten gezwungen.“ Jergovićs Ausweis ist dieser Roman, der aber den Romanbegriff bis an seine Grenzen strapaziert und selbst nicht genau zu wissen scheint, was er eigentlich ist, denn er besteht aus mehreren längeren Texten, die eigene Bücher sein könnten. Er enthält einen Roman über die Familiengeschichte der Stublers, eine Reportage über den Krebstod der Mutter, ein „Tagebuch der Bienen“, dazu viele kleine Texte, die sich um diese größeren formieren, aber anscheinend nicht in diese eingefügt werden konnten. Wie die Steinchen aus dem zerstörten Mosaik.
Durch Berichte von Verwandten, aus Fotografien, von denen einige in dem Buch abgedruckt sind, und durch Archive hat Jergović die Geschichte der Familie Stubler bis in die letzte noch irgendwie rekonstruierbare Verästelung nachvollzogen. Gewissenhaft berichtet er von dem stolzen Eisenbahnbeamten Karlo Stubler, der herzkranken Großmutter, den ganzen großen und kleinen Dramen vor dem und im Krieg, zwischen Wien und Sarajevo. „Aber lassen wir Familien- und Historienroman, kommen wir zurück zu uns.“
Kann man diesen Schilderungen trauen? Vieles kann der Erzähler gar nicht wissen, anderes ist, entgegen seiner Ansage, offensichtlich ausgeschmückt. Jergović verfolgt ein anderes Projekt als die Geschichte seiner Familie niederzuschreiben, ihm geht es nicht um historisch akkurate Darstellungen, obwohl er den nüchternen Stil einer Chronik manchmal treffend imitiert, um ihn mit Kommentaren oder Relativierungen aber sofort wieder zu unterlaufen. Denn: „Die Wahrheit liegt in wechselnden Antworten auf eine unmögliche Frage.“
Wer bin ich?, das ist keine Frage, auf die Jergović eine einfache Antwort erwartet. „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ ist ein Großprojekt über die Eitelkeit dieser Frage und die Unmöglichkeit, sie zu beantworten. Jergović möchte die Konstruiertheit jeder Identität ausstellen, indem er all die Unsicherheiten und Vagheiten betont, die sich in den Geschichten auftun, auf die man sich beruft, wenn man sagt, man sei Deutscher oder Kroate, aus dieser oder jener Familie. Er selbst sagt über sich, sicher sei für ihn nur die Prägung durch seine Großmutter. „Bei allem anderen stehe ich auf schwankendem Boden.“
Dieses Annahme führt dazu, dass es in der Geschichte der Familie nur um eine Person geht: Miljenko Jergović. Alle Stimmen des Romans sind seine Stimme, er hat alle anderen absorbiert. Die Frage nach der Identität ersetzt er durch radikalen Individualismus. Der Reportage genannte Teil über die Krebserkrankung und den Tod seiner Mutter ist vor allem auch ein Endlager für seine Gleichgültigkeit den Eltern gegenüber: „Es fällt mir nicht schwer zu sagen: Ich habe sie nicht geliebt.“ Formal ist diese „Reportage“ kaum von dem vorangegangenen „Roman“ unterschieden. Bei dem ganzen Buch handelt es sich um einen Text, der immer wie auf dem Sprung zu sein scheint, ein Roman zu werden, diese Bewegung aber demonstrativ nicht wagt. Eine fadenscheinige Geste, denn natürlich ist der Text längst geworden, was er nie sein wollte: ein ausufernder, etwas eitler und um seiner selbst willen geschriebener Familienroman. Miljenko Jergović kann der Frage nach der Identität nicht entkommen, auch weil er sich selbst jederzeit daran orientiert. Alles könnte ganz anders sein – ist es aber nicht. Jergović unternimmt immense Anstrengungen, diese Möglichkeit aufzuzeigen.
„Vielleicht leben wir alle die Leben künftiger oder vergangener literarischer Helden.“ Miljenko Jergović hat sich vorsorglich selbst zu einem gemacht. Dabei zeigt sich gerade in den kleinen, oft anekdotischen und assoziativen Texten, in denen der Autor sich zurücknimmt, welche Klasse er hat.
NICOLAS FREUND
„Vielleicht leben wir alle
die Leben künftiger oder
vergangener literarischer Helden.“
Miljenko Jergović, geboren am 28. Mai 1966 in Sarajevo. 2002 erschien sein Roman „Buick Rivera“ auf Deutsch.
Foto: Miodrag Trajkovic/
Verlag
Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1144 Seiten, 34 Euro. E-Book 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Miljenko Jergović erzählt die Geschichte seiner Familie, in einem Roman, der die Gattung bis an ihre Grenzen strapaziert
Sarajevo im Frühjahr 1945. Es fehlt an allem, vor allem an Nahrung, aber in den zerbombten Hinterhöfen spielen die Kinder, als wäre nichts. Manchmal bringen sie bunte Steinchen, die sie auf der Straße gefunden haben, mit nach Hause. „Der Vater schwieg. Beim zweiten Mal nahm er ihr die Steinchen weg und sagte: Damit spielt man nicht!“
Diese ruhige, aber energische Reaktion des Vaters auf so etwas harmloses wie ein paar bunte Kiesel, ist eine der frühesten Erinnerungen Javorka Regina Stublers, der Mutter von Miljenko Jergović, die er in seinem Buch nacherzählt. Die andere frühe Kindheitserinnerung ist die an einen Jungen, der ein Pita-Brot isst.
Die bunten Steine waren Teil eines Mosaiks, das die sephardische Synagoge in Sarajevo zierte, bis sie 1941 bei einem Luftangriff beschädigt, anschließend geplündert und nie wieder aufgebaut wurde. Jergović hat in Romanen, Essays und Artikeln über diese Zerstörung geschrieben, auch in seinem neuen Buch „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ spielt sie eine Rolle, neben den Erinnerungen der Mutter und der Frage nach der grundsätzlichen Selektion des Gedächtnisses: „Das Mosaik hätte wieder zusammengefügt werden müssen, und die Geschichte gehört erzählt, so wie sie sich tatsächlich zugetragen hat.“
Jergović weiß aber genau, dass es nicht so einfach ist mit dem Erzählen einer Geschichte, „so wie sie sich tatsächlich zugetragen hat“. Er versucht es mit der Geschichte seiner Familie trotzdem. Einer Geschichte, die vom späten 19. Jahrhundert bis zu ihm selbst reicht, die er „schon mehrfach erzählt“ hat, bei der sich in dieser Fassung „Ausschmückungen und Veränderungen leider verbieten“. Denn es geht ihm um eine Frage, die derzeit wieder aktuell ist, in den Staaten des Balkans aber nie geklärt war, also immer zur Debatte stand: Wer bin ich?
Die Literatur kann identitätsstiftend sein, häufig wird ihr diese Rolle aber auch nur unterstellt, denn identitätsstiftend kann alles sein, und den meisten Dingen tut man damit unrecht. Dass Literatur so oft als Gemeinsames einer Nation oder Volksgruppe dienen muss, hat mit der Sprache zu tun. Goethe für Deutschland und Dante für Italien sind Nationaldichter, die von jedem Schulkind gelesen werden und die jedes Volk als Kronzeugen der eigenen Kultur anführt. Zu Goethes und Dantes Zeiten existierten weder Deutschland noch Italien, aber wer heute Deutsch oder Italienisch spricht, der spricht immer ein wenig wie Goethe oder Dante.
Miljenko Jergović führt keinen kroatischen, keinen serbischen und keinen bosnischen Autor als Paten an. Am meisten beruft er sich wahrscheinlich auf sich selbst und auf Thomas Mann, aber auch da schwingt vor allem die Bewunderung für einen Autor mit, der sich eine Identität bewahrte, ob er in Deutschland, Italien, der Schweiz oder den USA lebte. „Wo ich bin, ist Deutschland“ lautet der berühmte Satz, den Thomas Mann bei der Ankunft in New York im amerikanischen Exil in die Mikrofone sprach.
Fragte man Jergović, was da sei, wo er ist, würde er vielleicht auf sein Buch verweisen, in dem sich das gesamte zwanzigste Jahrhundert, der Krieg, der gleichzeitig nahe und ferne k.u.k.-Prunk mit den deutschen, österreichischen, kroatischen und allen sonstigen Verwandten vermischt. Schmelztiegel gibt es überall auf der Welt, aber der auf dem Balkan sei ein ganz besonderer, behauptet Jergović: „Der Unterschied ist aber nicht der einer gemischt-nationalen Gesellschaft zu einer national homogenen Gesellschaft. Der Unterschied liegt im Umgang mit Verschiedenheit.“ Dieser sei besonders hasserfüllt, wofür Jergović nicht nur Geschichten wie die von der Synagoge von Sarajevo und ihrem Mosaik , sondern natürlich auch die Jugoslawienkriege am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und die Ablehnung anführt, die er selbst erlebt hat.
Als Nachkomme deutscher Vorfahren, als Bosnier, der auf Kroatisch schreibt, gehört er nirgends so richtig dazu. „Der Mob weiß, welches Wappen, welche Fahne, welcher Name ihm gehört, und brüllt es frei heraus, wir hingegen sehen uns zu langen, umständlichen Erklärungen, Romanen, Filmen, fiktiven und wahren Geschichten gezwungen.“ Jergovićs Ausweis ist dieser Roman, der aber den Romanbegriff bis an seine Grenzen strapaziert und selbst nicht genau zu wissen scheint, was er eigentlich ist, denn er besteht aus mehreren längeren Texten, die eigene Bücher sein könnten. Er enthält einen Roman über die Familiengeschichte der Stublers, eine Reportage über den Krebstod der Mutter, ein „Tagebuch der Bienen“, dazu viele kleine Texte, die sich um diese größeren formieren, aber anscheinend nicht in diese eingefügt werden konnten. Wie die Steinchen aus dem zerstörten Mosaik.
Durch Berichte von Verwandten, aus Fotografien, von denen einige in dem Buch abgedruckt sind, und durch Archive hat Jergović die Geschichte der Familie Stubler bis in die letzte noch irgendwie rekonstruierbare Verästelung nachvollzogen. Gewissenhaft berichtet er von dem stolzen Eisenbahnbeamten Karlo Stubler, der herzkranken Großmutter, den ganzen großen und kleinen Dramen vor dem und im Krieg, zwischen Wien und Sarajevo. „Aber lassen wir Familien- und Historienroman, kommen wir zurück zu uns.“
Kann man diesen Schilderungen trauen? Vieles kann der Erzähler gar nicht wissen, anderes ist, entgegen seiner Ansage, offensichtlich ausgeschmückt. Jergović verfolgt ein anderes Projekt als die Geschichte seiner Familie niederzuschreiben, ihm geht es nicht um historisch akkurate Darstellungen, obwohl er den nüchternen Stil einer Chronik manchmal treffend imitiert, um ihn mit Kommentaren oder Relativierungen aber sofort wieder zu unterlaufen. Denn: „Die Wahrheit liegt in wechselnden Antworten auf eine unmögliche Frage.“
Wer bin ich?, das ist keine Frage, auf die Jergović eine einfache Antwort erwartet. „Die unerhörte Geschichte meiner Familie“ ist ein Großprojekt über die Eitelkeit dieser Frage und die Unmöglichkeit, sie zu beantworten. Jergović möchte die Konstruiertheit jeder Identität ausstellen, indem er all die Unsicherheiten und Vagheiten betont, die sich in den Geschichten auftun, auf die man sich beruft, wenn man sagt, man sei Deutscher oder Kroate, aus dieser oder jener Familie. Er selbst sagt über sich, sicher sei für ihn nur die Prägung durch seine Großmutter. „Bei allem anderen stehe ich auf schwankendem Boden.“
Dieses Annahme führt dazu, dass es in der Geschichte der Familie nur um eine Person geht: Miljenko Jergović. Alle Stimmen des Romans sind seine Stimme, er hat alle anderen absorbiert. Die Frage nach der Identität ersetzt er durch radikalen Individualismus. Der Reportage genannte Teil über die Krebserkrankung und den Tod seiner Mutter ist vor allem auch ein Endlager für seine Gleichgültigkeit den Eltern gegenüber: „Es fällt mir nicht schwer zu sagen: Ich habe sie nicht geliebt.“ Formal ist diese „Reportage“ kaum von dem vorangegangenen „Roman“ unterschieden. Bei dem ganzen Buch handelt es sich um einen Text, der immer wie auf dem Sprung zu sein scheint, ein Roman zu werden, diese Bewegung aber demonstrativ nicht wagt. Eine fadenscheinige Geste, denn natürlich ist der Text längst geworden, was er nie sein wollte: ein ausufernder, etwas eitler und um seiner selbst willen geschriebener Familienroman. Miljenko Jergović kann der Frage nach der Identität nicht entkommen, auch weil er sich selbst jederzeit daran orientiert. Alles könnte ganz anders sein – ist es aber nicht. Jergović unternimmt immense Anstrengungen, diese Möglichkeit aufzuzeigen.
„Vielleicht leben wir alle die Leben künftiger oder vergangener literarischer Helden.“ Miljenko Jergović hat sich vorsorglich selbst zu einem gemacht. Dabei zeigt sich gerade in den kleinen, oft anekdotischen und assoziativen Texten, in denen der Autor sich zurücknimmt, welche Klasse er hat.
NICOLAS FREUND
„Vielleicht leben wir alle
die Leben künftiger oder
vergangener literarischer Helden.“
Miljenko Jergović, geboren am 28. Mai 1966 in Sarajevo. 2002 erschien sein Roman „Buick Rivera“ auf Deutsch.
Foto: Miodrag Trajkovic/
Verlag
Miljenko Jergović: Die unerhörte Geschichte meiner Familie. Roman. Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Verlag Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1144 Seiten, 34 Euro. E-Book 24,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.10.2017Wie man mit brennenden Streichhölzern jongliert
Ein pralles Großwerk der europäischen Literatur: Miljenko Jergovics "Unerhörte Geschichte meiner Familie"
"Miljenko Jergovics ,Unerhörte Geschichte meiner Familie' ist, für mich" - so schrieb Sasa Stanisic, der zwölf Jahre jüngere, aus Bosnien-Hercegovina stammende Schriftsteller -, "das monumentalste Buch, ein Buch von hunderttausend Seiten. Seine Motive und Geschichten haben sich in mir fortgeschrieben, die vielfältige Handlungszweige haben Knospen getrieben und sich weiter verästelt. Sie schlagen ohnehin weit aus im Wirbelsturm der europäischen Vergangenheit, und im Auge des Sturms ruht die Stubler-Sippe, mehrere Generationen, der letzte Nachkomme: Miljenko Jergovic."
Ein großer Wurf ist diese Familiengeschichte, die mehr als ein Jahrhundert gelebte Historie auf dem Balkan in Erinnerung ruft. Jergovic floh im Krieg 1993 aus seiner Heimatstadt Sarajevo und lebt seitdem in Zagreb. Ist er ein bosnischer oder ein kroatischer Schriftsteller? Den Autor interessieren diese nationalen Zuordnungen nicht. Er versteht sich als jugoslawischer Schriftsteller, "kann nichts anderes sein und will nichts anderes sein!". Als sein Land zerfiel, war er 24 Jahre alt, aber noch heute betont der Autor: "Meine kulturelle Identität ist zutiefst jugoslawisch; daran hat der Krieg nichts geändert."
Vorbild für seine Generation von Schriftstellern sind Autoren wie Robert Musil, Joseph Roth und Hermann Broch, die er nicht als Österreicher oder Deutsche versteht, sie sind vielmehr Literaten eines verschwundenen Reiches - und aus diesem Gefühl heraus fühlt er sich ihnen nahe und verwandt. Die unerhörte Familiengeschichte entfaltet ein düsteres, aber auch komisches, ein trauriges und lustiges, ein vielfarbiges Tableau einer untergegangenen Welt, die mit Erinnerungen und Katastrophen zum Bersten gefüllt ist.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie von Karlo Stubler und seiner Frau Johanna, den Urgroßeltern des Autors. Karlo ist Eisenbahner, er spricht Deutsch, auch wenn er sich nicht als nationaler Deutscher fühlt, und lebt zunächst im rumänischen Banat. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Familie nach Dubrovnik versetzt, dort kommt es zu einem Streik der Eisenbahner, Karlo mischt sich ein und wird zur Strafe entlassen. Er lebt mit seiner Frau und den vier Kindern fortan in Sarajevo und wird von den Eisenbahner-Gewerkschaftern finanziell über Wasser gehalten. Die Generationen verzweigen sich, die Sprachen vervielfältigen sich, der Urenkel spricht kein Deutsch mehr: "Ich bin der Erste von was-weiß-ich-wie-vielen Generationen, der kein Deutsch spricht, alle vor mir konnten diese Sprache so gut sprechen wie ihre Muttersprache. Und zwar nicht nur die Deutschen in der Familie, auch die, die keine Deutschen waren. Deutsch war die Sprache ihrer, das heißt unserer Familienkultur. Diese Kultur hatte im engeren Sinne nichts mit Deutschland zu tun, es war eher eine österreichische oder österreichisch-ungarische Kultur." Deutsch als Lingua franca in der Mitte Europas, die anderen Muttersprachen waren Ungarisch, Italienisch, Rumänisch, Slowenisch, Serbisch-Kroatisch-Bosnisch. Alle sind irgendwie Ausländer, feste Identitäten sind eine Schimäre, sie gibt es nicht.
Politisch waren dieser Landstrich und seine Bewohner hin- und hergeschüttelt: osmanisches Reich, k.u.k. Habsburgermonarchie, serbisches Königreich, deutsche Besatzung ab 1941, das sozialistische Jugoslawien unter Tito und der Zerfall im Bürgerkrieg der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ein Schlüsselpunkt der Geschehnisse für alle Generationen ist das Schicksal von Mladen, einem Sohn der Großeltern Olga und Franjo.
Um Mladen im beginnenden Zweiten Weltkrieg zu schützen, überredet ihn seine Mutter Olga, sich bei der SS zu verdingen und nicht zu den Partisanen zu gehen, die gegen die faschistische Besatzung und die Ustascha kämpfen, obwohl ihr Vater Karlo seine kommunistischen Nachbarn öfter vor Razzien der Nazis geschützt hat. Bei der SS glaubt Olga ihren Sohn in Sicherheit. Nur wenige Monate nach Mladens Eintritt in die SS wird er Opfer des Krieges, ein Grab gibt es nicht.
Keiner in der Familie ist politisch engagiert, man schickt sich, so gut es geht, in die Verhältnisse, man überlebt mit Witz und Anstand. Der Autor erzählt eine Geschichte nach der anderen, nie chronologisch, sondern immer ineinander verknäuelt, ein Erzählstrang gebiert den nächsten und spinnt sich fort. Jergovic verzichtet auf logische Kausalzusammenhänge, das Leben ist wirr, und die Geschichten sind ebenso wirr, mal gehören sie zur Familie, mal wird über Nachbarn oder Bekannte erzählt, über eine legendäre Hausbesitzerin und die wechselvolle Geschichte ihrer Mieter, oder er schildert die Spurensuche nach einer Cousine, die in Sofia als Ärztin gearbeitet haben soll und wie vom Erdboden verschluckt ist. Öfter verschwinden Menschen - als Soldaten im Krieg, abtransportiert in ein Konzentrationslager, oder sie werden begraben, obwohl sie noch am Leben sind.
Eine der kuriosesten Geschichten in der Geschichte ist die des zum Juden gemachten Joschka Herzl. Er ist Sohn eines begnadeten Musikerehepaares aus Zagreb, das nicht verwinden kann, dass ihr Sohn total unmusikalisch ist. Dieser Sohn ist eine so große Schmach für die Eltern, dass sie ihn zu einer Tante nach Graz geben. In Zagreb wird eine fiktive Beerdigung für den ungeliebten Sohn veranstaltet, und er ist fortan gestorben.
Joschka fühlt sich wohl bei der Tante, die ein behindertes Kind hat. Er erfindet einen Plan, wie er sich an seinen Eltern rächen kann. Finger sind für Pianisten der größte Schatz, und so entwickelt er eine ungeheure Fingerfertigkeit, indem er mit Streichhölzern virtuose Jonglier-Kunststücke vollbringt. Wie ein Pianist übt er bis zu achtzehn Stunden am Tag, um seine Meisterschaft zu vervollkommnen.
Die Umwelt kann er dann vergessen: "An einem Montag traten SS-Leute die Tür zum Haus von Rosalie Herzl ein und führten sie und ihre geistig zurückgebliebene Tochter unter schrillen Schreien und vielen Tränen ab. Joschka Herzl saß derweil am Schreibtisch und jonglierte zum ersten Mal mit acht brennenden Streichhölzern. Die Daumen auf das schwarze Furnier gestützt, die Handflächen unnatürlich verdreht, jonglierte er mit Minifackeln, so dass in den Fingerkuppen von jedem der acht Finger ein Genie saß, der Geist eines großen Pianisten, Artisten und Buddhisten, der die Kraft jedes neuen Stoßes exakt auf den Gewichtsverlust der Streichhölzer durch das Abbrennen abstimmte, bis sie sich nach dem dreiundzwanzigsten oder vierundzwanzigsten Hochschnippen gänzlich in Rauch und Asche aufgelöst hatten. Den SS-Leuten blieb der Mund offen stehen. Der Anblick verwirrte sie derart, dass sie Joschka Herzl daließen . . . Während er jonglierte, bekam er nichts mit, was um ihn herum vorging. Er zündete ein Streichholz an, schnippte es mit der Fingerkuppe in die Luft, wartete auf das brennende Ende, zündete daran das nächste an, warf es hoch, sah zu, wie es zurückkam und sich im Flug um dreihundertsechzig Grad drehte, und das acht Mal, und so hörte und sah er nicht, wie Tante Rosa und ihre Tochter von den Deutschen abgeführt wurden."
Von solchen Geschichten ist der Roman prall gefüllt; der Autor lässt den Leser eintauchen in vergessene, untergegangene Welten, er setzt Menschen kleine Denkmäler im Zauber eines großen Mosaiks von Lebenswirklichkeiten, die sich wie in einem Kaleidoskop verändern, verzerren, verzaubern. Die letzten zweihundert Seiten widmet Miljenko Jergovic seiner Mutter Javorka, die in Sarajevo im Jahre 2012 im Sterben liegt. Von ihr möchte er noch so viel wie möglich aus der eigenen Familiengeschichte erfahren, um es für die Nachwelt festhalten zu können. Als der Sohn sich zum letzten Mal von seiner Mutter verabschiedet, packt er seine Sachen und legt in der Reisetasche ganz obenauf ein dickes, schweres Buch (1724 Seiten), die "Parallelgeschichten" des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas.
LERKE VON SAALFELD
Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie". Roman.
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1141 S., geb., 34,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ein pralles Großwerk der europäischen Literatur: Miljenko Jergovics "Unerhörte Geschichte meiner Familie"
"Miljenko Jergovics ,Unerhörte Geschichte meiner Familie' ist, für mich" - so schrieb Sasa Stanisic, der zwölf Jahre jüngere, aus Bosnien-Hercegovina stammende Schriftsteller -, "das monumentalste Buch, ein Buch von hunderttausend Seiten. Seine Motive und Geschichten haben sich in mir fortgeschrieben, die vielfältige Handlungszweige haben Knospen getrieben und sich weiter verästelt. Sie schlagen ohnehin weit aus im Wirbelsturm der europäischen Vergangenheit, und im Auge des Sturms ruht die Stubler-Sippe, mehrere Generationen, der letzte Nachkomme: Miljenko Jergovic."
Ein großer Wurf ist diese Familiengeschichte, die mehr als ein Jahrhundert gelebte Historie auf dem Balkan in Erinnerung ruft. Jergovic floh im Krieg 1993 aus seiner Heimatstadt Sarajevo und lebt seitdem in Zagreb. Ist er ein bosnischer oder ein kroatischer Schriftsteller? Den Autor interessieren diese nationalen Zuordnungen nicht. Er versteht sich als jugoslawischer Schriftsteller, "kann nichts anderes sein und will nichts anderes sein!". Als sein Land zerfiel, war er 24 Jahre alt, aber noch heute betont der Autor: "Meine kulturelle Identität ist zutiefst jugoslawisch; daran hat der Krieg nichts geändert."
Vorbild für seine Generation von Schriftstellern sind Autoren wie Robert Musil, Joseph Roth und Hermann Broch, die er nicht als Österreicher oder Deutsche versteht, sie sind vielmehr Literaten eines verschwundenen Reiches - und aus diesem Gefühl heraus fühlt er sich ihnen nahe und verwandt. Die unerhörte Familiengeschichte entfaltet ein düsteres, aber auch komisches, ein trauriges und lustiges, ein vielfarbiges Tableau einer untergegangenen Welt, die mit Erinnerungen und Katastrophen zum Bersten gefüllt ist.
Im Mittelpunkt des Romans steht die Familie von Karlo Stubler und seiner Frau Johanna, den Urgroßeltern des Autors. Karlo ist Eisenbahner, er spricht Deutsch, auch wenn er sich nicht als nationaler Deutscher fühlt, und lebt zunächst im rumänischen Banat. Nach dem Ersten Weltkrieg wird die Familie nach Dubrovnik versetzt, dort kommt es zu einem Streik der Eisenbahner, Karlo mischt sich ein und wird zur Strafe entlassen. Er lebt mit seiner Frau und den vier Kindern fortan in Sarajevo und wird von den Eisenbahner-Gewerkschaftern finanziell über Wasser gehalten. Die Generationen verzweigen sich, die Sprachen vervielfältigen sich, der Urenkel spricht kein Deutsch mehr: "Ich bin der Erste von was-weiß-ich-wie-vielen Generationen, der kein Deutsch spricht, alle vor mir konnten diese Sprache so gut sprechen wie ihre Muttersprache. Und zwar nicht nur die Deutschen in der Familie, auch die, die keine Deutschen waren. Deutsch war die Sprache ihrer, das heißt unserer Familienkultur. Diese Kultur hatte im engeren Sinne nichts mit Deutschland zu tun, es war eher eine österreichische oder österreichisch-ungarische Kultur." Deutsch als Lingua franca in der Mitte Europas, die anderen Muttersprachen waren Ungarisch, Italienisch, Rumänisch, Slowenisch, Serbisch-Kroatisch-Bosnisch. Alle sind irgendwie Ausländer, feste Identitäten sind eine Schimäre, sie gibt es nicht.
Politisch waren dieser Landstrich und seine Bewohner hin- und hergeschüttelt: osmanisches Reich, k.u.k. Habsburgermonarchie, serbisches Königreich, deutsche Besatzung ab 1941, das sozialistische Jugoslawien unter Tito und der Zerfall im Bürgerkrieg der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts. Ein Schlüsselpunkt der Geschehnisse für alle Generationen ist das Schicksal von Mladen, einem Sohn der Großeltern Olga und Franjo.
Um Mladen im beginnenden Zweiten Weltkrieg zu schützen, überredet ihn seine Mutter Olga, sich bei der SS zu verdingen und nicht zu den Partisanen zu gehen, die gegen die faschistische Besatzung und die Ustascha kämpfen, obwohl ihr Vater Karlo seine kommunistischen Nachbarn öfter vor Razzien der Nazis geschützt hat. Bei der SS glaubt Olga ihren Sohn in Sicherheit. Nur wenige Monate nach Mladens Eintritt in die SS wird er Opfer des Krieges, ein Grab gibt es nicht.
Keiner in der Familie ist politisch engagiert, man schickt sich, so gut es geht, in die Verhältnisse, man überlebt mit Witz und Anstand. Der Autor erzählt eine Geschichte nach der anderen, nie chronologisch, sondern immer ineinander verknäuelt, ein Erzählstrang gebiert den nächsten und spinnt sich fort. Jergovic verzichtet auf logische Kausalzusammenhänge, das Leben ist wirr, und die Geschichten sind ebenso wirr, mal gehören sie zur Familie, mal wird über Nachbarn oder Bekannte erzählt, über eine legendäre Hausbesitzerin und die wechselvolle Geschichte ihrer Mieter, oder er schildert die Spurensuche nach einer Cousine, die in Sofia als Ärztin gearbeitet haben soll und wie vom Erdboden verschluckt ist. Öfter verschwinden Menschen - als Soldaten im Krieg, abtransportiert in ein Konzentrationslager, oder sie werden begraben, obwohl sie noch am Leben sind.
Eine der kuriosesten Geschichten in der Geschichte ist die des zum Juden gemachten Joschka Herzl. Er ist Sohn eines begnadeten Musikerehepaares aus Zagreb, das nicht verwinden kann, dass ihr Sohn total unmusikalisch ist. Dieser Sohn ist eine so große Schmach für die Eltern, dass sie ihn zu einer Tante nach Graz geben. In Zagreb wird eine fiktive Beerdigung für den ungeliebten Sohn veranstaltet, und er ist fortan gestorben.
Joschka fühlt sich wohl bei der Tante, die ein behindertes Kind hat. Er erfindet einen Plan, wie er sich an seinen Eltern rächen kann. Finger sind für Pianisten der größte Schatz, und so entwickelt er eine ungeheure Fingerfertigkeit, indem er mit Streichhölzern virtuose Jonglier-Kunststücke vollbringt. Wie ein Pianist übt er bis zu achtzehn Stunden am Tag, um seine Meisterschaft zu vervollkommnen.
Die Umwelt kann er dann vergessen: "An einem Montag traten SS-Leute die Tür zum Haus von Rosalie Herzl ein und führten sie und ihre geistig zurückgebliebene Tochter unter schrillen Schreien und vielen Tränen ab. Joschka Herzl saß derweil am Schreibtisch und jonglierte zum ersten Mal mit acht brennenden Streichhölzern. Die Daumen auf das schwarze Furnier gestützt, die Handflächen unnatürlich verdreht, jonglierte er mit Minifackeln, so dass in den Fingerkuppen von jedem der acht Finger ein Genie saß, der Geist eines großen Pianisten, Artisten und Buddhisten, der die Kraft jedes neuen Stoßes exakt auf den Gewichtsverlust der Streichhölzer durch das Abbrennen abstimmte, bis sie sich nach dem dreiundzwanzigsten oder vierundzwanzigsten Hochschnippen gänzlich in Rauch und Asche aufgelöst hatten. Den SS-Leuten blieb der Mund offen stehen. Der Anblick verwirrte sie derart, dass sie Joschka Herzl daließen . . . Während er jonglierte, bekam er nichts mit, was um ihn herum vorging. Er zündete ein Streichholz an, schnippte es mit der Fingerkuppe in die Luft, wartete auf das brennende Ende, zündete daran das nächste an, warf es hoch, sah zu, wie es zurückkam und sich im Flug um dreihundertsechzig Grad drehte, und das acht Mal, und so hörte und sah er nicht, wie Tante Rosa und ihre Tochter von den Deutschen abgeführt wurden."
Von solchen Geschichten ist der Roman prall gefüllt; der Autor lässt den Leser eintauchen in vergessene, untergegangene Welten, er setzt Menschen kleine Denkmäler im Zauber eines großen Mosaiks von Lebenswirklichkeiten, die sich wie in einem Kaleidoskop verändern, verzerren, verzaubern. Die letzten zweihundert Seiten widmet Miljenko Jergovic seiner Mutter Javorka, die in Sarajevo im Jahre 2012 im Sterben liegt. Von ihr möchte er noch so viel wie möglich aus der eigenen Familiengeschichte erfahren, um es für die Nachwelt festhalten zu können. Als der Sohn sich zum letzten Mal von seiner Mutter verabschiedet, packt er seine Sachen und legt in der Reisetasche ganz obenauf ein dickes, schweres Buch (1724 Seiten), die "Parallelgeschichten" des ungarischen Schriftstellers Péter Nádas.
LERKE VON SAALFELD
Miljenko Jergovic: "Die unerhörte Geschichte meiner Familie". Roman.
Aus dem Kroatischen von Brigitte Döbert. Schöffling & Co., Frankfurt am Main 2017. 1141 S., geb., 34,- [Euro].
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»Das ist ein großes Buch, und so viele große Bücher liest man nicht, aber wenn man eines erwischt, dann weiß man das sofort.« Die Zeit »Weltliteratur. (...) Gut, dass es den endlos talentierten, mutigen und witzigen Miljenko Jergovic gibt.« NZZ »Ein aus Fakten und Fiktion gewobenes Panorama südosteuropäischer Geschichte. (...) Große, kluge Literatur, die souverän das kulturelle Erbe der Balkan-Region zitiert, travestiert, in Frage stellt.« Weser Kurier