Der große Roman über die Sehnsucht nach Unsterblichkeit
In der amerikanischen Kleinstadt Dark Harbor treffen im Supermarkt aufeinander: Johanna Mawet, Molekularbiologin aus Deutschland, die darum ringt, durch genetische Manipulationen den unsterblichen Menschen zu erschaffen, und Johann Wilhelm Ritter, 1776 geborener Romantiker und Physiker, der sich danach sehnt, endlich in Frieden sterben zu dürfen.
Vor dem Hintergrund der heutigen technologischen Möglichkeiten erzählt Thea Dorn von den alten Menschheitsfragen, dem Sinn von Leben und Tod. »Die Unglückseligen« ist ein nachdenklicher Wissenschaftsroman, eine anrührende Liebesgeschichte und großes Welttheater in der langen Tradition des Fauststoffs.
In der amerikanischen Kleinstadt Dark Harbor treffen im Supermarkt aufeinander: Johanna Mawet, Molekularbiologin aus Deutschland, die darum ringt, durch genetische Manipulationen den unsterblichen Menschen zu erschaffen, und Johann Wilhelm Ritter, 1776 geborener Romantiker und Physiker, der sich danach sehnt, endlich in Frieden sterben zu dürfen.
Vor dem Hintergrund der heutigen technologischen Möglichkeiten erzählt Thea Dorn von den alten Menschheitsfragen, dem Sinn von Leben und Tod. »Die Unglückseligen« ist ein nachdenklicher Wissenschaftsroman, eine anrührende Liebesgeschichte und großes Welttheater in der langen Tradition des Fauststoffs.
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Was hätte diese Geschichte, die sich ganz der Forschung nach Unsterblichkeit widmet, für ein Potential gehabt, seufzt Rezensent Burkhard Müller. Thea Dorn ist thematisch am Puls der Zeit, weiß eindrucksvoll zu erzählen und scheitert dennoch mit diesem Roman, fährt der Kritiker fort, dem das Buch schlicht zu lang ist. Denn die Autorin packt es mit derart vielen absurden Wendungen voll, dass sich im Verlauf der Lektüre viele der bis dahin relevanten Erträge als redundant erweisen, moniert Müller. Dass die Autorin den hier auftretenden 1776 geborenen Naturforscher Johann Ritter mit einem von ihr eigens zusammengebastelten goethezeitlichen Altfränkisch ausstattet und einige "slapstickhafte" Auftritte, etwa an der Flughafenkontrolle, hinlegen lässt, findet der Rezensent allenfalls sympathisch, und so legt er das Buch nach der Lektüre schließlich ohne größere Nachwehen zur Seite.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 10.03.2016Wie macht der alte Mann das nur?
Gottes Werk und Teufels Jamben: Thea Dorn sucht nach dem ewigen Leben in der DNA Johann Wilhelm Ritters
Am Anfang mag sie es nicht glauben, am Ende ist sie nur gar zu überzeugt von der wilden Geschichte jenes Fremden, der bei der zufälligen Begegnung mit ihr im Supermarkt schreiend davonrennt. Der seltsam alterslose Mann, der sich John nennt, sei eigentlich der deutsche Physiker Johann Wilhelm Ritter, vertraut er jener Genforscherin an, die ihn so erschreckte, ein Zeitgenosse der Frühromantiker, gar ein Freund von Arnim, Brentano und den Brüdern Schlegel.
Seinen Tod, der laut Wikipedia im Januar 1810 eingetreten sei, habe er damals bloß vorgetäuscht, und auch in den folgenden Jahrhunderten sei er irgendwie am Leben geblieben: Er kämpfte gegen Napoleon, kehrte zurück zu seiner nun neu verheirateten Frau, die sich bis dahin als Witwe fühlte, wurde von seiner Tochter ins Irrenhaus gesteckt und später bei einem Pfarrer exorzistisch traktiert. Er floh nach Jerusalem und lebte als Eremit in der Wüste, suchte die Enden der Welt im Polarmeer und im Himalaya auf, floh wiederum vor den Nationalsozialisten nach Amerika, kam mit der Army zurück nach Deutschland und ging neuerlich in die Vereinigten Staaten, wo er nacheinander als Gefährte älterer Damen lebte, die neben ihm weiter alterten, während er selbst auf wundersame Weise den Zeiten trotzte, bis hinein in unsere unmittelbare Gegenwart, in der die Geschichte spielt.
Es ist dieser letzte Punkt, der ihn für seine Zufallsbegegnung Johanna so attraktiv macht. Einst, so erzählt er, hatte er in der Schlacht einen Arm verloren, der ihm dann langsam nachwuchs, als wäre er ein Axolotl. Nun schneidet er sich zum Beweis in Gegenwart der jungen Forscherin einen Finger ab, der bald darauf nachwächst, und Johanna, die ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dienst der Erforschung jener Prozesse gestellt hat, die uns altern und sterben lassen, sieht ihre Chance gekommen: Wenn sie erkennt, was an diesem Mann so anders ist, kann sie, so hofft sie, auch andere Menschen vom Tod erlösen.
Es ist eine interessante Konstellation, die Thea Dorn, studierte Philosophin, Schriftstellerin und Moderatorin, für ihren jetzt erschienenen Roman "Die Unglückseligen" gewählt hat, und namentlich für das Licht, das sie damit auf den beinahe vergessenen Physiker Ritter wirft, wird man ihr dankbar sein. Tatsächlich ist Ritter eine der interessantesten Figuren unter den Wissenschaftlern der Romantik, auch eine der skurrilsten, und seine Schriften, allen voran die "Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers", sind in ihrer Verbindung von Empirie, etwa was die Erforschung der Elektrizität angeht, und Spekulation über das Wesen der Natur eine äußerst erhellende Lektüre. Tatsächlich scheint in diesem Buch, für das Ritter eine Nachlassfiktion als Form wählte, kurz bevor er tatsächlich - wohl als ein Opfer seiner Versuche - starb, einer der Ursprünge für Dorns Roman zu liegen: Was, wenn auch der offizielle Tod ein Täuschungsmanöver des Forschers wäre?
Scharf geschnitten gegen Ritters Forschungen aus der Zeit um 1800, deren Umstände und Ergebnisse immer wieder in Erinnerungspartikeln Ritters aufscheinen, wird im Roman der Erkenntnisdrang der Gegenwart - das Spektrum reicht von der molekularbiologischen Forschung bis zum Okkultimus, dessen Anhänger sich in Internetforen finden, und im Herzen dieser von Johanna betriebenen Entwicklung steht die Rekonstruktion von Ritters Versuchen in der mehr als zweihundert Jahre späteren Gegenwart. Denn Johanna hat über die Analyse von Ritters Genen tatsächlich eine hohe Zahl von Abweichungen gegenüber dem menschlichen Durchschnitt festgestellt, was sie mit seinem biblischen Alter in Verbindung bringt. Als sie dann auch noch recherchiert, dass andere Zeitgenossen Ritters, die ebenfalls den eigenen Körper mit Elektrizität traktierten, auch ein überdurchschnittlich langes Leben führten, will sie diesen Effekt am eigenen Körper herstellen.
Dorn lenkt das Augenmerk dabei auf die Regenerationsfähigkeit des Körpers und umschifft damit tatsächlich manche Klippe - Ritter etwa, der wenig Wert auf Körperhygiene legte und angeblich schon in jungen Jahren reihenweise Zähne verloren haben soll, kann so tatsächlich als attraktiver Beglücker älterer und jüngerer Damen erscheinen, die Zähne jedenfalls sind ihm offenbar nachgewachsen, und auch die Haarwurzeln tun ihre Pflicht. Auch von der Konstellation der beiden Forscher, die, jeder in seiner Zeit verhaftet und doch bereit, aufeinander zuzugehen, profitiert der Roman. Und sei es nur um des pointierten Dissens willen, etwa wenn es um Religion geht: "Wie wäre die geringste Naturerkenntnis bloß möglich gewesen, wenn Gott dem Menschen nicht gestattet, die Hülle forschend zu durchdringen?", fragt Ritter, und Johanna hält dagegen: "Quatsch! Jeden Mikrometer Erkenntnis mussten wir Menschen uns mühsam selbst erkämpfen. Gegen Gottes Willen."
Auch was die Sprache angeht, geht es der Autorin offensichtlich um Gegensätze. Ihre Figuren sprechen nicht nur Dialekte wie Bayerisch, Schwäbisch oder Schlesisch, namentlich die Sätze Ritters tragen Züge, die aus dem Deutsch der Zeit um 1800 entlehnt sind, ein gekürztes Kapitel aus Justinus Kerners "Die Seherin von Prevorst" wird teils fast wörtlich in den Text montiert, und über die Erlebnisse einer kleinen Fledermaus wird im Kinderbuchton berichtet.
Das ist nicht immer geglückt, zumal die Autorin, wie es scheint, keinem Wortspiel widerstehen kann: "Gib doch acht, wohin du trittst, du Schlegel", heißt es einmal, "Binden Sie diese Geschichte einem Bären auf" ein andermal. Am unangenehmsten ist das, wenn sich der Teufel, hier eine prometheische Gestalt und natürlich auf den "Faust"-Stoff verweisend, mit Einwürfen zu Wort meldet: "Huch! Verehrter Leser! Da sind Sie ja! Ich habe Sie gar nicht bemerkt, verzeihen Sie", heißt es zu Beginn, und auch der Protagonist Ritter bleibt nicht unangesprochen: "Ach, Ritter. Sehnst dich nach dem Tod und fürchtest den Teufel" - der dann auch gern in klappernden Jamben spricht, die man am Anfang als netten Verweis auf die Bühnentradition des Stoffes nimmt, dessen Reiz sich allerdings dann doch erschöpft, je gezwungener diese Sprache im Verlauf des Romans erscheint.
So geht das fort und fort, es liegt ein Schmunzeln über dem Buch, ein Augenzwinkern, ein Anstupsen des Lesers, der von dem eifrig Zusammenhänge stiftenden Roman auch permanent auf diese hingewiesen wird, aus Sorge, er könnte sie verpassen. Wer sich daran stört, das Räderwerk klappern zu hören, der ist hier falsch.
TILMAN SPRECKELSEN
Thea Dorn: "Die Unglückseligen". Roman.
Verlag Albrecht Knaus, München 2016. 560 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Gottes Werk und Teufels Jamben: Thea Dorn sucht nach dem ewigen Leben in der DNA Johann Wilhelm Ritters
Am Anfang mag sie es nicht glauben, am Ende ist sie nur gar zu überzeugt von der wilden Geschichte jenes Fremden, der bei der zufälligen Begegnung mit ihr im Supermarkt schreiend davonrennt. Der seltsam alterslose Mann, der sich John nennt, sei eigentlich der deutsche Physiker Johann Wilhelm Ritter, vertraut er jener Genforscherin an, die ihn so erschreckte, ein Zeitgenosse der Frühromantiker, gar ein Freund von Arnim, Brentano und den Brüdern Schlegel.
Seinen Tod, der laut Wikipedia im Januar 1810 eingetreten sei, habe er damals bloß vorgetäuscht, und auch in den folgenden Jahrhunderten sei er irgendwie am Leben geblieben: Er kämpfte gegen Napoleon, kehrte zurück zu seiner nun neu verheirateten Frau, die sich bis dahin als Witwe fühlte, wurde von seiner Tochter ins Irrenhaus gesteckt und später bei einem Pfarrer exorzistisch traktiert. Er floh nach Jerusalem und lebte als Eremit in der Wüste, suchte die Enden der Welt im Polarmeer und im Himalaya auf, floh wiederum vor den Nationalsozialisten nach Amerika, kam mit der Army zurück nach Deutschland und ging neuerlich in die Vereinigten Staaten, wo er nacheinander als Gefährte älterer Damen lebte, die neben ihm weiter alterten, während er selbst auf wundersame Weise den Zeiten trotzte, bis hinein in unsere unmittelbare Gegenwart, in der die Geschichte spielt.
Es ist dieser letzte Punkt, der ihn für seine Zufallsbegegnung Johanna so attraktiv macht. Einst, so erzählt er, hatte er in der Schlacht einen Arm verloren, der ihm dann langsam nachwuchs, als wäre er ein Axolotl. Nun schneidet er sich zum Beweis in Gegenwart der jungen Forscherin einen Finger ab, der bald darauf nachwächst, und Johanna, die ihre wissenschaftliche Arbeit in den Dienst der Erforschung jener Prozesse gestellt hat, die uns altern und sterben lassen, sieht ihre Chance gekommen: Wenn sie erkennt, was an diesem Mann so anders ist, kann sie, so hofft sie, auch andere Menschen vom Tod erlösen.
Es ist eine interessante Konstellation, die Thea Dorn, studierte Philosophin, Schriftstellerin und Moderatorin, für ihren jetzt erschienenen Roman "Die Unglückseligen" gewählt hat, und namentlich für das Licht, das sie damit auf den beinahe vergessenen Physiker Ritter wirft, wird man ihr dankbar sein. Tatsächlich ist Ritter eine der interessantesten Figuren unter den Wissenschaftlern der Romantik, auch eine der skurrilsten, und seine Schriften, allen voran die "Fragmente aus dem Nachlasse eines jungen Physikers", sind in ihrer Verbindung von Empirie, etwa was die Erforschung der Elektrizität angeht, und Spekulation über das Wesen der Natur eine äußerst erhellende Lektüre. Tatsächlich scheint in diesem Buch, für das Ritter eine Nachlassfiktion als Form wählte, kurz bevor er tatsächlich - wohl als ein Opfer seiner Versuche - starb, einer der Ursprünge für Dorns Roman zu liegen: Was, wenn auch der offizielle Tod ein Täuschungsmanöver des Forschers wäre?
Scharf geschnitten gegen Ritters Forschungen aus der Zeit um 1800, deren Umstände und Ergebnisse immer wieder in Erinnerungspartikeln Ritters aufscheinen, wird im Roman der Erkenntnisdrang der Gegenwart - das Spektrum reicht von der molekularbiologischen Forschung bis zum Okkultimus, dessen Anhänger sich in Internetforen finden, und im Herzen dieser von Johanna betriebenen Entwicklung steht die Rekonstruktion von Ritters Versuchen in der mehr als zweihundert Jahre späteren Gegenwart. Denn Johanna hat über die Analyse von Ritters Genen tatsächlich eine hohe Zahl von Abweichungen gegenüber dem menschlichen Durchschnitt festgestellt, was sie mit seinem biblischen Alter in Verbindung bringt. Als sie dann auch noch recherchiert, dass andere Zeitgenossen Ritters, die ebenfalls den eigenen Körper mit Elektrizität traktierten, auch ein überdurchschnittlich langes Leben führten, will sie diesen Effekt am eigenen Körper herstellen.
Dorn lenkt das Augenmerk dabei auf die Regenerationsfähigkeit des Körpers und umschifft damit tatsächlich manche Klippe - Ritter etwa, der wenig Wert auf Körperhygiene legte und angeblich schon in jungen Jahren reihenweise Zähne verloren haben soll, kann so tatsächlich als attraktiver Beglücker älterer und jüngerer Damen erscheinen, die Zähne jedenfalls sind ihm offenbar nachgewachsen, und auch die Haarwurzeln tun ihre Pflicht. Auch von der Konstellation der beiden Forscher, die, jeder in seiner Zeit verhaftet und doch bereit, aufeinander zuzugehen, profitiert der Roman. Und sei es nur um des pointierten Dissens willen, etwa wenn es um Religion geht: "Wie wäre die geringste Naturerkenntnis bloß möglich gewesen, wenn Gott dem Menschen nicht gestattet, die Hülle forschend zu durchdringen?", fragt Ritter, und Johanna hält dagegen: "Quatsch! Jeden Mikrometer Erkenntnis mussten wir Menschen uns mühsam selbst erkämpfen. Gegen Gottes Willen."
Auch was die Sprache angeht, geht es der Autorin offensichtlich um Gegensätze. Ihre Figuren sprechen nicht nur Dialekte wie Bayerisch, Schwäbisch oder Schlesisch, namentlich die Sätze Ritters tragen Züge, die aus dem Deutsch der Zeit um 1800 entlehnt sind, ein gekürztes Kapitel aus Justinus Kerners "Die Seherin von Prevorst" wird teils fast wörtlich in den Text montiert, und über die Erlebnisse einer kleinen Fledermaus wird im Kinderbuchton berichtet.
Das ist nicht immer geglückt, zumal die Autorin, wie es scheint, keinem Wortspiel widerstehen kann: "Gib doch acht, wohin du trittst, du Schlegel", heißt es einmal, "Binden Sie diese Geschichte einem Bären auf" ein andermal. Am unangenehmsten ist das, wenn sich der Teufel, hier eine prometheische Gestalt und natürlich auf den "Faust"-Stoff verweisend, mit Einwürfen zu Wort meldet: "Huch! Verehrter Leser! Da sind Sie ja! Ich habe Sie gar nicht bemerkt, verzeihen Sie", heißt es zu Beginn, und auch der Protagonist Ritter bleibt nicht unangesprochen: "Ach, Ritter. Sehnst dich nach dem Tod und fürchtest den Teufel" - der dann auch gern in klappernden Jamben spricht, die man am Anfang als netten Verweis auf die Bühnentradition des Stoffes nimmt, dessen Reiz sich allerdings dann doch erschöpft, je gezwungener diese Sprache im Verlauf des Romans erscheint.
So geht das fort und fort, es liegt ein Schmunzeln über dem Buch, ein Augenzwinkern, ein Anstupsen des Lesers, der von dem eifrig Zusammenhänge stiftenden Roman auch permanent auf diese hingewiesen wird, aus Sorge, er könnte sie verpassen. Wer sich daran stört, das Räderwerk klappern zu hören, der ist hier falsch.
TILMAN SPRECKELSEN
Thea Dorn: "Die Unglückseligen". Roman.
Verlag Albrecht Knaus, München 2016. 560 S., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.05.2016Doch eins, Canaille, sag ich dir
Thea Dorn erzählt von der Abschaffung der Sterblichkeit, von neuer Wissenschaft und altfränkischer Sprache
Die Unsterblichkeit rückt näher. Der Wissenschaft ist inzwischen prinzipiell bekannt, von welchen physiologischen Vorgängen Altern und Tod bestimmt werden: Sie hängen ab von der Anzahl möglicher Teilungen der Körperzellen, und diese Zahl wiederum von der Telomerase, einem Molekülkomplex am Ende der Gen-Ketten, der bei jedem Teilungsvorgang ein wenig mehr zerfranst, bis am Ende der Strang nicht mehr kopiert werden kann; dann ist es aus für Mensch und Tier. Mit anderen Worten, die Unsterblichkeit stellt im Zeitalter der genetischen Manipulationen nur noch ein technisches Problem dar und damit eigentlich schon überhaupt keines mehr.
Die Gesellschaft denkt nicht gern darüber nach, was das, wenn es so weit ist, wirklich bedeuten wird, denn die Konflikte um die knappen Ressourcen der Welt werden dann mörderisch sein. Und sieht dem dennoch mit einer beklommenen, einer uneingestandenen, aber desto angespannteren Hoffnung entgegen. Hier hätte die literarische Fantasie, die auf spielerische Weise den künftigen Ernst einübt, wahrhaft einiges zu tun.
So nimmt man das Buch von Thea Dorn sehr erwartungsvoll in die Hand. Angekündigt wird es mit den Worten: „Die Molekularbiologin Johanna Mawet verfolgt kein geringeres Ziel als die Abschaffung der Sterblichkeit.“ Wie wird Johanna das anstellen, was wird das heißen für sie, für ihre Kollegen und ihre Zeitgenossen, also für uns?
Johanna Mawet, eine Deutsche Anfang vierzig und völlig von ihrer Wissenschaft absorbiert, arbeitet am renommierten Institut von Dark Harbor in den USA an der Frage der Regenerationsfähigkeit von Lebewesen, indem sie die Gene von Zebrafischen in Mäuse einkreuzt; sie hat bereits den Methusalem Award für die langlebigste Maus aller Zeiten gewonnen. Da steht eines Tages blutüberströmt ein fremder Mann am Straßenrand und scheint dringend ihre Hilfe zu brauchen. Ohne darüber nachzudenken, macht sie sich zu seiner aufopferungsvollen Krankenschwester, obwohl er es ihr in seiner wilden Art nur widerstrebend dankt; sie, die sich nie ein Privatleben gönnte, hat endlich eine echte menschliche Aufgabe bekommen. Und, wie sich bald herausstellt, auch eine echte wissenschaftliche, denn bei diesem Johann Ritter alias John Knight heilen alle Wunden mit atemberaubender Geschwindigkeit; selbst ein abgetrennter Finger wächst wieder nach. Wer ist dieser Mensch? Die Genom-Analyse, die sie sich auf trickreich halblegale Weise beschafft, ergibt bestürzend anormale Werte. Es scheint am Ende wirklich zu stimmen, was Ritter von sich behauptet: dass er ein im Jahre 1776 geborener Naturforscher ist, seinen Tod 1810 nur vorgetäuscht hat und seither wie Ahasver, der ewige Jude, durch die Welt irrt, ohne sterben zu können.
Das scheint zunächst ein origineller Einfall zu sein. Aber es erweist sich als schwierig bis unmöglich, ihn in einen Roman zu verwandeln. Die Unsterblichkeit ist ein existenzieller Zustand (im Fall Ritters) oder ein wissenschaftliches Projekt (im Fall Johannas), aber keine Geschichte, die sich an- und fortspinnen ließe. Die beiden Hauptfiguren taumeln über die größten Strecken des Buchs verständnislos nebeneinander her (ehe sie, aber erst am Schluss, unvermeidlich doch ein Paar werden). Die Szenen, wo Johanna ihren aus der Zeit gefallenen Partner durch die Mühlen der modernen Welt wie etwa Flughafenkontrollen lotst, haben einen gewissen slapstickhaften Reiz. Doch darin erschöpfen sie sich auch. Es fehlt ihnen die Basis des Wahrscheinlichen: Hatte Ritter in dem runden Vierteljahrtausend, das er schon lebt, nicht ebenso viel Zeit wie wir, mit der Zeit Schritt zu halten – speziell wenn er über ein so hohes Potenzial der Verjüngung verfügt? Es gibt keinen Grund, warum er sich in unserer Welt nicht zurechtfinden sollte – außer möglicherweise der unendlichen Müdigkeit eines Menschen, der allzu viel und allzu oft dasselbe erlebt hat. Doch gerade von solcher Ermüdung ist dieser kindlich leidenschaftliche Mensch weit entfernt. Einmal, ein einziges Mal, blitzt die Frage auf, wie ein Mensch, für den alles unendliche Wiederholung ist, denn noch soll lieben können; sie wird nicht weiterverfolgt.
Thea Dorn gibt der Todlosigkeit Ritters die unzulängliche Form einer Differenz der Epochen. Sie soll sich in Ritters Sprache beglaubigen. Ritter pflegt, in direkter wie in erlebter Rede, einen Stil von pointierter Altertümlichkeit. Die Autorin hat ihm zu diesem Zweck auf eigene Hand ein goethezeitliches Altfränkisch gebastelt, welches beispielsweise so klingt: „Bekennen muss ich bass: Nicht will sich’s erschließen, welch krause Absicht du verfolgst. Doch eins, Canaille, sag ich dir: Wenn jener Kostbaren ein Leid geschieht – trägst Schuld daran alleinig du!“ Das hat durchaus seinen Charme, auch und gerade wo es ins Fettnäpfchen tritt oder (eher unfreiwillig) seinen zusammengestoppelten Charakter eingesteht. Dorn setzt „den Rande der Stadt“, weil sie glaubt, ein angehängtes E komme immer gut in alter Sprache, egal ob Dativ oder Akkusativ. Sie liebt das Verb „schelten“, weiß aber nicht, dass der Imperativ „schilt“ und nicht „schelt“ heißt. „Um Lebens oder Sterbens willen bitt aber um ein andres ich“: Da wirkt, halb unbewusst, das Urbild des Faust. Doch wenn die Autorin ihren Helden dann wieder von „Schmalzkringeln“ reden lässt, wo er Doughnuts meint, dürfte eher Donald Duck in der Version von Erika Fuchs Pate gestanden haben.
Nach langen, vergeblichen Versuchen – das Buch ist definitiv zu lang – gibt Johanna ihren molekularbiologischen Ansatz auf und lässt sich auf Ritters Methoden ein; wie viele andere Forscher seiner Zeit hatte er auf die neuen rätselhaften Phänomene von Magnetismus und Elektrizität gesetzt, um dem Leben auf die Spur zu kommen. Johanna erlaubt es Ritter, sie schmerzhaft mit Feldern und Strömen aller Art zu traktieren wie nur je einen galvanisierten Froschschenkel; aber das hat schon damals nicht weitergeführt. Schließlich glaubt sie, Ritters Geheimnis durchschaut zu haben: Einen Pakt mit dem Teufel hat er geschlossen! So was will sie auch und fängt vor einer thüringischen Fledermaushöhle an, Kreise in den Staub zu ziehen und Jenen zu beschwören, der auf die Namen Batarel, Beelzebub, Behemoth, Belial hört (um nur mal beim Buchstaben B zu bleiben), während zugleich eine über Johannas Kopf schwirrende kleine Fledermaus ihren Senf dazugibt und das Ganze, mit „Huuuui!“ und „Puh!“ und „Hurra!“ streckenweise in ein Kinderbuch von der aufgekratzten Sorte verwandelt.
Ritter empfindet besagtes Schauspiel als peinlich, denn tatsächlich ist er ja mitnichten der Teufelsbündler, für den Johanna ihn hält, sondern vielmehr . . . Das soll nun doch nicht verraten werden, obwohl es den absurdesten der vielen Haken darstellt, die das Buch schlägt, um in immer kürzeren Abständen Ertrag und Relevanz dessen, was bisher vorfiel, schlechterdings auszulöschen. Wenn die Unsterblichkeit aus einem Teufelspakt oder Schlimmerem erwächst, warum zuvor so viel Erzählenergie mit Methusalem-Mäusen vertun? Es ist schade, was zuletzt aus diesem Buch geworden ist. Thea Dorn hatte das richtige Gefühl für das heiße Eisen, und sie weiß, wie man wirkungsvoll erzählt. Aber sie hat die Probleme unterschätzt, die sich ergeben, wenn man diesem Eisen eine Story schmieden will.
BURKHARD MÜLLER
Die Heldin Johanna hat bereits
den Methusalem Award für die
langlebigste Maus gewonnen
Am Ende greift Johanna zurück
auf die rätselhaften Phänomene
von Magnetismus und Elektrizität
Eine Molekularbiologin und ihr Ritter sind die Helden im neuen Roman von Thea Dorn um genetische Manipulationen zur Unsterblichkeit.
Foto: Karin Rocholl/Randomhouse
Thea Dorn: Die Unglückseligen. Roman. Knaus
Verlag, München 2016,
555 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Thea Dorn erzählt von der Abschaffung der Sterblichkeit, von neuer Wissenschaft und altfränkischer Sprache
Die Unsterblichkeit rückt näher. Der Wissenschaft ist inzwischen prinzipiell bekannt, von welchen physiologischen Vorgängen Altern und Tod bestimmt werden: Sie hängen ab von der Anzahl möglicher Teilungen der Körperzellen, und diese Zahl wiederum von der Telomerase, einem Molekülkomplex am Ende der Gen-Ketten, der bei jedem Teilungsvorgang ein wenig mehr zerfranst, bis am Ende der Strang nicht mehr kopiert werden kann; dann ist es aus für Mensch und Tier. Mit anderen Worten, die Unsterblichkeit stellt im Zeitalter der genetischen Manipulationen nur noch ein technisches Problem dar und damit eigentlich schon überhaupt keines mehr.
Die Gesellschaft denkt nicht gern darüber nach, was das, wenn es so weit ist, wirklich bedeuten wird, denn die Konflikte um die knappen Ressourcen der Welt werden dann mörderisch sein. Und sieht dem dennoch mit einer beklommenen, einer uneingestandenen, aber desto angespannteren Hoffnung entgegen. Hier hätte die literarische Fantasie, die auf spielerische Weise den künftigen Ernst einübt, wahrhaft einiges zu tun.
So nimmt man das Buch von Thea Dorn sehr erwartungsvoll in die Hand. Angekündigt wird es mit den Worten: „Die Molekularbiologin Johanna Mawet verfolgt kein geringeres Ziel als die Abschaffung der Sterblichkeit.“ Wie wird Johanna das anstellen, was wird das heißen für sie, für ihre Kollegen und ihre Zeitgenossen, also für uns?
Johanna Mawet, eine Deutsche Anfang vierzig und völlig von ihrer Wissenschaft absorbiert, arbeitet am renommierten Institut von Dark Harbor in den USA an der Frage der Regenerationsfähigkeit von Lebewesen, indem sie die Gene von Zebrafischen in Mäuse einkreuzt; sie hat bereits den Methusalem Award für die langlebigste Maus aller Zeiten gewonnen. Da steht eines Tages blutüberströmt ein fremder Mann am Straßenrand und scheint dringend ihre Hilfe zu brauchen. Ohne darüber nachzudenken, macht sie sich zu seiner aufopferungsvollen Krankenschwester, obwohl er es ihr in seiner wilden Art nur widerstrebend dankt; sie, die sich nie ein Privatleben gönnte, hat endlich eine echte menschliche Aufgabe bekommen. Und, wie sich bald herausstellt, auch eine echte wissenschaftliche, denn bei diesem Johann Ritter alias John Knight heilen alle Wunden mit atemberaubender Geschwindigkeit; selbst ein abgetrennter Finger wächst wieder nach. Wer ist dieser Mensch? Die Genom-Analyse, die sie sich auf trickreich halblegale Weise beschafft, ergibt bestürzend anormale Werte. Es scheint am Ende wirklich zu stimmen, was Ritter von sich behauptet: dass er ein im Jahre 1776 geborener Naturforscher ist, seinen Tod 1810 nur vorgetäuscht hat und seither wie Ahasver, der ewige Jude, durch die Welt irrt, ohne sterben zu können.
Das scheint zunächst ein origineller Einfall zu sein. Aber es erweist sich als schwierig bis unmöglich, ihn in einen Roman zu verwandeln. Die Unsterblichkeit ist ein existenzieller Zustand (im Fall Ritters) oder ein wissenschaftliches Projekt (im Fall Johannas), aber keine Geschichte, die sich an- und fortspinnen ließe. Die beiden Hauptfiguren taumeln über die größten Strecken des Buchs verständnislos nebeneinander her (ehe sie, aber erst am Schluss, unvermeidlich doch ein Paar werden). Die Szenen, wo Johanna ihren aus der Zeit gefallenen Partner durch die Mühlen der modernen Welt wie etwa Flughafenkontrollen lotst, haben einen gewissen slapstickhaften Reiz. Doch darin erschöpfen sie sich auch. Es fehlt ihnen die Basis des Wahrscheinlichen: Hatte Ritter in dem runden Vierteljahrtausend, das er schon lebt, nicht ebenso viel Zeit wie wir, mit der Zeit Schritt zu halten – speziell wenn er über ein so hohes Potenzial der Verjüngung verfügt? Es gibt keinen Grund, warum er sich in unserer Welt nicht zurechtfinden sollte – außer möglicherweise der unendlichen Müdigkeit eines Menschen, der allzu viel und allzu oft dasselbe erlebt hat. Doch gerade von solcher Ermüdung ist dieser kindlich leidenschaftliche Mensch weit entfernt. Einmal, ein einziges Mal, blitzt die Frage auf, wie ein Mensch, für den alles unendliche Wiederholung ist, denn noch soll lieben können; sie wird nicht weiterverfolgt.
Thea Dorn gibt der Todlosigkeit Ritters die unzulängliche Form einer Differenz der Epochen. Sie soll sich in Ritters Sprache beglaubigen. Ritter pflegt, in direkter wie in erlebter Rede, einen Stil von pointierter Altertümlichkeit. Die Autorin hat ihm zu diesem Zweck auf eigene Hand ein goethezeitliches Altfränkisch gebastelt, welches beispielsweise so klingt: „Bekennen muss ich bass: Nicht will sich’s erschließen, welch krause Absicht du verfolgst. Doch eins, Canaille, sag ich dir: Wenn jener Kostbaren ein Leid geschieht – trägst Schuld daran alleinig du!“ Das hat durchaus seinen Charme, auch und gerade wo es ins Fettnäpfchen tritt oder (eher unfreiwillig) seinen zusammengestoppelten Charakter eingesteht. Dorn setzt „den Rande der Stadt“, weil sie glaubt, ein angehängtes E komme immer gut in alter Sprache, egal ob Dativ oder Akkusativ. Sie liebt das Verb „schelten“, weiß aber nicht, dass der Imperativ „schilt“ und nicht „schelt“ heißt. „Um Lebens oder Sterbens willen bitt aber um ein andres ich“: Da wirkt, halb unbewusst, das Urbild des Faust. Doch wenn die Autorin ihren Helden dann wieder von „Schmalzkringeln“ reden lässt, wo er Doughnuts meint, dürfte eher Donald Duck in der Version von Erika Fuchs Pate gestanden haben.
Nach langen, vergeblichen Versuchen – das Buch ist definitiv zu lang – gibt Johanna ihren molekularbiologischen Ansatz auf und lässt sich auf Ritters Methoden ein; wie viele andere Forscher seiner Zeit hatte er auf die neuen rätselhaften Phänomene von Magnetismus und Elektrizität gesetzt, um dem Leben auf die Spur zu kommen. Johanna erlaubt es Ritter, sie schmerzhaft mit Feldern und Strömen aller Art zu traktieren wie nur je einen galvanisierten Froschschenkel; aber das hat schon damals nicht weitergeführt. Schließlich glaubt sie, Ritters Geheimnis durchschaut zu haben: Einen Pakt mit dem Teufel hat er geschlossen! So was will sie auch und fängt vor einer thüringischen Fledermaushöhle an, Kreise in den Staub zu ziehen und Jenen zu beschwören, der auf die Namen Batarel, Beelzebub, Behemoth, Belial hört (um nur mal beim Buchstaben B zu bleiben), während zugleich eine über Johannas Kopf schwirrende kleine Fledermaus ihren Senf dazugibt und das Ganze, mit „Huuuui!“ und „Puh!“ und „Hurra!“ streckenweise in ein Kinderbuch von der aufgekratzten Sorte verwandelt.
Ritter empfindet besagtes Schauspiel als peinlich, denn tatsächlich ist er ja mitnichten der Teufelsbündler, für den Johanna ihn hält, sondern vielmehr . . . Das soll nun doch nicht verraten werden, obwohl es den absurdesten der vielen Haken darstellt, die das Buch schlägt, um in immer kürzeren Abständen Ertrag und Relevanz dessen, was bisher vorfiel, schlechterdings auszulöschen. Wenn die Unsterblichkeit aus einem Teufelspakt oder Schlimmerem erwächst, warum zuvor so viel Erzählenergie mit Methusalem-Mäusen vertun? Es ist schade, was zuletzt aus diesem Buch geworden ist. Thea Dorn hatte das richtige Gefühl für das heiße Eisen, und sie weiß, wie man wirkungsvoll erzählt. Aber sie hat die Probleme unterschätzt, die sich ergeben, wenn man diesem Eisen eine Story schmieden will.
BURKHARD MÜLLER
Die Heldin Johanna hat bereits
den Methusalem Award für die
langlebigste Maus gewonnen
Am Ende greift Johanna zurück
auf die rätselhaften Phänomene
von Magnetismus und Elektrizität
Eine Molekularbiologin und ihr Ritter sind die Helden im neuen Roman von Thea Dorn um genetische Manipulationen zur Unsterblichkeit.
Foto: Karin Rocholl/Randomhouse
Thea Dorn: Die Unglückseligen. Roman. Knaus
Verlag, München 2016,
555 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 19,99 Euro.
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»Ein Paukenschlag in der deutschen Gegenwartsliteratur. « ARD "Druckfrisch", Denis Scheck