Frankfurt, die Universität, 1988, 1989. Damals noch ein ganz anderes Studium, Magister, eigentlich völlige Freiheit in allem. Das Betätigungsfeld erstreckt sich vom Biertrinken im „Doctor Flotte“ bis hin zu Seminaren über Wahrheitstheorie, die den Studenten der Philosophie schon innerhalb eines Semesters zu Arztbesuchen treiben. Es droht ein völliger Verlust der eigenen Person, und auch die Zeiten geraten durcheinander: Auf der Suche nach einer Studentenbude stößt der Protagonist auf ein Erotikmagazin, in dem er eine alte Liebe aus dem Jahr 1983 wiederzuerkennen glaubt. Aus seiner Matratzengruft, in der er sich verzweifelt-lethargisch einrichtet, rettet ihn ausgerechnet ein Pflegefall: Gretel Adorno, die uralte Witwe des Philosophen, bei der er durch seinen Studentenjob Dienst tut. Er lässt sich von ihr zerkratzen und beschimpfen, aber eigentlich versteht er sich mit ihr besser als mit seiner ganzen Umwelt.
Die Universität ist ein Roman über die Möglichkeit, überhaupt von so etwas wie „Ich“ oder „Person“ zu sprechen. Es ist jener Zustand Anfang zwanzig, in dem wir zwar noch im Rollenspiel der Jugend verhaftet sind, zugleich aber längst begriffen haben, dass es irgendwo anders hingehen muss.
Die Universität ist ein Roman über die Möglichkeit, überhaupt von so etwas wie „Ich“ oder „Person“ zu sprechen. Es ist jener Zustand Anfang zwanzig, in dem wir zwar noch im Rollenspiel der Jugend verhaftet sind, zugleich aber längst begriffen haben, dass es irgendwo anders hingehen muss.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, F, L, I ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.02.2018Bin ich denn kein Subjekt?
Ortsumgehung: Andreas Maier besucht die Universität
Ein junger Student sitzt im Seminar. Der Professor doziert, die Studenten lauschen ihm, manche so intensiv, dass sie ihn später imitieren werden. Und dann gibt es einen, der nicht den Professor, sondern die Beobachter beobachtet. Er wiederum fällt dem jungen Studenten auf. Und irgendwann merkt er, dass er selbst dabei beobachtet wird, wie er den Beobachter der Beobachter des Professors beobachtet. "War ich die ganze Zeit Objekt?", fragt er sich, "und ich dachte doch, ich sei Subjekt!"
Kein Zufall, dass sich die Szene in einem Philosophieseminar abspielt. Die Überlegung des Studenten über seinen Status findet sich, immer wieder neu gewendet, auf beinahe jeder Seite des Romans "Die Universität". Andreas Maier setzt damit seinen Zyklus "Ortsumgehung" fort, der eine Kindheit und Jugend in der Wetterau und nun auch in Frankfurt beschreibt. Der Protagonist Andreas ist 1967 geboren, der Rückblick für die einzelnen Bände des Zyklus - elf sollen es werden, "Die Universität" ist der sechste - geschieht vom Jahr 2009 aus, als der Erzähler in Bad Nauheim sitzt, im Zimmer seines mittlerweile verstorbenen Onkels "J.", den die Leser auch aus anderen Veröffentlichungen Andreas Maiers kennen.
Was erzählt wird, hat offenbar einiges mit der Biographie Maiers zu tun, wie viel genau, ist naturgemäß unklar, aber Klarheit darüber, was tatsächlich geschah und was nicht, ist auch für die Biographie der Romanfigur nicht zu haben. Im Gegenteil: Der Erzähler verwischt die Grenzen mit der gleichen Bereitwilligkeit, mit der er registriert, wie seine Figur, die er "Ich" nennt, die eigene Identität in Frage stellt und überall Doppelgänger findet, Menschen, in denen er sich selbst gespiegelt sieht - den Beobachter, den Zögernden, den Schweiger, den verzweifelt einer verlorenen Geliebten Hinterherlaufenden, der zugleich aber dieses Verhalten ausdrücklich als "künstlich" einstuft.
Kein Wunder, dass dieser Student gerade mit einer "Hausarbeit über Identität" befasst ist, dass er sich mit der philosophischen Frage auseinandersetzt, ob Identität nicht eher eine Illusion ist. Als äußerliche Reaktion auf diese fortgesetzte Gedankenarbeit bildet seine Haut Pusteln in solcher Größe und Menge, dass er, wie sein späteres Ich schreibt, anschwillt wie ein Michelinmännchen und sich so buchstäblich nicht mehr ähnlich sieht. Er habe eine Allergie, teilt ihm die Ärztin mit, die er wegen seiner Haut aufsucht, und zwar reagiere er allergisch auf sich selbst.
Ist das ein Trost? Wenigstens ein Beweis für die Existenz einer Identität, schließlich könnte er ja sonst nicht darauf reagieren? "Ich, das ist das Mittelteil des Wortes Nichts", der Satz steht als Motto über dem Roman, und der Gedanke findet sich schon in Andreas Maiers Poetikvorlesung, gehalten im Sommersemester 2006 an eben jener Universität, die der Andreas des 1988 einsetzenden Romans gerade zu besuchen beginnt.
"Ich selbst hatte mich damit eingerichtet, nur noch aus mehr oder minder unverbundenen, nebeneinander existierenden Personen zu bestehen, die ich untereinander nicht länger in Beziehung setzte", resümiert der Student am Ende des Romans seine Situation. Allerdings ist dieser Befund nicht auf den Protagonisten beschränkt, er nimmt auch an seiner Umgebung wahr, wie problematisch das Konzept der Identität ist und wie fließend die Grenzen zwischen Ich und Welt sind. Sei es, dass ihm seine Kommilitonen lediglich als Abbilder erscheinen, die aus den Kopfklappen ihrer Beobachter wie Blechvögelchen hervorkommen - nicht nur in dieser Passage trifft man auf eine, wie es scheint, von E. T. A. Hoffmann entlehnte Weltsicht und -beschreibung. Oder dass die Greisin, die der Student im Nebenjob pflegt und bei der es sich um Gretel Adorno, die Witwe des Philosophen, handeln soll, als eine "sich in Auflösung befindliche Frau" porträtiert wird, eine Einschätzung, die sich dann als zumindest verfrüht herausstellen wird. Oder dass der Student meint, in einem zufällig gefundenen Erotikheft Fotos einer weiteren verlorenen Jugendliebe zu finden, bekannt aus einem früheren Teil der "Ortsumgehung", ungreifbar auch diese vermutete Identität - der Student jedenfalls reißt die betreffenden Seiten heraus und vernichtet sie.
Begleitet wird all das von einer Stimme, die der Student hört und die jede seiner Handlungen kommentiert - "mein innerer Meta-Ebenen-Kuckuck", so nennt er das, Kuckuck deshalb, weil diese Stimme ein Nest besetzt, das ihr nicht zukommt. Was den Studenten quält, registriert derjenige, der als Autorenfigur zwanzig Jahre später über ihn schreibt, mit kühler Distanz und noch kühler derjenige, der dann weitere neun Jahre später dieses Buch veröffentlicht. Ihm gelingt, das auszudrücken, woran der Student bei jedem Anlauf scheitert, und so erwächst aus dem Zusammenklang dieser Stimmen ein auf wundersame Weise geglückter Roman.
TILMAN SPRECKELSEN
Andreas Maier: "Die Universität". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 147 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ortsumgehung: Andreas Maier besucht die Universität
Ein junger Student sitzt im Seminar. Der Professor doziert, die Studenten lauschen ihm, manche so intensiv, dass sie ihn später imitieren werden. Und dann gibt es einen, der nicht den Professor, sondern die Beobachter beobachtet. Er wiederum fällt dem jungen Studenten auf. Und irgendwann merkt er, dass er selbst dabei beobachtet wird, wie er den Beobachter der Beobachter des Professors beobachtet. "War ich die ganze Zeit Objekt?", fragt er sich, "und ich dachte doch, ich sei Subjekt!"
Kein Zufall, dass sich die Szene in einem Philosophieseminar abspielt. Die Überlegung des Studenten über seinen Status findet sich, immer wieder neu gewendet, auf beinahe jeder Seite des Romans "Die Universität". Andreas Maier setzt damit seinen Zyklus "Ortsumgehung" fort, der eine Kindheit und Jugend in der Wetterau und nun auch in Frankfurt beschreibt. Der Protagonist Andreas ist 1967 geboren, der Rückblick für die einzelnen Bände des Zyklus - elf sollen es werden, "Die Universität" ist der sechste - geschieht vom Jahr 2009 aus, als der Erzähler in Bad Nauheim sitzt, im Zimmer seines mittlerweile verstorbenen Onkels "J.", den die Leser auch aus anderen Veröffentlichungen Andreas Maiers kennen.
Was erzählt wird, hat offenbar einiges mit der Biographie Maiers zu tun, wie viel genau, ist naturgemäß unklar, aber Klarheit darüber, was tatsächlich geschah und was nicht, ist auch für die Biographie der Romanfigur nicht zu haben. Im Gegenteil: Der Erzähler verwischt die Grenzen mit der gleichen Bereitwilligkeit, mit der er registriert, wie seine Figur, die er "Ich" nennt, die eigene Identität in Frage stellt und überall Doppelgänger findet, Menschen, in denen er sich selbst gespiegelt sieht - den Beobachter, den Zögernden, den Schweiger, den verzweifelt einer verlorenen Geliebten Hinterherlaufenden, der zugleich aber dieses Verhalten ausdrücklich als "künstlich" einstuft.
Kein Wunder, dass dieser Student gerade mit einer "Hausarbeit über Identität" befasst ist, dass er sich mit der philosophischen Frage auseinandersetzt, ob Identität nicht eher eine Illusion ist. Als äußerliche Reaktion auf diese fortgesetzte Gedankenarbeit bildet seine Haut Pusteln in solcher Größe und Menge, dass er, wie sein späteres Ich schreibt, anschwillt wie ein Michelinmännchen und sich so buchstäblich nicht mehr ähnlich sieht. Er habe eine Allergie, teilt ihm die Ärztin mit, die er wegen seiner Haut aufsucht, und zwar reagiere er allergisch auf sich selbst.
Ist das ein Trost? Wenigstens ein Beweis für die Existenz einer Identität, schließlich könnte er ja sonst nicht darauf reagieren? "Ich, das ist das Mittelteil des Wortes Nichts", der Satz steht als Motto über dem Roman, und der Gedanke findet sich schon in Andreas Maiers Poetikvorlesung, gehalten im Sommersemester 2006 an eben jener Universität, die der Andreas des 1988 einsetzenden Romans gerade zu besuchen beginnt.
"Ich selbst hatte mich damit eingerichtet, nur noch aus mehr oder minder unverbundenen, nebeneinander existierenden Personen zu bestehen, die ich untereinander nicht länger in Beziehung setzte", resümiert der Student am Ende des Romans seine Situation. Allerdings ist dieser Befund nicht auf den Protagonisten beschränkt, er nimmt auch an seiner Umgebung wahr, wie problematisch das Konzept der Identität ist und wie fließend die Grenzen zwischen Ich und Welt sind. Sei es, dass ihm seine Kommilitonen lediglich als Abbilder erscheinen, die aus den Kopfklappen ihrer Beobachter wie Blechvögelchen hervorkommen - nicht nur in dieser Passage trifft man auf eine, wie es scheint, von E. T. A. Hoffmann entlehnte Weltsicht und -beschreibung. Oder dass die Greisin, die der Student im Nebenjob pflegt und bei der es sich um Gretel Adorno, die Witwe des Philosophen, handeln soll, als eine "sich in Auflösung befindliche Frau" porträtiert wird, eine Einschätzung, die sich dann als zumindest verfrüht herausstellen wird. Oder dass der Student meint, in einem zufällig gefundenen Erotikheft Fotos einer weiteren verlorenen Jugendliebe zu finden, bekannt aus einem früheren Teil der "Ortsumgehung", ungreifbar auch diese vermutete Identität - der Student jedenfalls reißt die betreffenden Seiten heraus und vernichtet sie.
Begleitet wird all das von einer Stimme, die der Student hört und die jede seiner Handlungen kommentiert - "mein innerer Meta-Ebenen-Kuckuck", so nennt er das, Kuckuck deshalb, weil diese Stimme ein Nest besetzt, das ihr nicht zukommt. Was den Studenten quält, registriert derjenige, der als Autorenfigur zwanzig Jahre später über ihn schreibt, mit kühler Distanz und noch kühler derjenige, der dann weitere neun Jahre später dieses Buch veröffentlicht. Ihm gelingt, das auszudrücken, woran der Student bei jedem Anlauf scheitert, und so erwächst aus dem Zusammenklang dieser Stimmen ein auf wundersame Weise geglückter Roman.
TILMAN SPRECKELSEN
Andreas Maier: "Die Universität". Roman.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2018. 147 S., geb., 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur WELT-Rezension
Am Rande seiner Begegnung mit Wetterau-Autor Andreas Maier in der Berliner "Paris Bar" verliert Rezensent Philipp Haibach auch einige lobende Worte über dessen neuen Band "Die Universität". Als "nacktes Porträt des Künstlers als junger Mann" würdigt er den sechsten Teil der autobiografisch geprägten Saga, die den Kritiker hier ins Frankfurt am Main der Achtziger führt, als Romanheld Andreas Philosophie, Musikwissenschaften und Germanistik studierte. Und doch liest Haibach hier keineswegs erwartbare Szenen aus dem Studentenleben: Vielmehr lässt er sich von Maier in "analytische Betrachtungen" zum eigenen Ich mitnehmen, erlebt, wie sich jener als Aushilfe im Pflegeheim um Gretel Adorno kümmern muss und staunt, wie knapp sich der Autor - in erfreulichem Gegensatz zu Karl Ove Knausgard - bei seinen Selbstbespiegelungen zu fassen vermag.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
»Es ist berückend, dass mit 'Werk' hier unaufdringlich-schmale Bücher gemeint sind, von denen hoffentlich noch viele weitere erscheinen werden.« Hanna Engelmeier taz. die tageszeitung 20180324