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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Teilnehmende Beobachtung von Glück und Unglück ostdeutscher Identitätsfindung: Juliane Stückrad betreibt Feldforschung, die sich nicht bloß den Klagen widmet, sondern auch Erfolge beschreibt.
Was sie nicht schreiben will, macht Juliane Stückrad ziemlich deutlich: keine Rettungsethnografie. Nicht jene Sorte von mitfühlender Forschungsliteratur, die so viele Äußerungen und Artefakte einer untergehenden Kultur wie möglich dokumentiert und mit dem melancholischen Stolz einer Sterbebegleiterin vor dem Vergessen bewahrt. Nein, nicht für das Absterbende, Auslaufende interessiert sich Stückrad, sondern für das Schwelende, Schwebende. Was sie betreibt, ist engagierte Ethnologie. Ihr forschender Blick sucht stets nach Kraftquellen und lässt sich von einzelnen Zeugnissen der Lethargie nicht eintrüben. Wer sie vor einigen Jahren als Vorsitzende des kleinen Freundeskreises im Eisenacher Theater kennenlernte, der spürte gleich ihre besondere Beobachtungsgabe. Etwas unverstellt Direktes zeichnete ihre Einschätzungen und Analysen aus. Das Theater, so spürte man schnell, war für sie mehr als nur eine Unterhaltungsstätte. Sie nahm es als Ort der kommunalen Selbstverständigung ernst und sprach bei der Diskussion über Auslastungszahlen und Sparmaßnahmen immer auch über Glück und Unglück der ostdeutschen Identitätssuche. Ihren wohlwollenden, dem Gelingenden zugewandten Blick hat Stückrad sich trotz mancher biographischer Hindernisse, die sie zu überwinden hatte, bewahrt.
Jetzt hat sie ein Buch geschrieben, das sich dem Mut beziehungsweise Unmut in ostdeutschen Breitengraden widmet. Einige Abschnitte bauen auf Stückrads Promotionsschrift auf, die sie 2010 nach einem Studium der Kunstgeschichte und Ethnologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena einreichte. Andere Kapitel sind neu hinzugekommen. Der Ton ist persönlich gehalten und begeht doch nicht den Fehler, das massentaugliche Verfahren französischer Machart, etwa das eines Didier Eribon, imitieren zu wollen.
Ursprünglich aufgebrochen, um in Peru und Bolivien Feldforschung zu betreiben, reift bei der jungen Ethnologin Anfang des Jahrtausends das Gefühl, dass "nicht Südamerika das geeignete Forschungsfeld für mich bereithielt, sondern Südbrandenburg". Erfüllt von diesem lebensentscheidenden Erweckungsmoment, beginnt sie bei archäologischen Ausgrabungen in Bad Liebenwerda auszuhelfen. Zusammen mit ihrem Freund zieht sie in ein kleines Dorf und beschließt, "ethnography at home" zu betreiben.
Im Gespräch mit Grabungshelfern und anderen Beschäftigten stößt sie schon bald auf eine mentalitätsspezifische Eigenart der Region: das leidenschaftliche Schimpfen. Unzählige Ausdrucksvarianten des Unmuts begegnen ihr, ausgelöst oft durch die Erinnerung an frühere Zeiten. Ohne die Beschreibungen ihrer Gesprächspartner als Verklärung abzutun, gibt Stückrad Anekdoten wider, die vom oft beschworenen Gemeinsinn in der DDR handeln oder von kleinen, aber eben wertgeschätzten Handwerkstätigkeiten wie dem "Harzen" erzählen.
Während die Wiedervereinigung in der bundesrepublikanischen Mehrheitsmeinung vornehmlich positiv bewertet wird, bedeutet sie für Stückrads Gesprächspartner vor allem den Verlust des Arbeitsplatzes, den Abbau von Infrastruktur und die Abwanderung ihrer Kinder und Enkel. Die glückliche "Wende" war hier für nicht wenige ein schmerzhafter Wandel, der mit Verletzungen und Unterordnungszwängen einherging. Darauf fußt die aufkommende "Kultur des Unmuts". Wobei manches auch tiefer liegt, so Stückrad, das ostentative Nörgeln über die Zustände etwa auch als Strategie gelesen werden kann, sich selbst nicht unnötig in den Vordergrund zu stellen. Das Bild vom "Jammerossi" wäre somit ein westdeutsches Missverständnis, das auf fehlender Kenntnis früherer kollektivistischer Prägung beruht.
Solche Thesen werden in Stückrads Buch nicht fett unterstrichen, sondern eher en passant mitgeteilt. Wie ihr Text überhaupt auf angenehm unprätentiöse Weise heraussticht aus der oft marktschreierisch aufgemachten Literatur zum Thema ostdeutscher Identität. Das liegt an der Bodenhaftung der Autorin, die sich ihr Bild als vor Ort Forschende im Rahmen von sogenannten "Wahrnehmungsspaziergängen" und kollegialen Pausengesprächen macht. Und darüber hinaus als teilnehmende Beobachterin auch eigene Erfahrungen miteinfließen lässt - also nicht nur auf einer Hartz-IV-Demonstration Feldforschung betreibt, sondern ein paar Jahre später selbst in der Schlange auf dem Arbeitsamt steht und erfährt, was es heißt, "vermittelt" zu werden.
Stückrads dramaturgisch klug konzipierter Forschungsbericht offenbart, dass sich viele Ostdeutsche auch dreißig Jahre nach der Wiedervereinigung in der bundesrepublikanischen Leistungsgesellschaft noch immer als Mängelwesen empfinden; dass sie auf die Erfahrung der Demütigung oftmals mit einer verstärkten Neigung zum Demütigen reagieren; dass sie umgetrieben werden von Gefühlen des Verlustes, der Resignation, des immer nur Wenigerwerdens - "wer weiß, wie lange es das noch gibt", ist ein Satz, der Stückrad im Feld immer wieder begegnet.
Aber ihr Buch handelt eben nicht nur vom Unmut, sondern auch vom Mut. Und so widmet sich der zweite Teil in ausgewogener Länge den oft verschwiegenen Geschichten von ostdeutschen Erfolgen und Aufbrüchen. Erzählt etwa von einem Unternehmer, der nach der Wende eine eigene Tiefkühlfirma aufgebaut, nebenbei den Hof renoviert und seine Kinder großgezogen hat - "wir waren einfach Macher", lautet sein Standardsatz. Stückrad spricht in einem vogtländischen Dorf mit dem stolzen Vorsitzenden eines Schalmeienorchesters, trifft bei ihren Besuchen evangelischer Gemeinden in Sachsen auf überzeugte Gläubige, die durch ihren Einsatz für den Erhalt der lokalen Kirchenbauten ein Bekenntnis zur Dorfgemeinschaft ablegen. Staunend berichtet sie von ländlichen Fastnachtsbräuchen wie dem "Zampern" und streift durch sogenannte "Heimatstuben", in denen die Sammlung unterschiedlicher Objekte das Gedächtnis eines Dorfes bilden. In all dem erkennt sie eigenständige kulturelle Phänomene, die von einem lokalpatriotischen Selbstbewusstsein zeugen. Selbst dort, wo es außer dem Gerätehaus der Freiwilligen Feuerwehr keinen Ort mehr gibt, an dem sich die Menschen begegnen, rechtfertigen die Bewohner ihr Zurückbleiben: "Weil wir hier unsere schönste Zeit hatten, die Jugend. Da geht man nicht weg."
Seinen Höhe- und Schlusspunkt findet das Buch in einem Bericht von dem erbitterten Bürgerprotest gegen die Schließung des Eisenacher Landestheaters, an dem Stückrad selbst wesentlich beteiligt war. Sie schildert die nächtelangen Demonstrationen als Aufbäumen einer noch verbliebenen Stadtgesellschaft gegen eine weitere Kränkung von oben. Mit dem schließlich erfolgreichen Widerstandskampf wandelt sich Stückrads Identität: aus der engagierten Forscherin wird die forschende Engagierte. In Eisenach übernimmt sie kommunalpolitische Verantwortung, tritt der SPD-Stadtratsfraktion bei. Was sie bei den Sitzungen dort erlebt, könnte allerdings wiederum auch die Ethnologin reizen. Wer weiß, vielleicht lesen wir also bald ein Folgebuch: Über das weite Feld ostdeutscher Kommunalpolitik. Zu wünschen wäre es uns. SIMON STRAUSS
Juliane Stückrad: "Die Unmutigen, die Mutigen". Feldforschung in der Mitte Deutschlands.
Kanon Verlag, Köln 2022.
288 S., geb., 24,- Euro.
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