Die 1970er Jahre wurden von einer gigantischen »Regierbarkeitskrise« erschüttert: Die Wirtschaftswelt hatte mit massiver Disziplinlosigkeit der Arbeiter zu kämpfen, aber auch mit der »Managerrevolution«, mit bisher beispiellosen ökologischen Massenbewegungen und neuen Sozial- und Umweltvorschriften. Der französische Philosoph Grégoire Chamayou porträtiert in seinem faszinierenden Buch dieses Krisenjahrzehnt als den Geburtsort unserer Gegenwart – als Brutstätte eines autoritären Liberalismus.
Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in D, A, F, L, I ausgeliefert werden.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2020Das Kapital steckt immer dahinter
Ideengeschichte als Mafiaroman: Grégoire Chamayou nimmt sich Diskurse der wirtschaftlichen Eliten vor
Die landläufige Auffassung datiert die konservative Gegenbewegung gegen die sozialliberale Ära auf die Zeit um 1980, auf die Wahlsiege von Margarete Thatcher und Ronald Reagan und ihren kleindeutschen Ableger, die geistig-moralische Wende. Doch dazu gibt es eine internationale Vorgeschichte. Von ihr handelt das jetzt auf deutsch vorliegende Buch des französischen Philosophen Grégoire Chamayou.
Protagonisten seiner Erzählung sind die Großunternehmen, jene meistens als Aktiengesellschaften eingerichteten Gebilde, die aus den ökonomischen Transformationen der Hochmoderne als paradigmatische Organisationen der Industriegesellschaften hervorgegangen waren. In der reformorientierten Linken galt das Großunternehmen darum schon seit der Zwischenkriegszeit als die große offene Flanke der Demokratie. Demokratie bedeute nämlich, so etwa Jürgen Habermas schon 1958, dass "alle soziale Macht eines politisch relevanten Wirkungsgrades auch demokratischer Kontrolle unterstellt wäre". Will heißen: Solange die Großunternehmen nicht demokratisiert sind, können auch die Gesellschaften nicht als demokratisiert gelten.
Chamayous Diskurschronik der 1970er Jahre setzt ein, als politisierte Belegschaften begannen, gegen die industrielle Arbeitsorganisation zu revoltieren, Aktivisten daran gingen, die Unternehmen mit den ökologischen Folgen der Produktion zu konfrontieren, und Juristen, über neue Formen der Haftung nachzudenken. Wie ist es den privatkapitalistisch organisierten Unternehmen gelungen, ihre Herrschaft über das Leben der Beschäftigten, ihre Kontrolle über Verbraucher und öffentliche Meinung gegen das Programm der reformistischen Internationale der siebziger Jahre zu verteidigen? Wie schafften sie es, die kritische Legende zu widerlegen, das Großunternehmen sei eine Machtform und bedürfe deshalb einer über das Eigentum hinausgehenden Legitimation? Wie ersetzt man ein Reformprogramm der Regierung durch die Programmatik einer Privatregierung?
Das gelang nicht auf brachiale Weise, auch wenn Chamayou von Rufmordkampagnen gegen Gewerkschafter und Schweinereien in Militärdiktaturen zu berichten weiß oder von Seminaren in gediegenen Hotels, in denen das mittlere Management der Vereinigten Staaten eingetrichtert bekam, wie man sich mit halblegalen Tricks missliebige Angestellte vom Leibe hält. Es gelang durch eine große, von den Eliten des Managements und der ökonomischen Theorie angezettelte Ideenrevolution, deren Produkt die bis heute dominierende Sichtweise dessen ist, was man "die Wirtschaft" nennt.
Was diese Eliten brauchten, war eine mit der Kritik konkurrenzfähige Theorie von Gesellschaft und Ökonomie. Dass es eine solche geben könnte, glaubt Chamayou allerdings nicht einen Moment lang, sondern fügt die Denkrichtungen, die er dazurechnet, zu einem Kaleidoskop autoritärer Argumente zusammen. Von vielen bemerkenswerten Kontroversen weiß er auf diese Weise zu berichten, etwa von frühen Auseinandersetzungen um die bis heute sogenannte Corporate Social Responsibility: Es ist nämlich sehr riskant, wenn das Management öffentlich erklärt, nicht nur den Eigentümerinteressen, sondern zugleich dem Gemeinwohl zu dienen. Es birgt die Gefahr, dass man auf die Dauer an diesen Maßstäben gemessen wird. An Ethik für Manager glauben nur die, die ohnehin an Manager glauben.
Chamayou hat eine Fülle vornehmlich amerikanischer Quellen ausgewertet: Zeitungen und Zeitschriften, Management-Literatur, Erinnerungen und Reportagen, ökonomische Lehrwerke und Flugschriften. Das Buch ist über weite Strecken freilich weniger eine Analyse als eine Blütenlese des Diskurses der wirtschaftlichen Führungsschicht des Westens: aneinandergereihte Zitate, kurze Einordnungen, schnelle Bewertungen, abrupte Themenwechsel. Flott komponiert und ausgesprochen gut zu lesen, aber in der Analyse allzu schematisch. Die meisten Auffassungen werden kurzerhand mit allerlei finsteren Absichten ihrer Urheber erklärt, auf jedem Zitat klebt ein Etikett: "progressiv"oder "reaktionär".
Mit den ökonomischen Veränderungen am Ende der Boom-Ära und den sich deshalb verändernden Handlungsspielräumen von Politik, vor deren Hintergrund sich jene Diskursveränderung abspielte, hält Chamayou sich nicht auf. Das zeigt sich nicht nur an der undifferenzierten Weise, in der er auch seinerseits von "der Wirtschaft" und "der Regierung" spricht. Er behandelt die Probleme, von denen Ökonomen und Unternehmensleitungen sprachen, meist einfach als Erfindungen, so als seien beispielsweise die makroökonomischen Bedingungen und fiskalischen Konsequenzen von teurer Sozialpolitik oder die sich von der klassischen Industrie unterscheidenden Anforderungen der Organisation von Dienstleistungsarbeit einfach Hirngespinste autoritärer Thinktanks.
Chamayous Deutung der Epoche beruht auf einer assoziativen Mischung aus marxistischer Dialektik und Foucaults Theorie der Gouvernementalität: Über das anonyme Subjekt des Kapitals hängt alles mit allem zusammen - nicht nur die Privatisierung der Daseinsvorsorge mit Hayeks halber Parteinahme für die Militärdiktatur Pinochets, sondern auch das juristische Paradigma des Unternehmens als Vertragsgeflecht mit der Technologie der Überwachung der Belegschaften, die Entstehung pseudoverbindlicher Corporate-Governance-Kodizes mit der Agitation gegen staatliche Umweltauflagen. Ideengeschichte als Mafiaroman, die ihren Gegenständen in dem unbedingten Willen, sie zu dämonisieren, übrigens oft auch noch zu viel Ehre antut. Kann man über das Principal-Agent-Modell, ein eher kümmerliches Stück institutionenökonomischer Theorie, im Ernst behaupten, es rette den Begriff des Eigentums für das Aktieneigentum? Meist entgeht Chamayou auf diese Weise die Ambivalenz der Ideen, die er referiert: So ist die Theorie des Unternehmens als komplexes Vertragsnetz wohl kaum zu verstehen als Verschwörung gegen, sondern gerade als Folge der Verrechtlichung des Unternehmens durch den Wohlfahrtsstaat, der von Ralf Dahrendorf und John Kenneth Galbraith beschriebenen Bürokratisierung des Kapitalismus.
Aus diesem Grund gerät auch der auf die Probleme heutiger linker Ideenpolitik gemünzte Schluss, mit dem Chamayou das Programm einer wirtschaftlichen Selbstverwaltung der Bürger als Alternative zum autoritären Kapitalismus preist, viel zu harmlos. Wer vorgibt, an Marx und Foucault geschult zu sein, aber die Bürokratie so wenig ernst nimmt, muss sich fragen lassen, ob er seine Quellen verstanden hat.
FLORIAN MEINEL
Grégoire Chamayou:
"Die unregierbare
Gesellschaft". Eine
Genealogie des
autoritären Liberalismus.
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 495 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Ideengeschichte als Mafiaroman: Grégoire Chamayou nimmt sich Diskurse der wirtschaftlichen Eliten vor
Die landläufige Auffassung datiert die konservative Gegenbewegung gegen die sozialliberale Ära auf die Zeit um 1980, auf die Wahlsiege von Margarete Thatcher und Ronald Reagan und ihren kleindeutschen Ableger, die geistig-moralische Wende. Doch dazu gibt es eine internationale Vorgeschichte. Von ihr handelt das jetzt auf deutsch vorliegende Buch des französischen Philosophen Grégoire Chamayou.
Protagonisten seiner Erzählung sind die Großunternehmen, jene meistens als Aktiengesellschaften eingerichteten Gebilde, die aus den ökonomischen Transformationen der Hochmoderne als paradigmatische Organisationen der Industriegesellschaften hervorgegangen waren. In der reformorientierten Linken galt das Großunternehmen darum schon seit der Zwischenkriegszeit als die große offene Flanke der Demokratie. Demokratie bedeute nämlich, so etwa Jürgen Habermas schon 1958, dass "alle soziale Macht eines politisch relevanten Wirkungsgrades auch demokratischer Kontrolle unterstellt wäre". Will heißen: Solange die Großunternehmen nicht demokratisiert sind, können auch die Gesellschaften nicht als demokratisiert gelten.
Chamayous Diskurschronik der 1970er Jahre setzt ein, als politisierte Belegschaften begannen, gegen die industrielle Arbeitsorganisation zu revoltieren, Aktivisten daran gingen, die Unternehmen mit den ökologischen Folgen der Produktion zu konfrontieren, und Juristen, über neue Formen der Haftung nachzudenken. Wie ist es den privatkapitalistisch organisierten Unternehmen gelungen, ihre Herrschaft über das Leben der Beschäftigten, ihre Kontrolle über Verbraucher und öffentliche Meinung gegen das Programm der reformistischen Internationale der siebziger Jahre zu verteidigen? Wie schafften sie es, die kritische Legende zu widerlegen, das Großunternehmen sei eine Machtform und bedürfe deshalb einer über das Eigentum hinausgehenden Legitimation? Wie ersetzt man ein Reformprogramm der Regierung durch die Programmatik einer Privatregierung?
Das gelang nicht auf brachiale Weise, auch wenn Chamayou von Rufmordkampagnen gegen Gewerkschafter und Schweinereien in Militärdiktaturen zu berichten weiß oder von Seminaren in gediegenen Hotels, in denen das mittlere Management der Vereinigten Staaten eingetrichtert bekam, wie man sich mit halblegalen Tricks missliebige Angestellte vom Leibe hält. Es gelang durch eine große, von den Eliten des Managements und der ökonomischen Theorie angezettelte Ideenrevolution, deren Produkt die bis heute dominierende Sichtweise dessen ist, was man "die Wirtschaft" nennt.
Was diese Eliten brauchten, war eine mit der Kritik konkurrenzfähige Theorie von Gesellschaft und Ökonomie. Dass es eine solche geben könnte, glaubt Chamayou allerdings nicht einen Moment lang, sondern fügt die Denkrichtungen, die er dazurechnet, zu einem Kaleidoskop autoritärer Argumente zusammen. Von vielen bemerkenswerten Kontroversen weiß er auf diese Weise zu berichten, etwa von frühen Auseinandersetzungen um die bis heute sogenannte Corporate Social Responsibility: Es ist nämlich sehr riskant, wenn das Management öffentlich erklärt, nicht nur den Eigentümerinteressen, sondern zugleich dem Gemeinwohl zu dienen. Es birgt die Gefahr, dass man auf die Dauer an diesen Maßstäben gemessen wird. An Ethik für Manager glauben nur die, die ohnehin an Manager glauben.
Chamayou hat eine Fülle vornehmlich amerikanischer Quellen ausgewertet: Zeitungen und Zeitschriften, Management-Literatur, Erinnerungen und Reportagen, ökonomische Lehrwerke und Flugschriften. Das Buch ist über weite Strecken freilich weniger eine Analyse als eine Blütenlese des Diskurses der wirtschaftlichen Führungsschicht des Westens: aneinandergereihte Zitate, kurze Einordnungen, schnelle Bewertungen, abrupte Themenwechsel. Flott komponiert und ausgesprochen gut zu lesen, aber in der Analyse allzu schematisch. Die meisten Auffassungen werden kurzerhand mit allerlei finsteren Absichten ihrer Urheber erklärt, auf jedem Zitat klebt ein Etikett: "progressiv"oder "reaktionär".
Mit den ökonomischen Veränderungen am Ende der Boom-Ära und den sich deshalb verändernden Handlungsspielräumen von Politik, vor deren Hintergrund sich jene Diskursveränderung abspielte, hält Chamayou sich nicht auf. Das zeigt sich nicht nur an der undifferenzierten Weise, in der er auch seinerseits von "der Wirtschaft" und "der Regierung" spricht. Er behandelt die Probleme, von denen Ökonomen und Unternehmensleitungen sprachen, meist einfach als Erfindungen, so als seien beispielsweise die makroökonomischen Bedingungen und fiskalischen Konsequenzen von teurer Sozialpolitik oder die sich von der klassischen Industrie unterscheidenden Anforderungen der Organisation von Dienstleistungsarbeit einfach Hirngespinste autoritärer Thinktanks.
Chamayous Deutung der Epoche beruht auf einer assoziativen Mischung aus marxistischer Dialektik und Foucaults Theorie der Gouvernementalität: Über das anonyme Subjekt des Kapitals hängt alles mit allem zusammen - nicht nur die Privatisierung der Daseinsvorsorge mit Hayeks halber Parteinahme für die Militärdiktatur Pinochets, sondern auch das juristische Paradigma des Unternehmens als Vertragsgeflecht mit der Technologie der Überwachung der Belegschaften, die Entstehung pseudoverbindlicher Corporate-Governance-Kodizes mit der Agitation gegen staatliche Umweltauflagen. Ideengeschichte als Mafiaroman, die ihren Gegenständen in dem unbedingten Willen, sie zu dämonisieren, übrigens oft auch noch zu viel Ehre antut. Kann man über das Principal-Agent-Modell, ein eher kümmerliches Stück institutionenökonomischer Theorie, im Ernst behaupten, es rette den Begriff des Eigentums für das Aktieneigentum? Meist entgeht Chamayou auf diese Weise die Ambivalenz der Ideen, die er referiert: So ist die Theorie des Unternehmens als komplexes Vertragsnetz wohl kaum zu verstehen als Verschwörung gegen, sondern gerade als Folge der Verrechtlichung des Unternehmens durch den Wohlfahrtsstaat, der von Ralf Dahrendorf und John Kenneth Galbraith beschriebenen Bürokratisierung des Kapitalismus.
Aus diesem Grund gerät auch der auf die Probleme heutiger linker Ideenpolitik gemünzte Schluss, mit dem Chamayou das Programm einer wirtschaftlichen Selbstverwaltung der Bürger als Alternative zum autoritären Kapitalismus preist, viel zu harmlos. Wer vorgibt, an Marx und Foucault geschult zu sein, aber die Bürokratie so wenig ernst nimmt, muss sich fragen lassen, ob er seine Quellen verstanden hat.
FLORIAN MEINEL
Grégoire Chamayou:
"Die unregierbare
Gesellschaft". Eine
Genealogie des
autoritären Liberalismus.
Aus dem Französischen von Michael Halfbrodt. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 495 S., geb., 32,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
»Das Unheimliche an Chamayous Buch ist, dass man nach der Lektüre sehr gut an sich selbst überprüfen kann, wieweit das soziale Mikro-Engineering der Wahl einen schon selbst im Griff hat.« Cord Riechelmann Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung 20191215