Über die Weigerung, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Einst galt die dauerhafte Ruhe als Bedingung von Glück. Heute jedoch wird Unruhe belohnt, das Immer-Unterwegs-Sein, die permanente Veränderung. Der bekannte Kulturphilosoph Ralf Konersmann rekonstruiert, wie die westliche Kultur ihr Meinungssystem revolutionierte und von der Präferenz der Ruhe zur Präferenz der Unruhe überging. Mit genealogischem Blick nimmt er die Unruhe nicht einfach als gegeben, sondern arbeitet heraus, wie sie überhaupt ihren Status hat erlangen können. Denn die Unruhe ist weder bloß Subjekt noch bloß Objekt, sie ist weder Innen noch Außen, weder Mittel noch Zweck, sondern jederzeit beides zugleich. Eine analytisch klare und stilistisch brillante Reise durch die geschichtlichen Stationen einer Vorstellung, die uns heute permanent am Laufen hält und die uns so selbstverständlich erscheint, dass niemand sie grundsätzlich hinterfragt.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.05.2015Wie wir gelernt haben, die Unruhe zu lieben
Besser als alle Ratgeber zur Lebenskunst: Ralf Konersmann zeigt, wie unser rastloses Leben zur Norm wurde. Und warum wir es für therapierbar halten.
Und Gott sah, dass es noch nicht genug war. Dass die Menschen mit der Vertreibung aus dem Paradies noch nicht genügend gestraft waren. Immerhin mussten sie nun im Schweiße ihres Angesichts für ihr Auskommen sorgen. Gott hatte also mit der Arbeit schon etwas Unruhe in die Welt gebracht. Allerdings galt das nur bedingt. Abel wählte die paradiesnahe kontemplative Hirtentätigkeit, die Kain im Zorn buchstäblich mit einem Schlag beendete. Erst mit der zweiten Vertreibung, dem Fluch "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein", kommt die Unruhe endgültig als das Dasein durchdringende, Kultur und Zivilisation prägende Kraft in die Welt.
Ralf Konersmann erzählt in seiner genealogischen Erkundung dieses Seinszustandes die biblische Geschichte nicht im Blick auf Schuld und Sühne, sondern im Blick auf ein Daseinsgefühl, das uns heute selbstverständlich erscheint. So selbstverständlich, dass sich die Frage gar nicht mehr stellt, warum Menschen Ruhe und Frieden aufgeben, um ihr Glück im tätigen Leben, in der Arbeit, der beständigen Veränderung zu suchen und die mögliche Welt mehr zu schätzen als die bestehende. Konersmann jedoch fragt sich verwundert: "Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben?" Denn in der postparadiesischen Wirklichkeit sind wir umstellt von alltäglichen Geboten, die die Unruhe positiv wenden. Etwa wenn wir feststellen, dass, wer rastet, auch rostet.
Im Lauf ihrer Geschichte ist die Unruhe vom Schreckbild der biblischen Erzählung zum Normalzustand geworden. Mehr noch, sie ist ein "hoffnungsfrohes Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung von Treiben und Getriebensein nicht kennt". Und selbst noch die zeitgeistige Sehnsucht nach Entschleunigung, nach einer Auszeit oder nach meditativer Gelassenheit findet für Konersmann vor dem Hintergrundrauschen der Unruhe statt. Stress, Arbeitsverdichtung oder Burn-out werden für ihn zu Symptomen eines verzerrten Diskurses: Statt Unruhe als solche, als historische, kulturelle Erscheinung zu erkennen, werde sie heutzutage ins erschöpfte Selbst verlegt, als therapierbar, also überwindbar betrachtet. Dass dem nicht so sein kann, ist eine der vielen überraschenden Einsichten dieses Buchs.
Dem Kieler Kulturphilosophen gelingt es dabei, unmittelbare lebensweltliche Wiedererkennbarkeit mit einer faszinierenden geistes- und philosophiegeschichtlichen Tiefenbohrung zu verbinden. Eine Tiefenbohrung, die nicht nur bis ins mythische Erzählen - etwa in die Kainsgeschichte oder den Prometheusmythos - vordringt, sondern auch von der bis heute kulturprägenden Wirksamkeit des Mythos überzeugt ist. Dass die großen Erzählungen ihre unmittelbar welterschließende Kraft eingebüßt haben, ihre Fähigkeit, Fragen zu beantworten, bevor wir sie gestellt haben, heißt für Konersmann gerade nicht, dass der Mythos durch Aufklärung nach und nach in Logos überführt worden ist; er bleibt zersplittert, überformt und umgewertet präsent: "Kleinformatig und ungemein beweglich, vagabundieren die freien Erzählbruchstücke durch die Öffentlichkeit, weitergetragen und globalisiert durch die Traumfabriken, durch die Medien, die Werbung, die Programme der Parteien und, selbstverständlich, die Verlautbarungen der Wissenschaft."
Und wie beweglich, kleinformatig diese Erzählstücke auch historisch in der Philosophie, der Kunst, der Literatur vagabundieren, welch ein Eigenleben mythisches Erzählen entfaltet, das kann man in diesem Buch nachvollziehen. Bisweilen könnte man dabei den Eindruck gewinnen, der Autor sei selbst von seinem Gegenstand, der Unruhe, erfasst worden, jedenfalls, was die chronologische Ordnung dieser Genealogie betrifft. Denn Konersmann springt kreuz und quer durch die Jahrhunderte, lässt sich von Motiven und Bedeutungsschichten der Unruhe leiten, lässt etwa jene Kainsgeschichte aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. auf die vorwärtsdrängende Wissenschaft des frühen 17. Jahrhunderts treffen, als Francis Bacons Methodenlehre "Novum Organum" erschien, die schon auf dem Titelkupferstich einen Bibelspruch zeigt, in dem eine wesentliche Umwertung der Unruhe sichtbar wird: "Viele werden rastlos umherirren und die Erkenntnis wird groß sein."
Aus dem Fluch wird langsam ein Segen. Wobei Bacon noch unterstellte, dass die Unruhe des wissenschaftlichen Fortschritts eine vorübergehende sein würde, sich die paradiesische Ruhe wieder einstellen könne, sobald das Buch der Natur gelesen und das Wissen vollständig sei. Diesem "Wiederherstellungsmodell" erteilt die in der Moderne entfesselte Unruhe eine Absage. Etwa in der berühmten elften Feuerbachthese von Karl Marx. Dass es nicht gelte, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, setzt voraus, dass Unruhe endgültig zur positiven Signatur der Moderne geworden ist. "Dass die Welt etwas ist, das es zu verändern gilt, war und ist der übergreifende Konsens europäischer Intellektualität. Der erhabenste Ruhmestitel, den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter."
Wobei auch der Marxsche Veränderungsfuror, die Vorstellung vom kollektiven Subjekt, das wirkmächtig die Geschichte in die eigenen Hände nimmt, in der Ästhetik der Moderne abgeschliffen wird. Am Beispiel André Gides zeigt Konersmann: "Der Dichter der Moderne ... macht nicht und stellt nicht planvoll her; angesteckt von der Unruhe lässt er geschehen." Der moderne Künstler ist nicht Schöpfer, sondern Zeuge oder Medium der Unruhe, er ist ein "Inquieteur". Und das gilt wohl für den modernen Menschen insgesamt, der sein Treiben und Getriebensein mit Konersmann als das begreifen lernt, was vormals "Schicksal" genannt worden ist.
Ein Schicksal, das man eben nicht wegtherapieren kann und gegen das auch nicht das Kraut von Gelassenheitsratgebern oder Lebenskunstbrevieren hilft. Aber doch etwas ist, dem man sich stellen muss. In der Haltung der antiken Stoa, in ihrer Vorstellung von Seelenruhe entdeckt Konersmann einen zeitgemäßen, ja, pragmatischen Umgang mit der Unruhe, einen, der sie weder leugnet noch aus der Welt schaffen will. Einen Umgang, der nicht - wie der mittelalterliche Philosoph Meister Eckhart - Gelassenheit im Sinne von "Lass Dich!" als Selbstverlust predigt. Der Stoiker versucht, hier und jetzt das unruhige Leben zu meistern; Seelenruhe zu erreichen, indem er sich nicht aus der Unruhe bringen lässt.
Eine Form, sich der Unruhe der Welt zu stellen, besteht darin, dieses elegant geschriebene Buch zu lesen und mit Konersmann durch unruhige Zeiten zu wandeln, von Seneca zu Schiller, von Pascal zu Brecht. "Dandys, Flaneure, Feuilletonisten" sind für ihn diejenigen, die "sich durch die Art ihrer Lebensführung dem Reglement der inquietär vereinheitlichten Moderne" entziehen. Und das gilt wohl auch für die Dauer einer glücklich machenden Theorielektüre.
THORSTEN JANTSCHEK
Ralf Konersmann:
"Die Unruhe der Welt".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 464 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Besser als alle Ratgeber zur Lebenskunst: Ralf Konersmann zeigt, wie unser rastloses Leben zur Norm wurde. Und warum wir es für therapierbar halten.
Und Gott sah, dass es noch nicht genug war. Dass die Menschen mit der Vertreibung aus dem Paradies noch nicht genügend gestraft waren. Immerhin mussten sie nun im Schweiße ihres Angesichts für ihr Auskommen sorgen. Gott hatte also mit der Arbeit schon etwas Unruhe in die Welt gebracht. Allerdings galt das nur bedingt. Abel wählte die paradiesnahe kontemplative Hirtentätigkeit, die Kain im Zorn buchstäblich mit einem Schlag beendete. Erst mit der zweiten Vertreibung, dem Fluch "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein", kommt die Unruhe endgültig als das Dasein durchdringende, Kultur und Zivilisation prägende Kraft in die Welt.
Ralf Konersmann erzählt in seiner genealogischen Erkundung dieses Seinszustandes die biblische Geschichte nicht im Blick auf Schuld und Sühne, sondern im Blick auf ein Daseinsgefühl, das uns heute selbstverständlich erscheint. So selbstverständlich, dass sich die Frage gar nicht mehr stellt, warum Menschen Ruhe und Frieden aufgeben, um ihr Glück im tätigen Leben, in der Arbeit, der beständigen Veränderung zu suchen und die mögliche Welt mehr zu schätzen als die bestehende. Konersmann jedoch fragt sich verwundert: "Wie haben wir gelernt, die Unruhe zu lieben?" Denn in der postparadiesischen Wirklichkeit sind wir umstellt von alltäglichen Geboten, die die Unruhe positiv wenden. Etwa wenn wir feststellen, dass, wer rastet, auch rostet.
Im Lauf ihrer Geschichte ist die Unruhe vom Schreckbild der biblischen Erzählung zum Normalzustand geworden. Mehr noch, sie ist ein "hoffnungsfrohes Taumeln, ein massenhaftes Sehnen und Drängen, das die Unterscheidung von Treiben und Getriebensein nicht kennt". Und selbst noch die zeitgeistige Sehnsucht nach Entschleunigung, nach einer Auszeit oder nach meditativer Gelassenheit findet für Konersmann vor dem Hintergrundrauschen der Unruhe statt. Stress, Arbeitsverdichtung oder Burn-out werden für ihn zu Symptomen eines verzerrten Diskurses: Statt Unruhe als solche, als historische, kulturelle Erscheinung zu erkennen, werde sie heutzutage ins erschöpfte Selbst verlegt, als therapierbar, also überwindbar betrachtet. Dass dem nicht so sein kann, ist eine der vielen überraschenden Einsichten dieses Buchs.
Dem Kieler Kulturphilosophen gelingt es dabei, unmittelbare lebensweltliche Wiedererkennbarkeit mit einer faszinierenden geistes- und philosophiegeschichtlichen Tiefenbohrung zu verbinden. Eine Tiefenbohrung, die nicht nur bis ins mythische Erzählen - etwa in die Kainsgeschichte oder den Prometheusmythos - vordringt, sondern auch von der bis heute kulturprägenden Wirksamkeit des Mythos überzeugt ist. Dass die großen Erzählungen ihre unmittelbar welterschließende Kraft eingebüßt haben, ihre Fähigkeit, Fragen zu beantworten, bevor wir sie gestellt haben, heißt für Konersmann gerade nicht, dass der Mythos durch Aufklärung nach und nach in Logos überführt worden ist; er bleibt zersplittert, überformt und umgewertet präsent: "Kleinformatig und ungemein beweglich, vagabundieren die freien Erzählbruchstücke durch die Öffentlichkeit, weitergetragen und globalisiert durch die Traumfabriken, durch die Medien, die Werbung, die Programme der Parteien und, selbstverständlich, die Verlautbarungen der Wissenschaft."
Und wie beweglich, kleinformatig diese Erzählstücke auch historisch in der Philosophie, der Kunst, der Literatur vagabundieren, welch ein Eigenleben mythisches Erzählen entfaltet, das kann man in diesem Buch nachvollziehen. Bisweilen könnte man dabei den Eindruck gewinnen, der Autor sei selbst von seinem Gegenstand, der Unruhe, erfasst worden, jedenfalls, was die chronologische Ordnung dieser Genealogie betrifft. Denn Konersmann springt kreuz und quer durch die Jahrhunderte, lässt sich von Motiven und Bedeutungsschichten der Unruhe leiten, lässt etwa jene Kainsgeschichte aus dem 6. Jahrhundert v. Chr. auf die vorwärtsdrängende Wissenschaft des frühen 17. Jahrhunderts treffen, als Francis Bacons Methodenlehre "Novum Organum" erschien, die schon auf dem Titelkupferstich einen Bibelspruch zeigt, in dem eine wesentliche Umwertung der Unruhe sichtbar wird: "Viele werden rastlos umherirren und die Erkenntnis wird groß sein."
Aus dem Fluch wird langsam ein Segen. Wobei Bacon noch unterstellte, dass die Unruhe des wissenschaftlichen Fortschritts eine vorübergehende sein würde, sich die paradiesische Ruhe wieder einstellen könne, sobald das Buch der Natur gelesen und das Wissen vollständig sei. Diesem "Wiederherstellungsmodell" erteilt die in der Moderne entfesselte Unruhe eine Absage. Etwa in der berühmten elften Feuerbachthese von Karl Marx. Dass es nicht gelte, die Welt zu interpretieren, sondern sie zu verändern, setzt voraus, dass Unruhe endgültig zur positiven Signatur der Moderne geworden ist. "Dass die Welt etwas ist, das es zu verändern gilt, war und ist der übergreifende Konsens europäischer Intellektualität. Der erhabenste Ruhmestitel, den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter."
Wobei auch der Marxsche Veränderungsfuror, die Vorstellung vom kollektiven Subjekt, das wirkmächtig die Geschichte in die eigenen Hände nimmt, in der Ästhetik der Moderne abgeschliffen wird. Am Beispiel André Gides zeigt Konersmann: "Der Dichter der Moderne ... macht nicht und stellt nicht planvoll her; angesteckt von der Unruhe lässt er geschehen." Der moderne Künstler ist nicht Schöpfer, sondern Zeuge oder Medium der Unruhe, er ist ein "Inquieteur". Und das gilt wohl für den modernen Menschen insgesamt, der sein Treiben und Getriebensein mit Konersmann als das begreifen lernt, was vormals "Schicksal" genannt worden ist.
Ein Schicksal, das man eben nicht wegtherapieren kann und gegen das auch nicht das Kraut von Gelassenheitsratgebern oder Lebenskunstbrevieren hilft. Aber doch etwas ist, dem man sich stellen muss. In der Haltung der antiken Stoa, in ihrer Vorstellung von Seelenruhe entdeckt Konersmann einen zeitgemäßen, ja, pragmatischen Umgang mit der Unruhe, einen, der sie weder leugnet noch aus der Welt schaffen will. Einen Umgang, der nicht - wie der mittelalterliche Philosoph Meister Eckhart - Gelassenheit im Sinne von "Lass Dich!" als Selbstverlust predigt. Der Stoiker versucht, hier und jetzt das unruhige Leben zu meistern; Seelenruhe zu erreichen, indem er sich nicht aus der Unruhe bringen lässt.
Eine Form, sich der Unruhe der Welt zu stellen, besteht darin, dieses elegant geschriebene Buch zu lesen und mit Konersmann durch unruhige Zeiten zu wandeln, von Seneca zu Schiller, von Pascal zu Brecht. "Dandys, Flaneure, Feuilletonisten" sind für ihn diejenigen, die "sich durch die Art ihrer Lebensführung dem Reglement der inquietär vereinheitlichten Moderne" entziehen. Und das gilt wohl auch für die Dauer einer glücklich machenden Theorielektüre.
THORSTEN JANTSCHEK
Ralf Konersmann:
"Die Unruhe der Welt".
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 464 S., Abb., geb., 24,99 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 03.08.2015Paradiese sind kein Jagdrevier
Der Philosoph Ralf Konersmann spürt in einer groß angelegten ideengeschichtlichen Studie
der Unruhe nach – für ihn die eigentliche Triebkraft der abendländischen Kultur
VON MICHAEL STALLKNECHT
Heute schon im Stress gewesen? Oder schon mal einen Burn-outgehabt? Also her mit dem nächsten Ratgeber! Schließlich gilt es flexibel zu sein, innovative Lösungen zu finden, und nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Was gelingt, ist immer nur ein „Schritt in die richtige Richtung“, und was misslingt, ein Zeichen dafür, was „noch immer nicht“ in Ordnung ist. Es geht darum, Reformen anzupacken, alles muss sich wandeln.
„Die Unruhe hat sich mit dem Gefühl verbunden, ihr nicht entgehen zu können, ja ihr, selbst wenn es möglich wäre, auch nicht entgehen zu dürfen“, konstatiert der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch „Die Unruhe der Welt“.
Konersmann ist Kulturgeschichtler, Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturphilosophie sowie des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ und schreibt nebenher regelmäßig Beiträge für die deutschsprachigen Feuilletons. Er ist also wie prädestiniert, ein Buch zu schreiben, das mit einer manchmal fast dandyhaft vorgeführten sprachlichen und stilistischen Eleganz erzählt, wie sie eigentlich in die Welt kam, die große Unruhe.
Dass sie kein bedingungslos willkommener Gast ist, erzählt schon unser wichtigster Mythos: der von der Vertreibung aus dem Paradies. Herrschte im Garten Eden noch die große Wunschlosigkeit, so ist die Unruhe der Zustand des in die Sünde gefallenen Menschen. Der unruhige Mensch trägt das Kainsmal: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein“, spricht Gott. Seitdem wohnen wir alle „jenseits von Eden“, mehr oder minder eingerichtet im immer paradoxen Zustand einer, wie Konersmann es nennt, „sekundäre(n) Bequemlichkeit der Unruhe“: „Nachdem sich alles und jedes ständig ändert, soll wenigstens darauf Verlass sein.“
Doch darum ist die Unruhe für Konersmann noch lange kein Teufelswerk, wie Kulturpessimisten an dieser Stelle annehmen müssten. Sondern das Werk durchaus frommer Männer, zum Beispiel das des Francis Bacon. „Viele werden ratlos umherirren, und die Erkenntnis wird groß sein“, lässt der Renaissance-Gelehrte ein Bibelzitat auf das Titelblatt seines „Novum Organum“ drucken. Den Urmythos von der Vertreibung erzählt er fort, allerdings mit einer kleinen Modifikation: Wissen und Bildung, lehrt Bacon, können das ursprüngliche Paradies wiederherstellen. Ruhe bleibt das Bessere, in ihrem Dienst aber gilt es unruhig zu sein. Und schon steckt Unruhe mitten in der Theorie, die bis dahin – „theoria“ meint im Griechischen „Schau“ – so gelassen auf die Welt geblickt hatte wie Konersmann auf die stetige Entwicklung der Unruhe in der (westlichen) Neuzeit: „Das alte Erkennen war ein Umschauen, das neue ist ein Jagen.“
Paradiese aber taugen schlecht als Jagdrevier, weshalb sie bald schon unter den unabweisbaren Verdacht geraten, eigentlich eintönig und langweilig zu sein. Zum Beispiel bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der das Paradies nur noch als ein „Weben seiner in sich selbst“ bezeichnet. Ruhe bleibt zwar auch bei Hegel noch das Endziel der Geschichte, diese selbst aber vollzieht sich als Zivilisierungsprozess von Unruhe.
Sein Leser Karl Marx zieht darauf noch radikalere Schlüsse: Er beschreibt nicht nur den Kapitalismus bereits als rasenden Gott, sondern etabliert die Veränderung endgültig als die neue Normalität. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern“, lautet der bekannte Slogan.
Darin steckt die endgültige Absage an alle Theorie und die Verschreibung an die unwiderrufliche Praxis der Veränderung. „Dass die Welt etwas ist, das es zu verändern gilt“, so Konersmann, „war und ist der fraktionenübergreifende Konsens europäischer Intellektualität. Der erhabenste Ruhmestitel, den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter.“
Es ist ein Titel, auf den Konersmann bei allem merklichen Stolz auf die eigene Intellektualität eher verzichtet. Wie auf manches, was bei diesem Thema noch möglich gewesen wäre: Die Eisenbahn, die Weltkriege oder das Internet kommen im Buch ebenso wenig vor wie die Beiträge zum Thema aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die des Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio zum Beispiel oder die aktuelleren des Soziologen Hartmut Rosa.
Ist Ersteres dem strikt ideengeschichtlichen Ansatz geschuldet, dann Letzteres wohl dem Abstand, der die Theorie, die große Schau mindestens in der Rückschau noch einmal ermöglichen soll und damit auch die Beruhigung, die in ihr lag. Die Praxis dagegen meidet Konersmann schon deshalb, weil die umstandslose Korrekturanweisung nach Art der Ratgeberliteratur selbst die Beunruhigung fortschreibe, als deren Korrektur sie sich ausgibt.
Eine Deutung gelingt dennoch: Ebenso wie Hegel hält Konersmann die Unruhe für das Zivilisationsmoment schlechthin, für den eigentlichen Gründungsakt der Kultur. Ihn zu negieren, wäre schlechthin unmöglich, obwohl oder gerade weil auch die Unruhe für Konersmann ebenso wie die Paradieserzählung ein Mythos bleibt. Denn nur Mythen sind nicht begründungspflichtig, üben aber den vollkommenen zwanglosen Zwang über ihre Hörer aus. Mythen gewähren uns eine fraglose Übereinkunft, verpflichten uns dafür aber auch zu ihrer bedingungslosen Anerkennung. „Als Adressaten des Mythos haben wir uns das Versprechen der Veränderung immer schon zu eigen gemacht, und nun bestehen wir darauf.“
Es könnte also alles auch ganz anders sein, aber nicht nach dieser Vorgeschichte. Für die westliche Kultur gilt das, was Thomas Mann einmal so fasste: Sie sei ein „abendländisches Aktivitätskommando“.
Er erzählt mit einer fast
dandyhaft vorgeführten
sprachlichen Eleganz
Jenseits von Eden, so Konersmann, befinden wir alle uns in dem paradoxen Zustand einer „sekundären Bequemlichkeit der Unruhe“.
Foto: Rudi Sebastian/plainpicture
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 464 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Der Philosoph Ralf Konersmann spürt in einer groß angelegten ideengeschichtlichen Studie
der Unruhe nach – für ihn die eigentliche Triebkraft der abendländischen Kultur
VON MICHAEL STALLKNECHT
Heute schon im Stress gewesen? Oder schon mal einen Burn-outgehabt? Also her mit dem nächsten Ratgeber! Schließlich gilt es flexibel zu sein, innovative Lösungen zu finden, und nur wer sich ändert, bleibt sich treu. Was gelingt, ist immer nur ein „Schritt in die richtige Richtung“, und was misslingt, ein Zeichen dafür, was „noch immer nicht“ in Ordnung ist. Es geht darum, Reformen anzupacken, alles muss sich wandeln.
„Die Unruhe hat sich mit dem Gefühl verbunden, ihr nicht entgehen zu können, ja ihr, selbst wenn es möglich wäre, auch nicht entgehen zu dürfen“, konstatiert der Philosoph Ralf Konersmann in seinem Buch „Die Unruhe der Welt“.
Konersmann ist Kulturgeschichtler, Mitherausgeber der Zeitschrift für Kulturphilosophie sowie des „Historischen Wörterbuchs der Philosophie“ und schreibt nebenher regelmäßig Beiträge für die deutschsprachigen Feuilletons. Er ist also wie prädestiniert, ein Buch zu schreiben, das mit einer manchmal fast dandyhaft vorgeführten sprachlichen und stilistischen Eleganz erzählt, wie sie eigentlich in die Welt kam, die große Unruhe.
Dass sie kein bedingungslos willkommener Gast ist, erzählt schon unser wichtigster Mythos: der von der Vertreibung aus dem Paradies. Herrschte im Garten Eden noch die große Wunschlosigkeit, so ist die Unruhe der Zustand des in die Sünde gefallenen Menschen. Der unruhige Mensch trägt das Kainsmal: „Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein“, spricht Gott. Seitdem wohnen wir alle „jenseits von Eden“, mehr oder minder eingerichtet im immer paradoxen Zustand einer, wie Konersmann es nennt, „sekundäre(n) Bequemlichkeit der Unruhe“: „Nachdem sich alles und jedes ständig ändert, soll wenigstens darauf Verlass sein.“
Doch darum ist die Unruhe für Konersmann noch lange kein Teufelswerk, wie Kulturpessimisten an dieser Stelle annehmen müssten. Sondern das Werk durchaus frommer Männer, zum Beispiel das des Francis Bacon. „Viele werden ratlos umherirren, und die Erkenntnis wird groß sein“, lässt der Renaissance-Gelehrte ein Bibelzitat auf das Titelblatt seines „Novum Organum“ drucken. Den Urmythos von der Vertreibung erzählt er fort, allerdings mit einer kleinen Modifikation: Wissen und Bildung, lehrt Bacon, können das ursprüngliche Paradies wiederherstellen. Ruhe bleibt das Bessere, in ihrem Dienst aber gilt es unruhig zu sein. Und schon steckt Unruhe mitten in der Theorie, die bis dahin – „theoria“ meint im Griechischen „Schau“ – so gelassen auf die Welt geblickt hatte wie Konersmann auf die stetige Entwicklung der Unruhe in der (westlichen) Neuzeit: „Das alte Erkennen war ein Umschauen, das neue ist ein Jagen.“
Paradiese aber taugen schlecht als Jagdrevier, weshalb sie bald schon unter den unabweisbaren Verdacht geraten, eigentlich eintönig und langweilig zu sein. Zum Beispiel bei Georg Wilhelm Friedrich Hegel, der das Paradies nur noch als ein „Weben seiner in sich selbst“ bezeichnet. Ruhe bleibt zwar auch bei Hegel noch das Endziel der Geschichte, diese selbst aber vollzieht sich als Zivilisierungsprozess von Unruhe.
Sein Leser Karl Marx zieht darauf noch radikalere Schlüsse: Er beschreibt nicht nur den Kapitalismus bereits als rasenden Gott, sondern etabliert die Veränderung endgültig als die neue Normalität. „Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt drauf an, sie zu verändern“, lautet der bekannte Slogan.
Darin steckt die endgültige Absage an alle Theorie und die Verschreibung an die unwiderrufliche Praxis der Veränderung. „Dass die Welt etwas ist, das es zu verändern gilt“, so Konersmann, „war und ist der fraktionenübergreifende Konsens europäischer Intellektualität. Der erhabenste Ruhmestitel, den die westliche Kultur an ihre Intellektuellen zu vergeben hat, ist die Auszeichnung als Unruhestifter.“
Es ist ein Titel, auf den Konersmann bei allem merklichen Stolz auf die eigene Intellektualität eher verzichtet. Wie auf manches, was bei diesem Thema noch möglich gewesen wäre: Die Eisenbahn, die Weltkriege oder das Internet kommen im Buch ebenso wenig vor wie die Beiträge zum Thema aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die des Geschwindigkeitstheoretikers Paul Virilio zum Beispiel oder die aktuelleren des Soziologen Hartmut Rosa.
Ist Ersteres dem strikt ideengeschichtlichen Ansatz geschuldet, dann Letzteres wohl dem Abstand, der die Theorie, die große Schau mindestens in der Rückschau noch einmal ermöglichen soll und damit auch die Beruhigung, die in ihr lag. Die Praxis dagegen meidet Konersmann schon deshalb, weil die umstandslose Korrekturanweisung nach Art der Ratgeberliteratur selbst die Beunruhigung fortschreibe, als deren Korrektur sie sich ausgibt.
Eine Deutung gelingt dennoch: Ebenso wie Hegel hält Konersmann die Unruhe für das Zivilisationsmoment schlechthin, für den eigentlichen Gründungsakt der Kultur. Ihn zu negieren, wäre schlechthin unmöglich, obwohl oder gerade weil auch die Unruhe für Konersmann ebenso wie die Paradieserzählung ein Mythos bleibt. Denn nur Mythen sind nicht begründungspflichtig, üben aber den vollkommenen zwanglosen Zwang über ihre Hörer aus. Mythen gewähren uns eine fraglose Übereinkunft, verpflichten uns dafür aber auch zu ihrer bedingungslosen Anerkennung. „Als Adressaten des Mythos haben wir uns das Versprechen der Veränderung immer schon zu eigen gemacht, und nun bestehen wir darauf.“
Es könnte also alles auch ganz anders sein, aber nicht nach dieser Vorgeschichte. Für die westliche Kultur gilt das, was Thomas Mann einmal so fasste: Sie sei ein „abendländisches Aktivitätskommando“.
Er erzählt mit einer fast
dandyhaft vorgeführten
sprachlichen Eleganz
Jenseits von Eden, so Konersmann, befinden wir alle uns in dem paradoxen Zustand einer „sekundären Bequemlichkeit der Unruhe“.
Foto: Rudi Sebastian/plainpicture
Ralf Konersmann: Die Unruhe der Welt. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2015. 464 Seiten, 24,99 Euro. E-Book 21,99 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
Ralf Konersmann versucht in "Die Unruhe der Welt" so etwas wie eine Ideengeschichte der Unruhe, erklärt Rezensentin Katharina Teutsch. Wurde Unruhe anfangs noch ganz im Sinne der Vertreibung aus dem Paradies und vor allem des Kains-Fluches - "Rastlos und ruhelos wirst du auf der Erde sein" - als Verlust und Last verstanden, erfuhr die Unruhe mit dem technischen Fortschritt später eine Umdeutung ins Positive, fasst die Rezensentin zusammen. Während Teutsch einzelne Argumentationen nachvollziehbar findet und das Buch für seinen Ideenreichtum lobt, erscheint ihr die Unruhe als Grundlage einer Kulturtheorie, wie Konersmann sie im Sinn zu haben scheint, wenig geeignet: zu wenig lasse sie sich begrifflich ruhig stellen, um sie handhabbar zu machen, so die Rezensentin.
© Perlentaucher Medien GmbH
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die wissenschaftliche Darstellung dieses Kampfes in allen philosophischen und historischen Facetten macht die Unruhe greifbarer und damit auch ein wenig beherrschbarer. Max von Malotki WDR 5 - Politikum 20150715