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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
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Iris Wolffs neuer Roman "Die Unschärfe der Welt"
Es könnte das Jahr von Iris Wolff werden. Nachdem sie im vergangenen November mit dem Ingolstädter Marieluise-Fleißer-Preis ihre erste bedeutende Auszeichnung erhalten hat, wechselte sie nach drei Romanen im exquisiten, aber kleinen Salzburger Otto Müller Verlag mit dem vierten, "Die Unschärfe der Welt", zum Traditionshaus Klett-Cotta, und prompt findet sich das Buch auf der Longlist des diesjährigen Deutschen Buchpreises. Es wäre keine Überraschung, wenn der Roman es auch noch auf die Shortlist schaffte, denn er setzt nicht nur die literarischen Stärken und Themen der mittlerweile dreiundvierzigjährigen Schriftstellerin konsequent fort, er hat auch auf knapper Länge eine große Geschichte zu erzählen.
Angesiedelt ist sie im Banat. Das wird die mit Iris Wolffs bisherigen Büchern vertrauten Leser nicht überraschen, denn alle hatten sie ihr Herzgeschehen in den ehedem deutsch besiedelten Regionen Rumäniens, in Siebenbürgen oder ebendem Banat. Iris Wolff hat in beiden Landschaften ihre ersten acht Lebensjahre verbracht, ehe die Familie 1985 in die Bundesrepublik ausreiste, und aus dieser Erinnerungsquelle speisen sich Stoffe und Szenen der Romane: Es sind unvergessliche Eindrücke eines Land- und Kleinstadtlebens, das aus der Zeit gefallen scheint, auch weil immer wieder Momente stillgestellt, literarisch zu höchster Intensität verdichtet werden. "Es gab eine Zeit, die vorwärts eilte", heißt es einmal im Roman, "und eine Zeit, die rückwärts lief. Eine Zeit, die im Kreis ging, und eine, die sich nicht bewegte, nie mehr war als ein einziger Augenblick." Just die Beschreibung solcher Augenblicke beherrscht Iris Wolff meisterhaft; man denke nur ans kurze Erfassen eines vorbeiflanierenden Paares an einer Mole auf La Gomera, das 2017 den dramaturgischen Höhepunkt ihres Episodenromans "So tun, als ob es regnet" vorbereitete.
Die damalige Vermählung von Wasser und Tod ist nun das Leitmotiv in "Die Unschärfe der Welt". Im Mittelpunkt steht eine deutschsprachige Pfarrersfamilie, nicht nur aus religiösen Gründen so etwas wie der ruhende Pol im Dorf, deshalb auch bespitzelt von einem rumänischen Nachbarn. Der Sohn der Familie lernt erst spät sprechen, und sein erstes Wort - "so laut und deutlich, dass der Wind es nicht fortnehmen konnte" - ist kein deutsches: "Zapada" bezeichnet auf Rumänisch den Schnee, den Inbegriff stillgestellter Natur. Das entspricht dem betäubten Leben unter der Herrschaft von Ceausescu, der in einer hinreißend sarkastischen Sequenz des Romans nicht namentlich, sondern mit den Titulierungen seiner Selbstverherrlichung angesprochen wird: "Sohn der Sonne", Genie der Karpaten", "Conducator", "Titan", "Auserwählter", "großer Navigator".
Weitaus mächtiger aber ist das quicklebendige Wasser der Marosch, in dem der junge Echo ertrinkt, die Nordsee, in der der aus Rumänien geflohene Oswald den Tod findet, und der Stausee, in den die dreijährige Livia einfach hineingeht, obwohl sie den Unterschied zwischen festem Boden und Wasser schon kennt. Es ist der Ruf des Wassers, seine Freiheit, die die Menschen anlockt, und die Kunst, die alle Figuren bei Iris Wolff zu beherrschen lernen müssen, ist, diesem Lockruf nicht einfach zu folgen, den festen Boden der Herkunft nicht leichtfertig aufzugeben und ins funkelnde Unfassbare zu gehen - natürlich eine Metapher für die Ausreise, aber keine, die als Kritik an Menschen zu verstehen wäre, die dem Untragbaren nicht länger standhalten wollen, sondern eine, die jene seelische Last deutlich macht, die auch nach der Befreiung von der Tyrannei nicht abgeschüttelt werden kann.
Eingebettet ist dieses schwere Thema in eine Konstellation präzise psychologisierter Figuren: der Pfarrer Hannes und seine Frau Florentine, Echos Eltern Ruth und Severin, die Freunde Samuel und Oswald, die Freundinnen Livia und Stana, der Spitzel Konstanty und dessen integre Frau Malva, das homosexuelle Besucherpaar aus der DDR - ein schillernder Mikrokosmos, für den der programmatische Satz gilt, mit dem Iris Wolff ihr letztes Kapitel einleitet: "Etwas kann so oft und eindrücklich erzählt werden, dass man meint, sich selbst daran zu erinnern." Genau das passiert in "Die Unschärfe der Welt". Dieses letzte Kapitel trägt den Titel "Prestigio", nach dem Glanzpunkt einer Zaubervorführung. Ja, das passt.
ANDREAS PLATTHAUS
Iris Wolff: "Die Unschärfe der Welt". Roman.
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2020. 215 S., geb., 20,- [Euro].
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