„Die Unschuldigen“ von Michael Crummey ist ein Roman über das Leben und Überleben an der Küste Neufundlands im 18. Jahrhundert. Dort herrscht ein kaltes und raues Klima und was für Erwachsene bereits ein herausforderndes Leben ist, ist es noch viel mehr für Kinder, die gänzlich auf sich allein
gestellt sind. So ergeht es Ada und Evered, deren Eltern und kleine Schwester sterben, als sie beide erst…mehr„Die Unschuldigen“ von Michael Crummey ist ein Roman über das Leben und Überleben an der Küste Neufundlands im 18. Jahrhundert. Dort herrscht ein kaltes und raues Klima und was für Erwachsene bereits ein herausforderndes Leben ist, ist es noch viel mehr für Kinder, die gänzlich auf sich allein gestellt sind. So ergeht es Ada und Evered, deren Eltern und kleine Schwester sterben, als sie beide erst elf und neun Jahre alt sind. Sie leben weit abgeschieden von der nächstgelegenen Stadt und wissen nicht mehr als das wenige, was ihre Eltern ihnen beigebracht haben. Sie kennen die Welt jenseits ihres Zuhauses nicht, sie können nicht lesen, nicht schreiben und sie haben keine Vorstellung davon, was es bedeutet Erwachsen zu werden.
Der Autor stammt selbst aus Neufundland und lebt seit 2001 mit seiner Familie in St. John’s, im Südosten der Insel. Umso authentischer sind seine Schilderungen vom kräftezehrenden Fischfang im eiskalten und launischen Atlantik, den langen Wintern und dem täglichen Kampf, genügend zu essen zu haben. Hinzu kommen heftige Stürme, der oftmals beklemmende Alltag in einer kleinen Hütte und die Unmöglichkeit, einander aus dem Weg gehen zu können. Mir gefiel es sehr, die beiden Geschwister auf ihrem Weg zu begleiten, in die Natur einzutauchen, mitzuerleben, wie sie die Veränderung ihrer Körper und Sinne erleben, wie sich ihr Zusammenleben dadurch verändert und wie sie gleichzeitig immer auch in ihrer kleinen vertrauten Welt bleiben.
Die Isolation von Ada und Evered wird nur durch sporadische Begegnungen mit anderen Menschen durchbrochen. Die Kontrastwirkung zwischen der Zivilisation und dem kargen Leben mit äußerst eingeschränkten Möglichkeiten und limitiertem Wissen fand ich sehr faszinierend.
Michael Crummey schreibt im Wechsel aus den Perspektiven von Ada und Evered und so bleibt der Ton insbesondere in Bezug auf die erwachende Sexualität entwaffnend kindlich und unschuldig, beinahe schon naiv. Gleichermaßen hat Crummey aber auch einen sehr poetischen Schreibstil. Insbesondere wenn er von Naturgewalten, vom Tod und von gefährlichen und erschütternden Erlebnissen erzählt, spürt man seine Wurzeln als Dichter. Einzelne Szenen ließen mich daher lange nicht los, insbesondere die im Schiffswrack.
„Die Unschuldigen“ ist ebenso ein Survival-Roman wie auch eine sensible Coming-of-Age Geschichte. Denn während Ada und Evered ihr Leben bestreiten, einen mühseligen Tag nach dem anderen, sich aufeinander verlassen und einander brauchen, verändert sich schrittweise die Beziehung der Geschwister. Ängstlich und verunsichert erleben sie den Beginn der Pubertät, sie wurden niemals aufgeklärt und die neuen Empfindungen sind ihnen ein Rätsel.
Assoziationen zu „Die blaue Lagune“ mögen naheliegend sein, doch ist dieser Roman gänzlich anders, denn es geht dem Autor nicht allein um die Beziehung der Geschwister: „I don’t want it to be the incest book“, sagte er in einem Interview im Hazlitt Magazine. Vielmehr sei es ihm wichtig gewesen, eine Geschichte über eine Kindheit auf Neufundland zu schreiben, nur dass diese unter extremen Umständen erlebt wird: „So I kind of thought about it, as a story about childhood. I just tried to write them as real children in extreme circumstances.“ Und das ist ihm gelungen, finde ich.
„Die Unschuldigen“ von Michael Crummey ist eine beklemmend-beeindruckende Schilderung eines rauen Überlebenskampfes auf Neufundland. Die Landschaft, die Arbeit und die Lebensbedingungen faszinieren, während die Geschichte der Geschwister Ada und Evered berührt. Ein intensiver und empfehlenswerter Roman.