Eine Woche vor ihrem 41. Geburtstag wird der preisgekrönten Dichterin Anne Boyer ein hoch aggressiver Brustkrebs diagnostiziert. Für die alleinerziehende Mutter, die sich von Scheck zu Scheck hangelt, ist diese katastrophale Erkrankung ein Anstoß, Sterblichkeit und die Geschlechterpolitiken von Krankheit neu zu denken. Boyer beginnt, sich schreibend mit dem Krebs und dem gesellschaftlichen Umgang damit auseinanderzusetzen.
Die Unsterblichen ist zugleich erschütternder Bericht einer Überlebenden sowie eine groß angelegte Untersuchung von Krankheit im 21. Jahrhundert. Anne Boyer zieht antike Traumtagebücher zurate, analysiert die Kapitalisierung heutiger Gesundheitsversorgung, beschäftigt sich mit Verschwörungstheorien rund um Krebs, mit Schmerz und wie man über ihn sprechen kann, aber auch mit selbsternannten Doloristen, die den Schmerz befürworten, mit Krebsfetischisten und den Lügen großer Unternehmen; sie unterzieht John Donne einer erneuten Lektüre, erfährt, dass ihr Chemotherapie-Medikament vor über hundert Jahren als Senfgas in Produktion ging, und findet schließlich Antworten in der Literatur anderer Autorinnen, die über ihre Erkrankungen und den nahenden Tod geschrieben haben: Kathy Acker, Audre Lorde, Susan Sontag, Virginia Woolf.
Alle Genregrenzen weit hinter sich lassend, hat Anne Boyer ein zutiefst berührendes und poetisches Buch über Krankheit im gegenwärtigen Kapitalismus geschrieben.
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In "Die Unsterblichen" schreibt Anne Boyer über ihre Krebserkrankung und findet dafür eine ganz neue Form
Als Erstes zersetzt sich die Sprache. Mit einem Knoten in der Brust fängt es an, aber ein Klick auf die Suchmaschine führt direkt ins Universum der medizinischen Terminologie. Hormonrezeptor-positiv, HER2-positiv, triple-negativ, nekrotisch. Basalzellen, Ki-67-Index, neoadjuvante Chemotherapie. MRT, CT, PET. Mammakarzinom. Und später dann: Name, Geburtstag, Karteinummer, Barcode, Daten in einer Akte. "Ich fürchtete, am ersten Tag, um meinen Wortschatz", schreibt die amerikanische Essayistin und Lyrikerin Anne Boyer in ihrem Wahnsinnsbuch "Die Unsterblichen". Von einem Tag auf den anderen gelten nur noch Expertisen, keine Argumente mehr, keine Begriffe, keine Politik, keine Poesie. Überhaupt gilt nicht mehr viel, vor allem, wenn es ums Überleben geht, wenn man komplett aus der Bahn geworfen wird, wenn ganz zu Recht nur noch das eigene Leben zählt und jeder Egoismus legitim wird. Alles andere scheint trivial, die Nachrichten, die Sportergebnisse, das Wetter, die intellektuellen Debatten, die Welt und wie sie so zusammenhängt.
Zumindest ist das wohl so vorgesehen, in den Geschichten, die über den Krebs erzählt werden, auch von Frauen oder, meistens dann doch, über Frauen mit Krebs, in all den Leidensgeschichten, Sterbensgeschichten, Ermutigungsgeschichten. Denn auch das ist eine Form der Sprachverstümmelung, am Ende die viel giftigere: das Geschwür der Ratgeberformeln und Selbsthilfemaximen, all der Geschichten über "einer dank Wohlverhalten, 5-km-Laufen, grünen Bio-Smoothies und positivem Denken geheilten Krankheit", wie sie in der "rosaroten Landschaft des Brustkrebsbewusstseins" wuchern, in der "nur eine Art von Menschen, die Brustkrebs hatten, zugelassen (ist): die Überlebenden". All die sentimentalen Klagen auch, in denen es zwar immer um das Leiden der Einzelnen geht, aber eben nur um Frauen als objektivierte Figuren, all ihrer Besonderheiten beraubt, ohne dass dabei das entscheidende Allgemeine dieser Schicksale sichtbar wird: der kalte, medizinische Diskurs, die Automatik der Prozeduren, die sozialen Effekte einer solchen Diagnose. Metaphern als Krankheit.
Anders als in den Tagen, als Susan Sontag ihren berühmten Essay "Krankheit als Metapher" veröffentlichte, schreibt Boyer, bestünde heute die Herausforderung nicht mehr darin, "in ein Schweigen hineinzusprechen, sondern darin, Widerstand gegen das alles übertönende Rauschen zu üben". Und anders als Sontag, die ihr Buch zwar direkt nach einer Brustkrebsbehandlung geschrieben hatte, aber ihre eigene Erkrankung darin nicht beschreibt, besteht Boyer darauf, dass das Persönliche politisch ist; und eben leider auch umgekehrt. "Nur über sich selbst nachzudenken, heißt also nicht, nur über den Tod nachzudenken", widerspricht sie, "sondern, unter diesen Umständen, über einen bestimmten Typ von Tod oder todesartigem Zustand, der keine Politik, kein gemeinschaftliches Handeln, keine Geschichtsschreibung kennt. Die industrielle Brustkrebs-Ätiologie, die misogyne und rassistische Medizingeschichte und -praxis sowie die nach Bevölkerungsschichten ungleiche Verteilung von Brustkrebsleiden und -sterben kommen in der gegenwärtigen Brustkrebserzählung nicht vor. Nur über sich selbst nachzudenken mag heißen, über den Tod nachzudenken, aber über den Tod nachzudenken heißt, über alle nachzudenken", schreibt sie. Sosehr die Diagnose sämtliche Routinen ausknockt, sosehr die Kranke herausfällt aus der Welt, so wenig entkommt sie ihr.
Wie aber schreibt man über diese Krankheit, wenn man nicht Teil einer individualistischen Erbauungs- oder Trostliteratur sein will? Wie geht die Geschichte weiter, die mit dem Satz anfängt: "2014 wurde bei mir Brustkrebs diagnostiziert, mit 41." Boyer will "Krebs nicht so erzählen, wie es mir beigebracht wurde", will "lieber gar nichts schreiben als Propaganda zu betreiben für die Welt, wie sie ist", will nicht, nach ihren Haaren und ihren Brüsten, auch noch ihre Stimme verlieren, ihre Sprache, ihre Wut. Ihr gelingt eine neue Art des Schreibens über ihren Krebs, zum einen, weil sich ihr Ton, ihr Temperament, ihre Haltung von all den empfindsamen Zeugnissen unterscheidet, die sie so "unverzeihlich" findet. Ihr Witz wiederum hat nichts mit jenem Fatalismus zu tun, den man Galgenhumor nennt, sondern mit einem Blick auf die besonders lächerlichen Aspekte einer Welt, die sich gerne für gesund hält, auf bizarre Auswüchse der Charity-Kultur, die rosa Fracking-Bohrtürme einer großen Brustkrebsstiftung) oder die Beobachtung, dass den Patientinnen in den Vereinigten Staaten für ihre Genesung zwar keine zusätzlichen Krankentage zustehen, aber eine Brustrekonstruktion - bei freier Wahl des Implantats. Dadurch wird ihr Buch nie einfach zu einer Anklage gegen eine profitgetriebene Medizin und ein diskriminierendes Gesundheitssystem, so wichtig ihr dieser Punkt auch ist.
Vor allem aber findet Boyer, indem sie sich den üblichen Genres verweigert, eine ganz eigene Form, die ihr Buch heraussprengt aus all den Abteilungen, in die es die hilflosen Buchläden dann doch einordnen werden. Am Ende geht es eben nicht um Krankheit oder Frauen oder ein bewegendes Tagebuch. Sondern um alles. Sie wollte, dass "The Undying" wie "Die Unsterblichen" schlecht übersetzbar im Original heißt, viel "geradliniger" werde, "aber es schwankte und neigte sich immer mehr in Richtung Poesie". Was auch daran liegt, dass das gar keine Frage des Stils ist, sondern eine des Erkenntnisapparats.
Es ist, wenn man so will, eine Geschichte der Krankheit von unten, die Boyer schreibt, eine Geschichte ihres Körpers oder, wie sie über Aristides' Bericht über seinen Aufenthalt im Asklepieion in Pergamon aus dem Jahr 170 schreibt, ein "Bericht darüber, was es heißt, einen Körper zu haben, an einem bestimmten Ort, zu einer bestimmten Zeit". (Dass dieser Ort Kansas City heißt, nicht Brooklyn oder San Francisco, ist ein Detail, das auch nicht ganz unwesentlich ist). Einen Körper, dessen Grenzen sich auflösen, nach außen und nach innen. Der tropft und blutet und vollgepumpt wird mit Giften wie Senfgas und pittoresk klingenden Drogen wie Adriamycin und der sich, in ihrem Fall, öffnet für Texte, Filme, Kunstwerke über Krankheit und der sensibel wird für die Dinge, an denen auch die vermeintlich gesunde Welt leidet.
Die Krankheit hilft, trotz aller Schmerzen und Schmerzmittel, die Welt schärfer zu sehen, trägt zu einer "intensivierten Wahrnehmung des Wirklichen" bei. Was auch fast nach einem rosaroten Kalenderspruch klingt, nach einer besonderen Empfindsamkeit, die der kranke Körper entwickelt, nach einer Verklärung der Schmerzen zur metaphysischen Erfahrung. Aber auch das ist nicht psychologisch oder mystisch gemeint, sondern als Veränderung der Perspektive: "Krankheit strahlt aus dem Krankenbett heraus ab, auf das Geringfügige, Schäbige, auf Ichbezogenheit, Inkonsequenz, das Konto, den Haushalt, die Gesellschaftsordnung", schreibt Boyer.
"The Undying" erschien im September 2019, und wenn es nun, ausgezeichnet mit dem Pulitzerpreises 2020, auf Deutsch erscheint, lässt sich gar nicht vermeiden, all die Bezüge zu einer Welt zu sehen, deren Krankheiten gerade unübersehbar sind. Und die doch ein großes Talent hat, zu glauben, dass sich all die Wunden, die in der Pandemie sichtbar geworden sind, mit billigen Pflastern heilen lassen. Die schnell vergisst, was sie doch gerade gelernt hat: dass vor dem Virus und auch sonst doch nicht alle gleich sind. Die, während sie allmählich "unstirbt", zu einer Normalität zurückkehrt, unter der so viele leiden.
Als Boyer dem Tod entkommen ist - nie würde sie sich als "gesund" bezeichnen - und einen negativen Gentest bekommt, sagt die alleinerziehende Mutter ihrer 14-jährigen Tochter, dass sie sich keine Sorgen machen müsse, "durch einen genetischen Fluch oder anderweitig anfällig zu sein". - "Du hast den Fluch vergessen", antwortete die Tochter, "dass ich immer noch in der Welt lebe, die dich krank gemacht hat." HARALD STAUN.
Anne Boyer: "Die Unsterblichen. Krankheit, Körper, Kapitalismus". Aus dem Englischen von Daniela Seel. Matthes & Seitz, 280 Seiten, 25 Euro. Erscheint am Freitag.
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