„Die Unvollständige“. Es hätte auch „Die Unvollständigen“ heißen können, denn im Mittelpunkt stehen ZWEI Frauen. Da ist Tala, die Schauspielerin, mit deren vermutlichem Suizid die Geschichte mit wenigen nüchternen Worten beginnt. Und da ist die Ich-Erzählerin, die die Todesnachricht aus ihrer
Wohnung und in unruhigen, mäandernden Bewegungen durch die Straßen von Berlin treibt. Sie versucht, dem…mehr„Die Unvollständige“. Es hätte auch „Die Unvollständigen“ heißen können, denn im Mittelpunkt stehen ZWEI Frauen. Da ist Tala, die Schauspielerin, mit deren vermutlichem Suizid die Geschichte mit wenigen nüchternen Worten beginnt. Und da ist die Ich-Erzählerin, die die Todesnachricht aus ihrer Wohnung und in unruhigen, mäandernden Bewegungen durch die Straßen von Berlin treibt. Sie versucht, dem Ort der Nachricht so weit wie möglich zu entfliehen und gleichzeitig ihrer Bedeutung so nah wie möglich zu kommen.
Valerie Bäuerlein lässt in ihrem Debüt die beiden Frauen auf mehreren Zeitebenen auf Spurensuche gehen. Die namenlose Erzählerin, eine Regisseurin, die mit Tala eigentlich einen Film drehen wollte, streift stattdessen nun durch Berlins Straßen und versucht Bruchstücke zusammenzusetzen. Von der Tala ihrer Erinnerungen, der Tala die in Briefen von ihrer letzten abenteuerlichen Reise zu den entlegensten Orten Asiens berichtet. Auch Tala schien eine Suchende gewesen zu sein. Als Tochter einer iranischen Mutter und eines griechischen Gastarbeiters wurden ihr Entwurzelung und Entfremdung in die Wiege gelegt.
„War es vielleicht so, […] dass Tala versucht hatte, in der Geschichte ihrer Eltern ihre eigene Identität zu finden, während ich zugleich mich von meiner endlich abzutrennen versuchte, und gab es wohl so etwas wie ein kollektives Gedächtnis, dem wir angehörten, waren Orte und Geschichte und Menschen untrennbar miteinander verstrickt, oder waren es nur wir selbst, die nach einer Auflösung, einer Erklärung suchten, während alles naturgemäß Chaos war, ohne tieferliegende Struktur oder Ordnung, ohne Sinn?“ (S.26)
Die „Unvollständige“ setzt sich klug und differenziert mit der Suche nach der inneren Vollständigkeit und nach Erklärungen für die Unmöglichkeiten unserer Zeit auseinander. Kann es Vollständigkeit geben? Oder stellt man am Ende doch immer nur wieder fest, dass man bestenfalls auf Fragmente trifft, die sich zusammensetzen lassen und sich sofort wieder auflösen und verlieren?
Der Ton des Textes, die Gedanken der durch die Stadt tigernden Erzählerin wirken nüchtern, kühl, distanziert. Sie wechseln sich mit Talas Briefen ab, so dass wir der Beziehung und den Protagonistinnen langsam auf die Spur kommen. Die Autorin schafft in jeglicher Hinsicht ständig Gegensätze – Ordnung und Chaos, Identifikation und Abtrennung, Traum und Wirklichkeit, Erinnerung und Interpretation. Manchmal dachte ich an Paul Auster und an etwas avantgardistisches. Es sind 150 Seiten, die man nicht einfach so weg liest. Ich habe mir auf fast jeder Seite etwas angestrichen, das mich aufhorchen ließ, sprachliche Schönheit in mir erzeugte oder an etwas rührte, das ich nicht sofort benennen konnte. Valerie Bäuerlein ist eine vielseitige Künstlerin, die Fotografie, Bildende Kunst und Filmregie studierte und u.a. als Filmkritikerin und Dokumentarfilmerin arbeitete. Ihre vielseitigen künstlerischen Perspektiven drücken sich auch in diesem Buch aus. Es hat mich ins Denken und Reflektieren gebracht und wird sich noch lange in mir bewegen.