Die Tempelruinen von Angkor Wat, die Pyramiden der Maya -Spuren einstmals blühender Kulturen. Warum nahm die Geschichte auf den verschiedenen Kontinenten einen so unterschiedlichen Verlauf? Der amerikanische Evolutionsbiologe Jared Diamond, der Politikwissenschaftler James Robinson und weitere renommierte Wissenschaftler ziehen historische Vergleiche und spüren den Kräften nach, die Geschichte in Bewegung versetzen.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.10.2008Kommen Sie mir nicht mit Wissen, das keine Voraussagen ermöglicht!
Für was Geschichte gut ist: Ein Band versammelt brillante Studien zu der Frage, warum Kulturen aufblühen und wieder zerfallen
Was im Tagungstitel nach Volkshochschule klingen mag, sind tatsächlich wissenschaftliche Ereignisse; denn Klaus Wiegandt, ein Mäzen von Format und Urteilskraft, versteht es, international herausragende Forscher in die Europäische Akademie Otzenhausen zu interdisziplinären Debatten zusammenzuführen, wie dies hierzulande sonst kaum geschieht.
Das sechste Kolloquium seiner "Stiftung für wissenschaftliche nachberufliche Bildung" über die "Ursprünge der modernen Welt" fällt insofern aus der Reihe heraus, als die Stiftung hier zum Mitspieler im Forschungsprozess zu werden scheint. Zum ersten Mal waren nur ausländische, vor allem anglophone Wissenschaftler eingeladen, unter denen Historiker überraschenderweise eine Minderheit bildeten. Klaus Wiegandt hatte dem Geographen und Evolutionsbiologen Jared Diamond (Los Angeles) und dem Politikwissenschaftler James A. Robinson (Harvard) die Gestaltung überlassen, und während es ihm darum ging, die Verbreitung von Arm und Reich in der Gegenwart aufzuklären, um das Verhältnis in Zukunft ausgeglichener gestalten zu können, nutzten die beiden Amerikaner das Forum zur Abrechnung mit der Geschichtswissenschaft.
Völlig zu Recht wiesen sie zwar die Zunft der Historiker darauf hin, dass sich noch andere Disziplinen - Anthropologie etwa, Ökologie, Ökonomie oder Archäologie - mit Geschichte befassen und eine traditionsverhaftete Historie marginalisiert zu werden droht; nachdrücklich zustimmen kann man ihnen auch mit dem Vorwurf, das Forschungsfeld der meisten Fachvertreter sei einfach zu begrenzt, um ohne transkulturell-vergleichenden Blick zu wissenschaftlich belastbaren Aussagen zu kommen; konsensfähig ist auch die These, dass beschriebene historische Sachverhalte erst mit Hilfe eines theoretischen Rahmens erklärt werden können. Inakzeptabel ist aber, wenn Diamond als Kriterium für Wissenschaftlichkeit, an dem sich auch die Geschichte messen lasse müsse, das "Potential für nutzbare Voraussagen" benennt. Wissen, das nicht für die Prognose und demnach auch nicht zur Beeinflussung erwarteter Ereignisse dienen könne, sei also kein wissenschaftliches Wissen.
Diamond ist epistemologisch unaufgeklärt. Wer wie er von der Beobachtung der Phänomene über die Erklärung zur Erkenntnis von Gesetzen fortschreiten möchte, sieht daran vorbei, dass schon der erste Schritt seines positivistischen Verfahrens ohne theoretische Grundlagen, also revidierbare und "subjektive" Thesen, nicht auskommt. Von spezifisch amerikanischen Kontroversen geprägt, wirft er der Geschichtswissenschaft vor, in postmoderner Stimmungslage ihren Vorurteilen zu huldigen und die Wahrheitssuche aufzugeben, ohne doch selbst zu wissen, dass uns schon Kant und der deutsche Historismus mit der ernüchternden Erkenntnis unvermeidlicher Perspektivität bei der Wahrnehmung konfrontiert haben.
Wer die Moderne erklären will, erliegt nur zu leicht der Versuchung, sie entwicklungsgeschichtlich abzuleiten, und bedient sich - von der Moderne selbst geprägt - gern der Vorstellung, dass es eine Reihe von Revolutionen war, die sie hervorbrachte. Das ist auch in diesem Band der Fall. Die vielberufene neolithische Revolution mit der Erfindung der Landwirtschaft in sechs oder acht Regionen der Welt vor zwölftausend (oder weniger) Jahren ist demnach der Ursprung der Ungleichheit überhaupt, die bis zur Gegenwart nie überwunden werden konnte. Demselben kausalistischen Denken verpflichtet und ohne Verständnis für historischen Wandel wird auch behauptet, dass die aktuellen Kohlenstoffwerte auf die Abholzung der Wälder vor achttausend Jahren und der Anstieg der Methanwerte auf die Bewässerung im ostasiatischen Reisanbau vor fünftausend Jahren zurückgehen. Pseudogeschichte ist blind für die Gefahren politischer Instrumentalisierung.
Trotz seiner verfehlten Anlage bietet der opulente Tagungsband aber eine Reihe brillanter Studien, die sich Beweisziel und Methoden seiner wissenschaftlichen Betreuer oft gerade entziehen. So macht sich die amerikanische Anthropologin Sissel Schroeder (Wisconsin) bei der Untersuchung früher Kulturen in Nordamerika (Woodland- und Mississippi-Kultur) die Einsicht zunutze, dass für die Entstehung von Ungleichheit neben ökonomischen auch handlungs- und praxisorientierte Erklärungen berücksichtigt werden müssten, ja der Rang des Individuums schon in der Prähistorie spreche dafür, die Ungleichheit für ein Konstituens jeder Gesellschaft zu halten. Der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr (Evanston, Illinois) zeigt, dass die europäische Aufklärung neuen Technologien ein wissenschaftliches Fundament gegeben und dadurch erst ihren Durchbruch in breiter Anwendung verschafft habe. Der niederländische Sozialhistoriker Jan Luiten van Zanden, ebenso wie Robinson der modernen Institutionenökonomie verpflichtet, macht demgegenüber geltend, es seien die niedrigen Zinsen und die günstige "Skillprämie" (abgeleitet vom unterschiedlichen Lohn eines qualifizierten Handwerkers und eines ungelernten Arbeiters) gewesen, die schon seit etwa 1350 der westeuropäischen Wirtschaft vor China und Japan einen Vorsprung von mindestens drei- bis vierhundert Jahren verschafft haben.
Recht erfolglos blieb die Ursachenforschung für den Zusammenbruch älterer Kulturen. Im Falle von Angkor handelt es sich wohl, wie David Chandler (Melbourne) plausibel macht, bloß um eine historische Idee eindringender Europäer, begünstigt durch einen rätselhaften Gedächtnisverlust für die Blüte der alten städtischen Kultur bei den Kambodschanern selbst. Und für die Maya in Mesoamerika war die Deutung von Klassik und Niedergang, wie David L. Webster (Pennsylvania) in einer mythenkritischen Studie nahelegt, ohnehin vom "Ge- und Missbrauch" der Geschichte bestimmt, der bis heute anhält: "Jede Generation bekommt die Maya, die sie verdient oder glaubt, haben zu wollen."
Mit selbstironischer Gelassenheit bilanziert der Klimatologe Mark A. Cane (Columbia University), dass seinem Fach Prognosen abgepresst werden, die zwar nicht eintreffen, aber deshalb einen umso verheerenderen Einfluss auf das Verhalten der Menschen haben können (falsche Voraussage des El Niño 1997 in Zimbabwe bewirkte Kreditverweigerung und führte zu Ernteausfällen). Den stärksten Widerspruch zur unilinearen Geschichtsauffassung erhebt R. Bin Wong von der University of Los Angeles. Wong geht der Frage nach, wie die singuläre Erscheinung des chinesischen Imperiums seit Jahrtausenden zu verstehen sei, und weist eindrucksvoll auf die wiederholt von der Zentrale angewandten politischen und administrativen Maßnahmen zur ökonomischen Förderung der Regionen hin. Seine Folgerung, dass die Europäische Union diesbezüglich von China lernen könne, stellt einen Tabubruch dar, aber solche kreativen Zerstörungen geben der modernen Geschichtswissenschaft erst ihre lebensweltliche Relevanz.
MICHAEL BORGOLTE
James A. Robinson, Klaus Wiegandt (Hrsg.): "Die Ursprünge der modernen Welt". Geschichte im wissenschaftlichen Vergleich. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2008. 679 S., Abb., Karten, br., 14,95 [Euro].
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Für was Geschichte gut ist: Ein Band versammelt brillante Studien zu der Frage, warum Kulturen aufblühen und wieder zerfallen
Was im Tagungstitel nach Volkshochschule klingen mag, sind tatsächlich wissenschaftliche Ereignisse; denn Klaus Wiegandt, ein Mäzen von Format und Urteilskraft, versteht es, international herausragende Forscher in die Europäische Akademie Otzenhausen zu interdisziplinären Debatten zusammenzuführen, wie dies hierzulande sonst kaum geschieht.
Das sechste Kolloquium seiner "Stiftung für wissenschaftliche nachberufliche Bildung" über die "Ursprünge der modernen Welt" fällt insofern aus der Reihe heraus, als die Stiftung hier zum Mitspieler im Forschungsprozess zu werden scheint. Zum ersten Mal waren nur ausländische, vor allem anglophone Wissenschaftler eingeladen, unter denen Historiker überraschenderweise eine Minderheit bildeten. Klaus Wiegandt hatte dem Geographen und Evolutionsbiologen Jared Diamond (Los Angeles) und dem Politikwissenschaftler James A. Robinson (Harvard) die Gestaltung überlassen, und während es ihm darum ging, die Verbreitung von Arm und Reich in der Gegenwart aufzuklären, um das Verhältnis in Zukunft ausgeglichener gestalten zu können, nutzten die beiden Amerikaner das Forum zur Abrechnung mit der Geschichtswissenschaft.
Völlig zu Recht wiesen sie zwar die Zunft der Historiker darauf hin, dass sich noch andere Disziplinen - Anthropologie etwa, Ökologie, Ökonomie oder Archäologie - mit Geschichte befassen und eine traditionsverhaftete Historie marginalisiert zu werden droht; nachdrücklich zustimmen kann man ihnen auch mit dem Vorwurf, das Forschungsfeld der meisten Fachvertreter sei einfach zu begrenzt, um ohne transkulturell-vergleichenden Blick zu wissenschaftlich belastbaren Aussagen zu kommen; konsensfähig ist auch die These, dass beschriebene historische Sachverhalte erst mit Hilfe eines theoretischen Rahmens erklärt werden können. Inakzeptabel ist aber, wenn Diamond als Kriterium für Wissenschaftlichkeit, an dem sich auch die Geschichte messen lasse müsse, das "Potential für nutzbare Voraussagen" benennt. Wissen, das nicht für die Prognose und demnach auch nicht zur Beeinflussung erwarteter Ereignisse dienen könne, sei also kein wissenschaftliches Wissen.
Diamond ist epistemologisch unaufgeklärt. Wer wie er von der Beobachtung der Phänomene über die Erklärung zur Erkenntnis von Gesetzen fortschreiten möchte, sieht daran vorbei, dass schon der erste Schritt seines positivistischen Verfahrens ohne theoretische Grundlagen, also revidierbare und "subjektive" Thesen, nicht auskommt. Von spezifisch amerikanischen Kontroversen geprägt, wirft er der Geschichtswissenschaft vor, in postmoderner Stimmungslage ihren Vorurteilen zu huldigen und die Wahrheitssuche aufzugeben, ohne doch selbst zu wissen, dass uns schon Kant und der deutsche Historismus mit der ernüchternden Erkenntnis unvermeidlicher Perspektivität bei der Wahrnehmung konfrontiert haben.
Wer die Moderne erklären will, erliegt nur zu leicht der Versuchung, sie entwicklungsgeschichtlich abzuleiten, und bedient sich - von der Moderne selbst geprägt - gern der Vorstellung, dass es eine Reihe von Revolutionen war, die sie hervorbrachte. Das ist auch in diesem Band der Fall. Die vielberufene neolithische Revolution mit der Erfindung der Landwirtschaft in sechs oder acht Regionen der Welt vor zwölftausend (oder weniger) Jahren ist demnach der Ursprung der Ungleichheit überhaupt, die bis zur Gegenwart nie überwunden werden konnte. Demselben kausalistischen Denken verpflichtet und ohne Verständnis für historischen Wandel wird auch behauptet, dass die aktuellen Kohlenstoffwerte auf die Abholzung der Wälder vor achttausend Jahren und der Anstieg der Methanwerte auf die Bewässerung im ostasiatischen Reisanbau vor fünftausend Jahren zurückgehen. Pseudogeschichte ist blind für die Gefahren politischer Instrumentalisierung.
Trotz seiner verfehlten Anlage bietet der opulente Tagungsband aber eine Reihe brillanter Studien, die sich Beweisziel und Methoden seiner wissenschaftlichen Betreuer oft gerade entziehen. So macht sich die amerikanische Anthropologin Sissel Schroeder (Wisconsin) bei der Untersuchung früher Kulturen in Nordamerika (Woodland- und Mississippi-Kultur) die Einsicht zunutze, dass für die Entstehung von Ungleichheit neben ökonomischen auch handlungs- und praxisorientierte Erklärungen berücksichtigt werden müssten, ja der Rang des Individuums schon in der Prähistorie spreche dafür, die Ungleichheit für ein Konstituens jeder Gesellschaft zu halten. Der Wirtschaftshistoriker Joel Mokyr (Evanston, Illinois) zeigt, dass die europäische Aufklärung neuen Technologien ein wissenschaftliches Fundament gegeben und dadurch erst ihren Durchbruch in breiter Anwendung verschafft habe. Der niederländische Sozialhistoriker Jan Luiten van Zanden, ebenso wie Robinson der modernen Institutionenökonomie verpflichtet, macht demgegenüber geltend, es seien die niedrigen Zinsen und die günstige "Skillprämie" (abgeleitet vom unterschiedlichen Lohn eines qualifizierten Handwerkers und eines ungelernten Arbeiters) gewesen, die schon seit etwa 1350 der westeuropäischen Wirtschaft vor China und Japan einen Vorsprung von mindestens drei- bis vierhundert Jahren verschafft haben.
Recht erfolglos blieb die Ursachenforschung für den Zusammenbruch älterer Kulturen. Im Falle von Angkor handelt es sich wohl, wie David Chandler (Melbourne) plausibel macht, bloß um eine historische Idee eindringender Europäer, begünstigt durch einen rätselhaften Gedächtnisverlust für die Blüte der alten städtischen Kultur bei den Kambodschanern selbst. Und für die Maya in Mesoamerika war die Deutung von Klassik und Niedergang, wie David L. Webster (Pennsylvania) in einer mythenkritischen Studie nahelegt, ohnehin vom "Ge- und Missbrauch" der Geschichte bestimmt, der bis heute anhält: "Jede Generation bekommt die Maya, die sie verdient oder glaubt, haben zu wollen."
Mit selbstironischer Gelassenheit bilanziert der Klimatologe Mark A. Cane (Columbia University), dass seinem Fach Prognosen abgepresst werden, die zwar nicht eintreffen, aber deshalb einen umso verheerenderen Einfluss auf das Verhalten der Menschen haben können (falsche Voraussage des El Niño 1997 in Zimbabwe bewirkte Kreditverweigerung und führte zu Ernteausfällen). Den stärksten Widerspruch zur unilinearen Geschichtsauffassung erhebt R. Bin Wong von der University of Los Angeles. Wong geht der Frage nach, wie die singuläre Erscheinung des chinesischen Imperiums seit Jahrtausenden zu verstehen sei, und weist eindrucksvoll auf die wiederholt von der Zentrale angewandten politischen und administrativen Maßnahmen zur ökonomischen Förderung der Regionen hin. Seine Folgerung, dass die Europäische Union diesbezüglich von China lernen könne, stellt einen Tabubruch dar, aber solche kreativen Zerstörungen geben der modernen Geschichtswissenschaft erst ihre lebensweltliche Relevanz.
MICHAEL BORGOLTE
James A. Robinson, Klaus Wiegandt (Hrsg.): "Die Ursprünge der modernen Welt". Geschichte im wissenschaftlichen Vergleich. Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main 2008. 679 S., Abb., Karten, br., 14,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Michael Borgolte ist gar nicht einverstanden mit den Kriterien für Wissenschaftlichkeit, wie sie vom sechsten Kolloquiums der "Stiftung für wissenschaftliche nachberufliche Bildung" aufgestellt wurden, auf das dieser Band zurückgeht. Zum bloßen Potential für verwertbare Prognosen möchte Borgolte Wissen nicht reduziert sehen. Entsprechend unwohl fühlt er sich bei dem im Band unternommenen Versuch, die Moderne gut kausalistisch entwicklungshistorisch abzuleiten. Zum Glück kann Borgolte bei der Lektüre aufatmen. Die brillantesten Beiträge des Tagungsbandes, freut er sich, entzögen sich diesem angepeilten Beweisziel und entsprechender Methoden. Borgolte entdeckt Autoren, die praxisorientierte Erklärungsmuster für die Entstehung von Ungleichheit bevorzugen oder die mit Gelassenheit und Selbstironie von der verheerenden Wirkung abgepresster Prognosen berichten. Eine Richtung, die Borgolte Hoffnung macht - auf Geschichtswissenschaft mit lebensweltlicher Relevanz.
© Perlentaucher Medien GmbH
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