Ein Kompass für die nächste Gesellschaft, gewidmet den kapitalismuskritischen Strömungen in den globalen Klimabewegungen Nachhaltig kann eine Gesellschaft nur sein, wenn sie den Zwang zu immer neuen Landnahmen bricht, der im kapitalistischen Besitz als Strukturprinzip angelegt ist. Eine Gesellschaft, die dieses expansive Prinzip auf demokratische Weise überwindet, muss eine sozialistische sein, argumentiert Dörre in diesem grundlegenden Buch. Um wieder Strahlkraft zu gewinnen, muss der Sozialismus jedoch von seinem dogmatisch erstarrten Anspruch abrücken und nochmals zu einer attraktiven Utopie werden. Inhalt dieser Utopie kann nicht mehr die Befreiung der Produktivkräfte aus den Fesseln hemmender Produktionsverhältnisse sein. Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, der die eigene Geschichte und sein vielfältiges Scheitern reflektiert und mitdenkt, steht für die Suche nach einer Notbremse, die den mit Hochgeschwindigkeit auf einen Abgrund zurasenden Zug zum Halten bringt. Noch aber ist Zeit, die Weichen so zu stellen, dass andere Auswege aus der epochalen ökonomisch-ökologischen Zangenkrise möglich werden. Im Mittelpunkt von Dörres Gesellschaftsentwurf steht eine grundlegend veränderte Beziehung zwischen Gesellschaft und Natur, die feministische, ökologische und auch indigene Strömungen kapitalismuskritischen Denkens miteinbezieht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 14.12.2021Fehlt bloß noch das revolutionäre Subjekt
Andreas Malm und Klaus Dörre finden, dass es jetzt aber wirklich Zeit für den Sozialismus ist
Die Zweifel daran, ob ein demokratisch-kapitalistisches System dem Klimawandel standhalten kann, beschert einem ökologisch erneuerten Sozialismus Zulauf. Der Vorsprecher seines militanten Flügels ist der sich selbst als Öko-Leninist bezeichnende Aktivist und Humanökologe Andreas Malm. Der an der Universität Lund lehrende Professor hat mit der Forderung, Pipelines in die Luft zu jagen und SUVs zu beschädigen, auf sich aufmerksam gemacht. Er will den Klimaverhandlungen damit jenen Druck geben, den demokratische Abwägung allein nicht herbeiführen könnte. Malm legt darüber aber kein eigenes Konzept für eine naturschonende Gesellschaftsordnung vor, weshalb nicht einmal klar wird, warum sein Sozialismus nicht sogar besonders jene Armen trifft, die er eigentlich schützen will. Offen bleibt auch, wie er durch Militanz die als notwendig erachtete technologische Innovation erreichen will. Hier wäre mehr Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch der Sozialismus hat ja eine düstere Ökobilanz.
Trotzdem ist Malm nicht bloß ein stumpfer Ökokrieger. Sein neues Buch tritt einen Schritt zurück und fragt, was neuere kulturwissenschaftliche Theorien zur Lösung des Klimaproblems beizutragen haben. Seine Antwort lautet: Gar nichts, sie schaden nur. Die Forderung nach einem neuen Naturbild, das nicht mehr auf Herrschaft und Ausbeutung beruht, habe im Fahrwasser des Poststrukturalismus eine Reihe theoretischer Neubildungen hervorgebracht, die es darauf abgesehen haben, die Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft aufzulösen. Oft werde in Abrede gestellt, dass es überhaupt eine Natur außerhalb unserer Wahrnehmung gibt. Der Klimawandel werde darüber zum Diskurseffekt, den man beliebig wegdeuten könne. Damit würden diese Theorien, die sich gern herrschaftskritisch geben, letztlich affirmativ wirken. Wie Malm scharfsinnig begründet, kann man nur von Theorien abraten, die, wie der Neue Materialismus, leblose Materie zu quasi-intentionalen Akteuren erheben. Besonders haben es ihm die theoretischen Einlassungen von Bruno Latour und Donna Haraway angetan. Deren Konstruktivismus ist für Malm nichts anderes als das kulturindustrielle Pendant eines Kapitalismus, der jeden Fleck Natur in Profit, vornehmer ausgedrückt: Kultur, umwandelt. Wenn diese Autoren doch vor den Gefahren des Klimawandels warnen, dann können sie, wie er überzeugend darlegt, nur aufgrund ihrer theoretischen Inkonsequenz.
Für Malm gilt: Man muss sich von diesen Theorien schleunigst abwenden, will man die Natur retten. Er hält es mit dem späteren Marx, der ein realistisches Bild der Natur hat. Natur ist real, Natur und Gesellschaft bilden Gegensätze. Es kostet Malm viel Mühe, diese einfachen Unterscheidungen wieder zur Geltung zu bringen. Seine politischen Ausführungen geben aber keine Anleitung für eine vernünftigere Gesellschaftsordnung.
Genaueres dazu erfährt man von dem Soziologen Klaus Dörre, der für die neue Dingmagie wie Malm nur Spott übrig hat, aber nicht dessen Faszination an der Gewalt teilt. Dörre entdeckt im Klimawandel das Momentum, den darbenden Sozialismus neu zu beleben, ganz einfach deshalb, weil der Natur mit einem auf Verschleiß angelegten System wie dem Kapitalismus nicht beizukommen sei. Mit den steigenden Temperaturen werde der Druck steigen, das kapitalistische System zu einem gemein- und naturverträglichen Sozialismus umzubauen.
Dörre will nicht die alten Fehler wiederholen. Der größte besteht für ihn darin, den Sozialismus als wissenschaftliche Doktrin zu betrachten, die über eine bürokratische Elite exekutiert werden müsse. Sein Wunschbild ist ein demokratischer Sozialismus, der von unten wächst und Klimaziele biegsam mit sozialen Forderungen kombiniert. Es ist ihm bewusst, dass sich die sozialistische Wiederverzauberung der Natur nicht von Geisterhand vollziehen wird. Den Rechtfertigungsdruck sollen die UN-Entwicklungsziele liefern, die soziale und ökologische Faktoren koppeln.
Auf dieser Legitimationsbasis sollen neue Transformationsräte politische und ökonomische Prozesse auf ihre soziale und ökologische Nachhaltigkeit prüfen. Verstößt ein Unternehmen gegen den ökosozialen Imperativ, soll das den Anstoß zu seiner schrittweisen Überführung in kollektives Gemeineigentum geben. Gerecht ist das für Dörre auch deshalb, weil große Unternehmen aus sich selbst heraus gar nicht existenzfähig sind. Unter den ersten Branchen, die sozialisiert werden müssten, sind für ihn die Agrarindustrie und der Bankensektor. Er ist realistisch genug zu sehen, dass ein neuer ökonomischer Kollektivismus kein Selbstläufer ist. Erstens steht der Nachweis seiner Wirtschaftlichkeit aus. Zweitens lässt der Klimawandel wenig Zeit für umfangreiche und riskante Sozialexperimente.
Die größten Schwierigkeiten bereitet Dörre die Identifizierung seiner Trägerschicht. Die internationalen Entwicklungsziele üben keineswegs den Rechtfertigungsdruck aus, den er ihnen zuschreibt; und die netzwerkartig organisierte Koalition aus prekär beschäftigten Akademikern und Teilen der Unterschicht, die ihm vorschwebt, wird nicht ausreichen, um Großunternehmen in die Enge zu treiben. So fehlt dem Ökosozialismus sein (r)evolutionäres Subjekt. Das macht die Systemkritik des Autors aber nicht obsolet. Die Mischung aus utopischem Überschwang und hartem Realitätssinn hebt das Buch wohltuend von einer idealistischen Kritik ab, die sich auf Appelle an den Gemeinsinn beschränkt. Es ist auch dann mit Gewinn zu lesen, wenn der Weg zum utopischen Ziel nicht ganz überzeugt. THOMAS THIEL.
Andreas Malm: "Der Fortschritt dieses Sturms". Natur und Gesellschaft in seiner sich erwärmenden Welt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 330 S., geb., 28,- Euro.
Klaus Dörre: "Die Utopie des Sozialismus". Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 345 S., geb. 24,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Andreas Malm und Klaus Dörre finden, dass es jetzt aber wirklich Zeit für den Sozialismus ist
Die Zweifel daran, ob ein demokratisch-kapitalistisches System dem Klimawandel standhalten kann, beschert einem ökologisch erneuerten Sozialismus Zulauf. Der Vorsprecher seines militanten Flügels ist der sich selbst als Öko-Leninist bezeichnende Aktivist und Humanökologe Andreas Malm. Der an der Universität Lund lehrende Professor hat mit der Forderung, Pipelines in die Luft zu jagen und SUVs zu beschädigen, auf sich aufmerksam gemacht. Er will den Klimaverhandlungen damit jenen Druck geben, den demokratische Abwägung allein nicht herbeiführen könnte. Malm legt darüber aber kein eigenes Konzept für eine naturschonende Gesellschaftsordnung vor, weshalb nicht einmal klar wird, warum sein Sozialismus nicht sogar besonders jene Armen trifft, die er eigentlich schützen will. Offen bleibt auch, wie er durch Militanz die als notwendig erachtete technologische Innovation erreichen will. Hier wäre mehr Überzeugungsarbeit zu leisten. Auch der Sozialismus hat ja eine düstere Ökobilanz.
Trotzdem ist Malm nicht bloß ein stumpfer Ökokrieger. Sein neues Buch tritt einen Schritt zurück und fragt, was neuere kulturwissenschaftliche Theorien zur Lösung des Klimaproblems beizutragen haben. Seine Antwort lautet: Gar nichts, sie schaden nur. Die Forderung nach einem neuen Naturbild, das nicht mehr auf Herrschaft und Ausbeutung beruht, habe im Fahrwasser des Poststrukturalismus eine Reihe theoretischer Neubildungen hervorgebracht, die es darauf abgesehen haben, die Unterschiede zwischen Natur und Gesellschaft aufzulösen. Oft werde in Abrede gestellt, dass es überhaupt eine Natur außerhalb unserer Wahrnehmung gibt. Der Klimawandel werde darüber zum Diskurseffekt, den man beliebig wegdeuten könne. Damit würden diese Theorien, die sich gern herrschaftskritisch geben, letztlich affirmativ wirken. Wie Malm scharfsinnig begründet, kann man nur von Theorien abraten, die, wie der Neue Materialismus, leblose Materie zu quasi-intentionalen Akteuren erheben. Besonders haben es ihm die theoretischen Einlassungen von Bruno Latour und Donna Haraway angetan. Deren Konstruktivismus ist für Malm nichts anderes als das kulturindustrielle Pendant eines Kapitalismus, der jeden Fleck Natur in Profit, vornehmer ausgedrückt: Kultur, umwandelt. Wenn diese Autoren doch vor den Gefahren des Klimawandels warnen, dann können sie, wie er überzeugend darlegt, nur aufgrund ihrer theoretischen Inkonsequenz.
Für Malm gilt: Man muss sich von diesen Theorien schleunigst abwenden, will man die Natur retten. Er hält es mit dem späteren Marx, der ein realistisches Bild der Natur hat. Natur ist real, Natur und Gesellschaft bilden Gegensätze. Es kostet Malm viel Mühe, diese einfachen Unterscheidungen wieder zur Geltung zu bringen. Seine politischen Ausführungen geben aber keine Anleitung für eine vernünftigere Gesellschaftsordnung.
Genaueres dazu erfährt man von dem Soziologen Klaus Dörre, der für die neue Dingmagie wie Malm nur Spott übrig hat, aber nicht dessen Faszination an der Gewalt teilt. Dörre entdeckt im Klimawandel das Momentum, den darbenden Sozialismus neu zu beleben, ganz einfach deshalb, weil der Natur mit einem auf Verschleiß angelegten System wie dem Kapitalismus nicht beizukommen sei. Mit den steigenden Temperaturen werde der Druck steigen, das kapitalistische System zu einem gemein- und naturverträglichen Sozialismus umzubauen.
Dörre will nicht die alten Fehler wiederholen. Der größte besteht für ihn darin, den Sozialismus als wissenschaftliche Doktrin zu betrachten, die über eine bürokratische Elite exekutiert werden müsse. Sein Wunschbild ist ein demokratischer Sozialismus, der von unten wächst und Klimaziele biegsam mit sozialen Forderungen kombiniert. Es ist ihm bewusst, dass sich die sozialistische Wiederverzauberung der Natur nicht von Geisterhand vollziehen wird. Den Rechtfertigungsdruck sollen die UN-Entwicklungsziele liefern, die soziale und ökologische Faktoren koppeln.
Auf dieser Legitimationsbasis sollen neue Transformationsräte politische und ökonomische Prozesse auf ihre soziale und ökologische Nachhaltigkeit prüfen. Verstößt ein Unternehmen gegen den ökosozialen Imperativ, soll das den Anstoß zu seiner schrittweisen Überführung in kollektives Gemeineigentum geben. Gerecht ist das für Dörre auch deshalb, weil große Unternehmen aus sich selbst heraus gar nicht existenzfähig sind. Unter den ersten Branchen, die sozialisiert werden müssten, sind für ihn die Agrarindustrie und der Bankensektor. Er ist realistisch genug zu sehen, dass ein neuer ökonomischer Kollektivismus kein Selbstläufer ist. Erstens steht der Nachweis seiner Wirtschaftlichkeit aus. Zweitens lässt der Klimawandel wenig Zeit für umfangreiche und riskante Sozialexperimente.
Die größten Schwierigkeiten bereitet Dörre die Identifizierung seiner Trägerschicht. Die internationalen Entwicklungsziele üben keineswegs den Rechtfertigungsdruck aus, den er ihnen zuschreibt; und die netzwerkartig organisierte Koalition aus prekär beschäftigten Akademikern und Teilen der Unterschicht, die ihm vorschwebt, wird nicht ausreichen, um Großunternehmen in die Enge zu treiben. So fehlt dem Ökosozialismus sein (r)evolutionäres Subjekt. Das macht die Systemkritik des Autors aber nicht obsolet. Die Mischung aus utopischem Überschwang und hartem Realitätssinn hebt das Buch wohltuend von einer idealistischen Kritik ab, die sich auf Appelle an den Gemeinsinn beschränkt. Es ist auch dann mit Gewinn zu lesen, wenn der Weg zum utopischen Ziel nicht ganz überzeugt. THOMAS THIEL.
Andreas Malm: "Der Fortschritt dieses Sturms". Natur und Gesellschaft in seiner sich erwärmenden Welt.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 330 S., geb., 28,- Euro.
Klaus Dörre: "Die Utopie des Sozialismus". Kompass für eine Nachhaltigkeitsrevolution.
Matthes & Seitz Verlag, Berlin 2021. 345 S., geb. 24,- Euro.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
Rezensent Thomas Thiel empfiehlt dieses Buch des Ökosozialisten Klaus Dörre allen, die beim Ökoleninisten Andreas Malm zu wenig Gedanken über eine künftige Gesellschaftsordnung finden. Dörre möchte die UN-Entwicklungsziele zum sozialökologischen Imperativ umwandeln: Verstoßen Unternehmen gegen ihn, werden sie enteignet, Agrarindustrie und Bankensektor sollten ohnehin sozialisiert werden. Rezensent Thiel erkennt schnell, dass Dörre für seine Revolution kein Subjekt finden wird, die systemkritischen Überlegungen werden dadurch aber in seinen Augen nicht obsolet. Thiel kann Dörres "utopischen Überschwang" auch deshalb gut verkraften, weil er im Buch mit einem "hartem Realitätssinn" einhergehe.
© Perlentaucher Medien GmbH
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