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Handlungsfähigkeit und Demokratieentwicklung
Die Herausgeber wollen den Titel ihres Sammelbandes bewusst zweideutig aufgefasst wissen. Es geht nicht nur um eine Analyse des aus dem gescheiterten Verfassungsvertrag hervorgegangenen Neuen Reformvertrags (Lissabonner Vertrag), sondern auch um die grundsätzliche Frage, ob Europa und die EU in einer guten Verfassung sind. Zu beidem ist zunächst anzumerken: Erstens, das mit dem Lissabonner Vertrag gefundene Kompromissdokument ist sicherlich mehr als nur ein von den Herausgebern konstatierter "Torso", zumal die institutionellen Neuerungen nahezu ausnahmslos aus dem Verfassungsvertrag übernommen wurden. Gestrichen wurden vor allem Symbole wie der Begriff Verfassung an sich, Flagge oder Hymne. Insofern gibt es durchaus Fortschritte bei der Handlungsfähigkeit und Demokratieentwicklung der Union, wenn denn der neue Vertrag ratifiziert werden sollte. Zweitens, der bisweilen kritische Tenor des Bandes, wonach die bisherige Bilanz des Gemeinschaftsprojektes als ambivalent zu bezeichnen und nahezu ausnahmslos auf ein Binnenmarktregime im Sinne der "negativen Integration" zu reduzieren sei, scheint überzogen.
Richtig ist, dass die Union vor immensen Problemen steht; fraglich ist aber, ob die von den Herausgebern genannten Stichworte - Erweiterungskrise, "Krise der sogenannten intergouvernementalen Methode" sowie Krise aus der "wirtschaftlichen Schlagseite" des Integrationsprozesses - tatsächlich Ursache dafür sind. Jedenfalls dürfte die Forderung nach einer Debatte über mehr Demokratie, Identität und den adäquaten integrationspolitischen Prozess diese Probleme kaum lösen. Selbstverständlich war und ist der gemeinsame Binnenmarkt das Projekt, welches auch den EU-Bürgern vordergründig mehr am Herzen liegt als die Frage nach dem Demokratiedefizit der Union; von Ersterem profitiert(e) der Einzelne ganz objektiv, Letzteres gewinnt dann an Bedeutung, wenn (wie beim Nein zum Verfassungsvertrag in den Niederlanden und Frankreich geschehen) die EU wegen ihres vermeintlich "neoliberalen" Kurses für wirtschaftliche Fehlentwicklungen in Mitgliedstaaten und deren sozialen Konsequenzen verantwortlich gemacht wird. Zum anderen geht es an der politischen Realität vorbei, wenn man auch noch von einer wirtschaftlichen, gar "neoliberalen" Schlagseite des Integrationsprozesses spricht. Es gibt keine einheitliche EU-Wirtschaftspolitik; vielmehr gab es gerade in der jüngsten Vergangenheit das Nebeneinander von einem anglo-amerikanischen, einen sozial-markwirtschaftlichen (Frankreich und die Bundesrepublik), einem "nordischen" (Niederlande, Dänemark und Schweden) und einem "südeuropäischen" Modell, so dass sich einige Mitgliedstaaten durchaus zu den weltweit wettbewerbsfähigsten, andere hingegen eher zu den vergleichsweise zurückgefallenen zählen durften. Schließlich ist nicht nachvollziehbar, warum die zunehmende Intergouvernementalisierung in der Union in den vergangenen zwei Jahrzehnten als ein Problem aufgefasst werden sollte. Zwar trifft dieser Befund durchaus zu, ebendiese Entwicklung aber brachte in dieser Phase auch die entscheidenden Durchbrüche in Richtung Maastricht, Amsterdam und zuletzt eben auch des Lissabonner Vertrages. Es ist eben nun einmal so, dass hinter aller Supranationalisierung die Mitgliedstaaten als treibende Kräfte stehen (müssen).
Mit anderen Worten: Man kann zwar - wie Simon Hix dies in seinem Beitrag plausibel tut - mehr mehrheitsdemokratische Strukturen im heutigen System anstelle von Konsensstrukturen fordern. An der schlichten Tatsache, dass die Mitgliedstaaten sich eben am Ende doch in irgendeiner Form auch darauf einigen müssen, führt kein Weg vorbei. Gerade deswegen mutet auch der von Frank Decker und Jared Sonnicksen präsentierte Vorschlag einer Weiterentwicklung der Union in Richtung einer präsidentiellen Demokratie (Direktwahl des Kommissionspräsidenten) nicht überzeugend an. Zwar wird die Demokratiekomponente ausführlich thematisiert, über die Tatsache der "dualen Exekutive" aber eher beiläufig hinweggegangen. Wer auch die Präsidentschaft innehätte: Die Gefahr, dass er durch Lagerbildungen und Vorpreschen anderer Mitglieder blockiert und Europa am Ende geschwächt würde, ist unter einem präsidentiellen System (ob nun Kommissions- oder Ratspräsident) ungleich größer. Was Europa stark macht, sind Zusammenarbeit und Absprachen. Diskussionsstoff und Anregungen finden sich in einigen Beiträgen, neue Erkenntnisse aber liefert der Band nicht.
STEFAN FRÖHLICH
Frank Decker/Marcus Höreth (Herausgeber): Die Verfassung Europas. Perspektiven des Integrationsprojekts. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008. 377 S., 29,90 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
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