Produktdetails
- Verlag: VS Verlag für Sozialwissenschaften
- Erscheinungstermin: 16. Dezember 2008
- Deutsch
- ISBN-13: 9783531913360
- Artikelnr.: 37362364
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 11.02.2009Europas Realität
Handlungsfähigkeit und Demokratieentwicklung
Die Herausgeber wollen den Titel ihres Sammelbandes bewusst zweideutig aufgefasst wissen. Es geht nicht nur um eine Analyse des aus dem gescheiterten Verfassungsvertrag hervorgegangenen Neuen Reformvertrags (Lissabonner Vertrag), sondern auch um die grundsätzliche Frage, ob Europa und die EU in einer guten Verfassung sind. Zu beidem ist zunächst anzumerken: Erstens, das mit dem Lissabonner Vertrag gefundene Kompromissdokument ist sicherlich mehr als nur ein von den Herausgebern konstatierter "Torso", zumal die institutionellen Neuerungen nahezu ausnahmslos aus dem Verfassungsvertrag übernommen wurden. Gestrichen wurden vor allem Symbole wie der Begriff Verfassung an sich, Flagge oder Hymne. Insofern gibt es durchaus Fortschritte bei der Handlungsfähigkeit und Demokratieentwicklung der Union, wenn denn der neue Vertrag ratifiziert werden sollte. Zweitens, der bisweilen kritische Tenor des Bandes, wonach die bisherige Bilanz des Gemeinschaftsprojektes als ambivalent zu bezeichnen und nahezu ausnahmslos auf ein Binnenmarktregime im Sinne der "negativen Integration" zu reduzieren sei, scheint überzogen.
Richtig ist, dass die Union vor immensen Problemen steht; fraglich ist aber, ob die von den Herausgebern genannten Stichworte - Erweiterungskrise, "Krise der sogenannten intergouvernementalen Methode" sowie Krise aus der "wirtschaftlichen Schlagseite" des Integrationsprozesses - tatsächlich Ursache dafür sind. Jedenfalls dürfte die Forderung nach einer Debatte über mehr Demokratie, Identität und den adäquaten integrationspolitischen Prozess diese Probleme kaum lösen. Selbstverständlich war und ist der gemeinsame Binnenmarkt das Projekt, welches auch den EU-Bürgern vordergründig mehr am Herzen liegt als die Frage nach dem Demokratiedefizit der Union; von Ersterem profitiert(e) der Einzelne ganz objektiv, Letzteres gewinnt dann an Bedeutung, wenn (wie beim Nein zum Verfassungsvertrag in den Niederlanden und Frankreich geschehen) die EU wegen ihres vermeintlich "neoliberalen" Kurses für wirtschaftliche Fehlentwicklungen in Mitgliedstaaten und deren sozialen Konsequenzen verantwortlich gemacht wird. Zum anderen geht es an der politischen Realität vorbei, wenn man auch noch von einer wirtschaftlichen, gar "neoliberalen" Schlagseite des Integrationsprozesses spricht. Es gibt keine einheitliche EU-Wirtschaftspolitik; vielmehr gab es gerade in der jüngsten Vergangenheit das Nebeneinander von einem anglo-amerikanischen, einen sozial-markwirtschaftlichen (Frankreich und die Bundesrepublik), einem "nordischen" (Niederlande, Dänemark und Schweden) und einem "südeuropäischen" Modell, so dass sich einige Mitgliedstaaten durchaus zu den weltweit wettbewerbsfähigsten, andere hingegen eher zu den vergleichsweise zurückgefallenen zählen durften. Schließlich ist nicht nachvollziehbar, warum die zunehmende Intergouvernementalisierung in der Union in den vergangenen zwei Jahrzehnten als ein Problem aufgefasst werden sollte. Zwar trifft dieser Befund durchaus zu, ebendiese Entwicklung aber brachte in dieser Phase auch die entscheidenden Durchbrüche in Richtung Maastricht, Amsterdam und zuletzt eben auch des Lissabonner Vertrages. Es ist eben nun einmal so, dass hinter aller Supranationalisierung die Mitgliedstaaten als treibende Kräfte stehen (müssen).
Mit anderen Worten: Man kann zwar - wie Simon Hix dies in seinem Beitrag plausibel tut - mehr mehrheitsdemokratische Strukturen im heutigen System anstelle von Konsensstrukturen fordern. An der schlichten Tatsache, dass die Mitgliedstaaten sich eben am Ende doch in irgendeiner Form auch darauf einigen müssen, führt kein Weg vorbei. Gerade deswegen mutet auch der von Frank Decker und Jared Sonnicksen präsentierte Vorschlag einer Weiterentwicklung der Union in Richtung einer präsidentiellen Demokratie (Direktwahl des Kommissionspräsidenten) nicht überzeugend an. Zwar wird die Demokratiekomponente ausführlich thematisiert, über die Tatsache der "dualen Exekutive" aber eher beiläufig hinweggegangen. Wer auch die Präsidentschaft innehätte: Die Gefahr, dass er durch Lagerbildungen und Vorpreschen anderer Mitglieder blockiert und Europa am Ende geschwächt würde, ist unter einem präsidentiellen System (ob nun Kommissions- oder Ratspräsident) ungleich größer. Was Europa stark macht, sind Zusammenarbeit und Absprachen. Diskussionsstoff und Anregungen finden sich in einigen Beiträgen, neue Erkenntnisse aber liefert der Band nicht.
STEFAN FRÖHLICH
Frank Decker/Marcus Höreth (Herausgeber): Die Verfassung Europas. Perspektiven des Integrationsprojekts. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008. 377 S., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Handlungsfähigkeit und Demokratieentwicklung
Die Herausgeber wollen den Titel ihres Sammelbandes bewusst zweideutig aufgefasst wissen. Es geht nicht nur um eine Analyse des aus dem gescheiterten Verfassungsvertrag hervorgegangenen Neuen Reformvertrags (Lissabonner Vertrag), sondern auch um die grundsätzliche Frage, ob Europa und die EU in einer guten Verfassung sind. Zu beidem ist zunächst anzumerken: Erstens, das mit dem Lissabonner Vertrag gefundene Kompromissdokument ist sicherlich mehr als nur ein von den Herausgebern konstatierter "Torso", zumal die institutionellen Neuerungen nahezu ausnahmslos aus dem Verfassungsvertrag übernommen wurden. Gestrichen wurden vor allem Symbole wie der Begriff Verfassung an sich, Flagge oder Hymne. Insofern gibt es durchaus Fortschritte bei der Handlungsfähigkeit und Demokratieentwicklung der Union, wenn denn der neue Vertrag ratifiziert werden sollte. Zweitens, der bisweilen kritische Tenor des Bandes, wonach die bisherige Bilanz des Gemeinschaftsprojektes als ambivalent zu bezeichnen und nahezu ausnahmslos auf ein Binnenmarktregime im Sinne der "negativen Integration" zu reduzieren sei, scheint überzogen.
Richtig ist, dass die Union vor immensen Problemen steht; fraglich ist aber, ob die von den Herausgebern genannten Stichworte - Erweiterungskrise, "Krise der sogenannten intergouvernementalen Methode" sowie Krise aus der "wirtschaftlichen Schlagseite" des Integrationsprozesses - tatsächlich Ursache dafür sind. Jedenfalls dürfte die Forderung nach einer Debatte über mehr Demokratie, Identität und den adäquaten integrationspolitischen Prozess diese Probleme kaum lösen. Selbstverständlich war und ist der gemeinsame Binnenmarkt das Projekt, welches auch den EU-Bürgern vordergründig mehr am Herzen liegt als die Frage nach dem Demokratiedefizit der Union; von Ersterem profitiert(e) der Einzelne ganz objektiv, Letzteres gewinnt dann an Bedeutung, wenn (wie beim Nein zum Verfassungsvertrag in den Niederlanden und Frankreich geschehen) die EU wegen ihres vermeintlich "neoliberalen" Kurses für wirtschaftliche Fehlentwicklungen in Mitgliedstaaten und deren sozialen Konsequenzen verantwortlich gemacht wird. Zum anderen geht es an der politischen Realität vorbei, wenn man auch noch von einer wirtschaftlichen, gar "neoliberalen" Schlagseite des Integrationsprozesses spricht. Es gibt keine einheitliche EU-Wirtschaftspolitik; vielmehr gab es gerade in der jüngsten Vergangenheit das Nebeneinander von einem anglo-amerikanischen, einen sozial-markwirtschaftlichen (Frankreich und die Bundesrepublik), einem "nordischen" (Niederlande, Dänemark und Schweden) und einem "südeuropäischen" Modell, so dass sich einige Mitgliedstaaten durchaus zu den weltweit wettbewerbsfähigsten, andere hingegen eher zu den vergleichsweise zurückgefallenen zählen durften. Schließlich ist nicht nachvollziehbar, warum die zunehmende Intergouvernementalisierung in der Union in den vergangenen zwei Jahrzehnten als ein Problem aufgefasst werden sollte. Zwar trifft dieser Befund durchaus zu, ebendiese Entwicklung aber brachte in dieser Phase auch die entscheidenden Durchbrüche in Richtung Maastricht, Amsterdam und zuletzt eben auch des Lissabonner Vertrages. Es ist eben nun einmal so, dass hinter aller Supranationalisierung die Mitgliedstaaten als treibende Kräfte stehen (müssen).
Mit anderen Worten: Man kann zwar - wie Simon Hix dies in seinem Beitrag plausibel tut - mehr mehrheitsdemokratische Strukturen im heutigen System anstelle von Konsensstrukturen fordern. An der schlichten Tatsache, dass die Mitgliedstaaten sich eben am Ende doch in irgendeiner Form auch darauf einigen müssen, führt kein Weg vorbei. Gerade deswegen mutet auch der von Frank Decker und Jared Sonnicksen präsentierte Vorschlag einer Weiterentwicklung der Union in Richtung einer präsidentiellen Demokratie (Direktwahl des Kommissionspräsidenten) nicht überzeugend an. Zwar wird die Demokratiekomponente ausführlich thematisiert, über die Tatsache der "dualen Exekutive" aber eher beiläufig hinweggegangen. Wer auch die Präsidentschaft innehätte: Die Gefahr, dass er durch Lagerbildungen und Vorpreschen anderer Mitglieder blockiert und Europa am Ende geschwächt würde, ist unter einem präsidentiellen System (ob nun Kommissions- oder Ratspräsident) ungleich größer. Was Europa stark macht, sind Zusammenarbeit und Absprachen. Diskussionsstoff und Anregungen finden sich in einigen Beiträgen, neue Erkenntnisse aber liefert der Band nicht.
STEFAN FRÖHLICH
Frank Decker/Marcus Höreth (Herausgeber): Die Verfassung Europas. Perspektiven des Integrationsprojekts. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2008. 377 S., 29,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 25.05.2009Europa einen Sinn verleihen
Vorwiegend skeptische Bestandsaufnahmen des kontinentalen Zustands
Der Termin rückt näher – und kaum einer merkt es. Die bevorstehende Europawahl wird in Deutschland höchstens als Zwischenetappe im Superwahljahr 2009 wahrgenommen, nicht als entscheidendes Ereignis für den Brüsseler Politikbetrieb, geschweige denn für die Zukunft der Integration. Umso beachtlicher sind die Neuerscheinungen zur Bestandsaufnahme der EU.
Allerdings eher entmutigend wirkt Hans-Peter Martins „Europafalle”. Der österreichische Politiker, Vertreter seines Landes im europäischen Parlament, spricht übelgelaunt vom „Inzuchtsystem Brüssel”. Die EU sei von faulen Profiteuren regiert, die ihre Entscheidungen mehr auf Spesen und Tagesgelder als auf das Interesse der Bürger orientierten. Während die Lobbyisten die „Herren der Verträge” seien, herrsche im ganzen EU-Land Verantwortungslosigkeit, Unterwürfigkeit gegenüber der Wirtschaft und Parteigehorsam, gepaart mit Geheimnistuerei und Klientelismus. Europa habe als demokratische Utopie versagt; als Krisenmanager in stürmischen Zeiten stehe es nicht besser da.
Die Liste der oft klischeehaften Kritikpunkte gleicht einer Litanei, die in das Repertoire antieuropäischer Populisten gut passen würde. Viele Argumente Martins basieren auf beliebig hergestellten Zusammenhängen. Hans-Peter Martin ist im Straßburger Parlament für seine grobschlächtigen Methoden im Kampf gegen die angebliche Faulheit seiner Kollegen berühmt-berüchtigt. Nichtsdestotrotz sind seine Ausführungen ernstzunehmen. Denn seine Klagen über das europäische Demokratiedefizit lassen sich nicht so schnell vom Tisch wischen.
Mehrere Experten diagnostizieren beim Patienten Europa dieselbe Krankheit. Auch in dem Sammelband, der von Wissenschaftlern der Universität Bonn herausgegeben wurde und einen breiten Überblick über die aktuelle Europaforschung verschafft, fallen die Prognosen zur EU mehr oder weniger düster aus. Wenn man das Integrationsprojekt voranbringen und Bürgernähe schaffen möchte, sollte man etwas Neues erfinden, so die These vieler Studien. Nur die Beiträge der beiden deutschen Stars in Brüssel, des scheidenden Europaparlamentspräsidenten Hans-Gert Pöttering und des bisherigen Kommissars Günter Verheugen, verbreiten Zuversicht. Die Behauptung einer gewissen Elitenblindheit wird dadurch nicht eben widerlegt.
Die Nation bleibt unumgänglich
Das Basteln am institutionellen Gefüge ist jedenfalls immer wieder aktuell, wenn es darum geht, Europa neu zu gestalten. Sollte die Kommission die Rolle einer vor dem Parlament verantwortlichen Exekutive übernehmen und der Rat zu einer zweiten Kammer – ähnlich dem Bundesrat – umgewandelt werden? Ist die Direktwahl des Kommissionspräsidenten systemtauglich? Soll die EU parlamentarisch wie in Deutschland, präsidentiell wie in den USA oder semi-präsidentiell wie in Frankreich gegliedert werden? Das Buch zeigt, dass diese Fragestellungen zu den Dauerbeschäftigungen der Europaforschung gehören. Die Antworten werden dadurch erschwert, dass die Einzigartigkeit des europäischen Projekts jegliche Vergleiche relativiert und dass der Ausgang des Reformprozesses – vom Nizza- bis zum Lissabon-Vertrag über die gescheiterte Verfassung – noch in den Sternen steht. Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors hatte die EU einmal als „UPO” („unidentifiziertes politisches Objekt”) bezeichnet. Im Grunde scheint die Politikwissenschaft heute nicht viel weiter zu sein.
Viel interessanter sind die Analysen, die über diese institutionellen Konstruktionsspiele hinaus tatsächlich neue Perspektiven eröffnen. Für den Historiker Heinrich August Winkler und den Rechtswissenschaftler Josef Isensee bleibt die Nation unumgänglich, um die Souveränität des Volkes zu garantieren und die Demokratie zu festigen. Andere Vorschläge, die Identifikation der Bürger mit den europäischen Institutionen zu erhöhen, sind wagemutiger. Jürgen Habermas oder Hans-Peter Martin plädieren für eine Volksabstimmung: Um der EU einen breitestmöglichen Legitimationsschub zu verleihen, solle sie auf gesamteuropäischer Ebene erfolgen. Für Martin bietet das Internet neue Chancen für Partizipation. Er setzt auf die Möglichkeit, Politiker effektiver anhand ihrer Leistungen zu beurteilen oder auch abzuwählen.
Ähnlich ist der Grundgedanke des Briten Simon Hix, der „mehr Politik” fordert. Statt als bloßer Regulationsapparat zu fungieren, solle die EU ein Ort grundsätzlicher ideologischer Debatten sein, in denen die transnational organisierten Parteien links oder rechts Position beziehen. Laut Hix finden diese Auseinandersetzungen schon statt – vertuscht wird allerdings, dass die Deregulierung der Märkte nur eine Alternative unter vielem anderen darstellt. Gegen die Annahme, dass die EU notwendigerweise neoliberal sein sollte, betonen mehrere Autoren die Rolle des Wohlfahrtsstaates als identitätsstiftendes Merkmal Europas. Vieles hänge davon ab, ob das noch ungeformte „europäische Volk” sich durch Sozialpolitik aufgefangen fühle.
Europa einem Sinn zu verleihen, scheint die größte Herausforderung der Zukunft zu sein. Publizisten deuten es an: Rechtsprechungen und wirtschaftsbezogene Richtlinien waren nicht in der Lage, die europäische Idee mit Inhalt zu füllen. Da die Friedenssicherung auf dem Kontinent als erfüllter Auftrag gilt, müsste der EU eine neue große Aufgabe aufgebürdet werden. Alles andere, Institutionen, Symbole, Grenzen, würde sich dann daraus ableiten und zusammenfügen – und die „Europafalle” zu einer Europachance mutieren. CLAIRE-LISE BUIS
HANS-PETER MARTIN: Die Europafalle. Das Ende von Demokratie und Wohlstand. Piper, München 2009. 283 Seiten, 18,95 Euro.
FRANK DECKER, MARCUS HÖRETH (Hrsg.): Die Verfassung Europas. Perspektiven des Integrationsprojekts. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009. 376 Seiten, 29,90 Euro.
Schüler eines Berufskollegs in Geldern (Nordrhein-Westfalen) befassen sich mit dem Thema Europa. Foto: ddp
SZdigital: Alle Rechte vorbehalten - Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung exklusiv über www.sz-content.de
Vorwiegend skeptische Bestandsaufnahmen des kontinentalen Zustands
Der Termin rückt näher – und kaum einer merkt es. Die bevorstehende Europawahl wird in Deutschland höchstens als Zwischenetappe im Superwahljahr 2009 wahrgenommen, nicht als entscheidendes Ereignis für den Brüsseler Politikbetrieb, geschweige denn für die Zukunft der Integration. Umso beachtlicher sind die Neuerscheinungen zur Bestandsaufnahme der EU.
Allerdings eher entmutigend wirkt Hans-Peter Martins „Europafalle”. Der österreichische Politiker, Vertreter seines Landes im europäischen Parlament, spricht übelgelaunt vom „Inzuchtsystem Brüssel”. Die EU sei von faulen Profiteuren regiert, die ihre Entscheidungen mehr auf Spesen und Tagesgelder als auf das Interesse der Bürger orientierten. Während die Lobbyisten die „Herren der Verträge” seien, herrsche im ganzen EU-Land Verantwortungslosigkeit, Unterwürfigkeit gegenüber der Wirtschaft und Parteigehorsam, gepaart mit Geheimnistuerei und Klientelismus. Europa habe als demokratische Utopie versagt; als Krisenmanager in stürmischen Zeiten stehe es nicht besser da.
Die Liste der oft klischeehaften Kritikpunkte gleicht einer Litanei, die in das Repertoire antieuropäischer Populisten gut passen würde. Viele Argumente Martins basieren auf beliebig hergestellten Zusammenhängen. Hans-Peter Martin ist im Straßburger Parlament für seine grobschlächtigen Methoden im Kampf gegen die angebliche Faulheit seiner Kollegen berühmt-berüchtigt. Nichtsdestotrotz sind seine Ausführungen ernstzunehmen. Denn seine Klagen über das europäische Demokratiedefizit lassen sich nicht so schnell vom Tisch wischen.
Mehrere Experten diagnostizieren beim Patienten Europa dieselbe Krankheit. Auch in dem Sammelband, der von Wissenschaftlern der Universität Bonn herausgegeben wurde und einen breiten Überblick über die aktuelle Europaforschung verschafft, fallen die Prognosen zur EU mehr oder weniger düster aus. Wenn man das Integrationsprojekt voranbringen und Bürgernähe schaffen möchte, sollte man etwas Neues erfinden, so die These vieler Studien. Nur die Beiträge der beiden deutschen Stars in Brüssel, des scheidenden Europaparlamentspräsidenten Hans-Gert Pöttering und des bisherigen Kommissars Günter Verheugen, verbreiten Zuversicht. Die Behauptung einer gewissen Elitenblindheit wird dadurch nicht eben widerlegt.
Die Nation bleibt unumgänglich
Das Basteln am institutionellen Gefüge ist jedenfalls immer wieder aktuell, wenn es darum geht, Europa neu zu gestalten. Sollte die Kommission die Rolle einer vor dem Parlament verantwortlichen Exekutive übernehmen und der Rat zu einer zweiten Kammer – ähnlich dem Bundesrat – umgewandelt werden? Ist die Direktwahl des Kommissionspräsidenten systemtauglich? Soll die EU parlamentarisch wie in Deutschland, präsidentiell wie in den USA oder semi-präsidentiell wie in Frankreich gegliedert werden? Das Buch zeigt, dass diese Fragestellungen zu den Dauerbeschäftigungen der Europaforschung gehören. Die Antworten werden dadurch erschwert, dass die Einzigartigkeit des europäischen Projekts jegliche Vergleiche relativiert und dass der Ausgang des Reformprozesses – vom Nizza- bis zum Lissabon-Vertrag über die gescheiterte Verfassung – noch in den Sternen steht. Der ehemalige Kommissionspräsident Jacques Delors hatte die EU einmal als „UPO” („unidentifiziertes politisches Objekt”) bezeichnet. Im Grunde scheint die Politikwissenschaft heute nicht viel weiter zu sein.
Viel interessanter sind die Analysen, die über diese institutionellen Konstruktionsspiele hinaus tatsächlich neue Perspektiven eröffnen. Für den Historiker Heinrich August Winkler und den Rechtswissenschaftler Josef Isensee bleibt die Nation unumgänglich, um die Souveränität des Volkes zu garantieren und die Demokratie zu festigen. Andere Vorschläge, die Identifikation der Bürger mit den europäischen Institutionen zu erhöhen, sind wagemutiger. Jürgen Habermas oder Hans-Peter Martin plädieren für eine Volksabstimmung: Um der EU einen breitestmöglichen Legitimationsschub zu verleihen, solle sie auf gesamteuropäischer Ebene erfolgen. Für Martin bietet das Internet neue Chancen für Partizipation. Er setzt auf die Möglichkeit, Politiker effektiver anhand ihrer Leistungen zu beurteilen oder auch abzuwählen.
Ähnlich ist der Grundgedanke des Briten Simon Hix, der „mehr Politik” fordert. Statt als bloßer Regulationsapparat zu fungieren, solle die EU ein Ort grundsätzlicher ideologischer Debatten sein, in denen die transnational organisierten Parteien links oder rechts Position beziehen. Laut Hix finden diese Auseinandersetzungen schon statt – vertuscht wird allerdings, dass die Deregulierung der Märkte nur eine Alternative unter vielem anderen darstellt. Gegen die Annahme, dass die EU notwendigerweise neoliberal sein sollte, betonen mehrere Autoren die Rolle des Wohlfahrtsstaates als identitätsstiftendes Merkmal Europas. Vieles hänge davon ab, ob das noch ungeformte „europäische Volk” sich durch Sozialpolitik aufgefangen fühle.
Europa einem Sinn zu verleihen, scheint die größte Herausforderung der Zukunft zu sein. Publizisten deuten es an: Rechtsprechungen und wirtschaftsbezogene Richtlinien waren nicht in der Lage, die europäische Idee mit Inhalt zu füllen. Da die Friedenssicherung auf dem Kontinent als erfüllter Auftrag gilt, müsste der EU eine neue große Aufgabe aufgebürdet werden. Alles andere, Institutionen, Symbole, Grenzen, würde sich dann daraus ableiten und zusammenfügen – und die „Europafalle” zu einer Europachance mutieren. CLAIRE-LISE BUIS
HANS-PETER MARTIN: Die Europafalle. Das Ende von Demokratie und Wohlstand. Piper, München 2009. 283 Seiten, 18,95 Euro.
FRANK DECKER, MARCUS HÖRETH (Hrsg.): Die Verfassung Europas. Perspektiven des Integrationsprojekts. VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden 2009. 376 Seiten, 29,90 Euro.
Schüler eines Berufskollegs in Geldern (Nordrhein-Westfalen) befassen sich mit dem Thema Europa. Foto: ddp
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Offenbar mit Interesse gelesen hat Rezensentin Claire-Lise Buis diesen Sammelband zum Zustand des europäischen Projekts, dessen einzelne Beiträge sie ohne Bewertung referiert. Allerdings stellt sie fest, dass in den Aufsätzen ein skeptischer Blick auf Europa und seine Zukunft vorherrscht. Diskutiert werden ihren Informationen zufolge nicht nur juristische Verfassungsfragen, sondern auch politische Entscheidungsmöglichkeiten über die Stellung der Kommission, des Parlaments und der Bevölkerung.
© Perlentaucher Medien GmbH
© Perlentaucher Medien GmbH
"Durch die Breite der diskutierten Themen eignet sich das Buch vor allem als Einstiegslektüre; doch auch mit den Problemen der EU-Integration vertraute Leser können manche kluge Anregung mitnehmen." www.zpol.de (Zeitschrift für Politikwissenschaft), 08.04.2009