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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Alessandro Piperno hat die wichtigsten italienischen Literaturpreise erhalten und gilt als zentraler Autor seiner Generation. Sein neuer Roman "Die Verfolgung" trägt einen Skandal vor sich her.
Manchmal führt eine Geschichte vor, welche Wirkung der Autor ihr wünscht: Eine "Bombe" ist es, die am 13. Juli 1986 im Leben des Helden Leo Pontecorvo einschlägt, und eine Bombe soll "Die Verfolgung. Im Feuer der Erinnerungen" für den Leser sein. Willen zum Skandal hatte Alessandro Piperno bereits im Titel seines Erstlings - "Mit bösen Absichten" (2005) - verkündet. Wie schafft man einen Skandal? Mit Sex. Leo wird erst der Liaison mit, später der versuchten Vergewaltigung von einer Zwölfjährigen beschuldigt. Die Anklage, erhoben von Camilla, der Freundin seines Sohns, wird in Presse und Fernsehen ausgewalzt; Piperno schildert eine mediale Hinrichtung. Insofern zeigt der Roman zugleich das Negativ des Erwünschten: Aufmerksamkeit, ja bitte, Ärger, nein danke.
Das klingt nach Werbemasche, ist aber mehr. Piperno, 1972 in Rom geboren, hat nicht nur Erfolg beim Publikum, sondern mit dem Premio Campiello für "Mit bösen Absichten" und dem Premio Strega für den dritten Roman "Inseparabili" zudem die wichtigsten italienischen Literaturpreise erhalten; er gilt als zentraler Autor seiner Generation. Auch ist sein Beruf Warnung genug: Der Romancier lehrt französische Literatur, ist Proust-Experte - der Untertitel "Im Feuer der Erinnerungen" ist kein Zufall. Tatsächlich ist der schicksalhafte Tag, an dem die 20-Uhr-Nachrichten Leos bisheriges Leben beenden, nur Auslöser einer Rekonstruktion der vergangenen und unwiederbringlich verlorenen Zeit.
Nach der medialen Explosion zieht Leo sich ins Souterrain seiner Villa im römischen Nobelvorort Olgiata zurück, wo er in Scham und Schande schmort. Der Roman holt in vier Abschnitten die Geschichte des Ehepaars Pontecorvo nach, berichtet die Vorgeschichte des Skandals, beschreibt Verhaftung und Verhör, um mit Leos Niedergang in Freiheit zu enden. Hintergrund ist die Geschichte des bürgerlichen Judentums im Italien der Nachkriegszeit, dem Leo und Rachel angehören. Piperno betont die Parallele von Zeit- und Familienpanorama, da er den Roman als Teil eins von dreien anlegt: Teil zwei, "Inseparabili" ("Unzertrennlich"), handelt von den zwei Söhnen.
Ihre Eltern repräsentieren Gegensätze. Leo, achtundvierzig Jahre alt, ist in behüteten, großbürgerlichen Verhältnissen aufgewachsen. Der attraktive Mann, dessen Lippen - "sinnlich, ironisch, schmollend" - die Paarung von gutem Aussehen und scharfem Intellekt resümieren, ist die Karriereleiter hinaufgefallen: Als Pionier der Kinderonkologie ist er erfolgreich, wohlhabend und durch seine Zeitungskolumne bekannt; sein Leben bewegt sich zwischen Klinik und Villa, Rom und der Schweiz. Es ist ein Spiel: "Meinst du, es kommt mal der Tag, an dem du keinen Spaß mehr machst?", wirft Rachel ihm vor. Ihr Hintergrund - eine kleinbürgerliche Familie, die nicht einfach vor den Nationalsozialisten in die Schweiz fliehen konnte - ist vom Ernst des Lebens und des Glaubens bestimmt. Im ehelichen Kleinkrieg schlagen sich "auf parodistische Art und Weise" die Differenzen zwischen Groß- und Kleinbürgertum, laizistischem und religiösem Judentum nieder. Das klingt konzeptlastig, aber Piperno verleiht dem Paar Leben: eine liebevolle Alltagshölle - eine alltägliche Ehe.
Für sich genommen überzeugt Leo weniger, ob menschlich oder als Figur. Er ist ambivalent: Einerseits betört seine sprezzatura im Kontrast mit der verbissenen Ängstlichkeit seiner Frau. Andererseits ist er seinen Neurosen blind ergeben: Piperno entwirft seinen Protagonisten als italienischen Woody Allen. Seine sorglose Lebensunfähigkeit zeigt sich schon vor dem Skandal, als er sich über den Tisch ziehen lässt; sie nervt spätestens, als das "Gör" Camilla ihm dem Hof macht und er die Brisanz von Liebesbriefen Minderjähriger in seinen Unterhosen nicht begreifen will. Auch die Lähmung des gefallenen Glückskinds ist schwer erträglich: "Er ist nicht zum Groll erzogen. Er ist nicht ausgerüstet für diese Art von Aggressivität, ist unfähig zum Krieg." Leos "Gabe" wird zum "Makel", die Flucht ins Souterrain zur römischen Version von Kafkas "Verwandlung" - eine Referenz, die wegen der Erforschung der Scham in beiden Texten evident ist. Dass Pontecorvo je nach Etymologie nicht nur auf einen Ort im Latium, sondern auch auf die Straßburger Rabenbrücke, einen mittelalterlichen Hinrichtungsort, anspielt, mag hingegen Zufall sein.
Trotz der Bezüge und eines entlarvenden Stils überzeugt der Roman nicht durchweg. Dabei meidet Piperno frühere Fehler: "Mit bösen Absichten" startete fulminant und zerfaserte dann. "Die Verfolgung" ist konsequenter komponiert - dennoch tritt Ermüdung ein, als klarwird, dass nach dem hysterischen Anfang nur Demütigung, Erinnern und Verwahrlosen folgen, auf 450 langen Seiten. Beide Romane tragen den Skandal vor sich her, geben ihm zum Glück nicht nach, machen jedoch auch nichts Rechtes draus. In "Die Verfolgung" liegt das womöglich an Pipernos Haltung: Lange lässt er offen, was an Camillas Vorwürfen dran ist, bevor klarwird, dass sie eine "frühreife Manipulatorin" ist. Da Autor und Held zu einigem in der Lage sind, ist zwischenzeitlich vorstellbar, dass Leo sich zu Unerhörtem hat hinreißen lassen. Piperno zeigt dem Leser seine Skandalsucht, flirtet zugleich aber selbst mit dem Abgrund: Der potentielle Missetäter erweckt am Anfang Mitgefühl. Ob das eine geschickte Entlarvung von Lesererwartung oder eine perfide Ausnutzung dieser ist - das muss der Einzelne entscheiden. Fazit: Piperno traut man zukünftig alles zu. Aber es bleibt zu hoffen, dass er konstruiert, konzentriert - und mal einen Skandal auslässt.
NIKLAS BENDER
Alessandro
Piperno: "Die
Verfolgung. Im Feuer der Erinnerungen". Roman.
Aus dem Italienischen von Ulrich Hartmann. Illustrationen Werther Dell'Edera. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2013. 448 S., geb., 22,99 [Euro].
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