Mallard heißt der kleine Ort im ländlichen Louisiana, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Seine Bewohner blicken mit Stolz auf eine lange Tradition und Geschichte, und vor allem auf ihre Kinder, die von Generation zu Generation hellhäutiger zu werden scheinen. Hier werden in den 1950ern Stella und Desiree geboren, Zwillingsschwestern von ganz unterschiedlichem Wesen. Aber in einem sind sie sich einig: An diesem Ort sehen sie keine Zukunft für sich. In New Orleans, wohin sie flüchten, trennen sich ihre Wege. Denn Stella tritt unbemerkt durch eine den weißen Amerikanern vorbehaltene Tür - und schlägt sie kurzerhand hinter sich zu. Desiree dagegen heiratet den dunkelhäutigsten Mann, den sie finden kann. Und Jahrzehnte müssen vergehen, bis zu einem unwahrscheinlichen Wiedersehen. Mit kaum 26 gelangte Brit Bennett 2016 aus dem Stand an die Spitze der US-Bestsellerlisten, und auch bei uns wurde sie gefeiert für die Entschiedenheit, die Anmut und Nonchalance, mit der sie in die großen literarischen Fußstapfen einer Toni Morrison getreten war. "Die verschwindende Hälfte" ist die eindrucksvolle Bestätigung solcher Erwartungen: die Generationen umspannende Geschichte einer Emanzipation - von Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht - und eine mitreißende Lektüre.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensentin Verena Mayer sieht Brit Bennetts Roman über die unterschiedlichen Lebenswege zweier schwarzer Zwillingsschwestern im Louisiana der fünfziger Jahre als Fortsetzung von "Black lives matter" mit literarischen Mitteln. Zu erkennen gilt es, dass jeder Lebensentwurf von Schwarzen zählt, meint sie. Dass Bennett sich nicht auf so den politischen Impetus ihrer Story reduzieren lässt, findet Mayer allerdings auch. Die Generationengeschichte überzeugt sie mit Detailfreude, genauer Figurenzeichnung und der gekonnten Wiederbelebung der "Passing Novel".
© Perlentaucher Medien GmbH
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Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 01.02.2021Zwillingsforschung
„Zum Weißsein gehörte nichts als Unverschämtheit“: Eine Frau wählt ihre Identität in Brit Bennetts Roman „Die verschwindende Hälfte“
Eine schwarze Frau, die von ihrem weißen Chef belästigt wird, weil er genau weiß, dass sie sich nicht wehren kann. Eine schwarze Mutter, die zu ihrem Kind sagt: „Rohheit ist alles, was dich da draußen erwartet.“ Ein Mann, der von seinen Nachbarn ins Koma geprügelt wird, weil sie nicht wollen, dass ein Schwarzer in ihrem Viertel lebt. Brit Bennetts neuer Roman „Die verschwindende Hälfte“ spielt in einer Kleinstadt in Louisiana, und als er im Frühsommer vergangenen Jahres, auf dem Höhepunkt der „Black lives matter“-Bewegung, auf Englisch herauskam, wurde er als Kommentar zu dem gelesen, was gerade in den USA passierte. Zum gewaltsamen Tod von George Floyd durch einen Polizisten und ganz allgemein zur Lage einer gespaltenen Nation, die vom Rassismus aufgerieben wird.
Tatsächlich hat sich die 1990 geborene Schriftstellerin in den vergangenen Jahren immer wieder dazu geäußert. In einem Essay rollte sie 2014 den Fall des schwarzen Teenagers Michael Brown auf, der auf dem Weg zu seiner Oma von einem Polizisten mit zwölf Schüssen getötet wurde. Der Text trug den Titel „I don’t know what to do with good white people“ und handelte von ihrem Unbehagen gegenüber weißen Freunden und Kollegen, die immer schnell dabei sind, sich an Internet-Kampagnen gegen Diskriminierung zu beteiligen, sonst aber nicht wahrhaben wollen, wie alltäglich Rassismus ist und von wievielen Menschen er bewusst oder unbewusst getragen wird.
Es wäre jedoch schade, wenn man Bennetts Literatur auf diese Botschaft reduzieren oder ihr gar eine politische Agenda unterstellen würde. Dazu sind ihre Bücher zu vielschichtig. Schon in ihrem Debüt lotete Bennett 2016 komplexe Fragen von Identität und Existenz aus. „Die Mütter“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte im ländlichen Amerika, deren jugendliche Protagonistinnen hin und her gerissen sind zwischen dem, was die Kleinstadtgesellschaft für schwarze Frauen vorgesehen hat, und dem, was sie sein und erreichen wollen.
In ihrem zweiten Roman geht es wieder um eine Kleinstadt, Bennett spannt den Bogen aber nun über mehrere Generationen. Im Mittelpunkt stehen die Zwillingsschwestern Stella und Desiree. Als sie noch Kinder sind, wird ihr Vater von einem weißen Mob gelyncht, die Mutter muss die Familie über Wasser halten, indem sie als Hausangestellte für Weiße schuftet. Die Zwillinge wachsen mit der Schmutzwäsche auf, die die Mutter zum Waschen mit nach Hause nehmen muss. Mit 16 haben die beiden genug und brennen zusammen nach Orleans durch.
Es sind die Fünfzigerjahre, die Zeit der Rassentrennung, in der schwarze Menschen separate Schulen besuchen müssen, nicht in Schwimmbäder gelassen werden und bei öffentlichen Gebäuden nicht den Haupteingang benutzen dürfen. Die beiden finden Jobs, und es stellt sich heraus, dass sie wegen ihres Hauttons oft für Weiße gehalten werden. Anfangs ist das für sie ein Spiel, um auch mal durch einen anderen Eingang in ein Museum zu kommen. Doch dann sieht Stella darin auch eine Tür in ein neues Leben. Sie gibt sich als Weiße aus und kappt die Verbindungen zu ihrer Familie.
Mit viel Liebe fürs Detail stattet Britt Bennett ihr Amerika der Fünfziger- und Sechzigerjahre aus. Es ist eine Welt wie aus der Serie Mad Men, mit glänzenden Cadillacs, rauchenden Männern und Frauen in schimmernden Kleidern. Vor allem aber spürt Bennett der Art nach, wie Menschen sich in dieser Welt verorten. Der schwarze Hollywoodschauspieler, der eine Villa in Los Angeles kauft und dafür einen Anwalt braucht, weil die weiße Nachbarschaft den Einzug verhindern will. Seine Frau, die mit glamourösen Partys beweisen will, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Desiree, die beim FBI Fingerabdrücke katalogisiert und bei einem Mittagessen mit Staatsanwälten feststellt: „Ich wusste gar nicht, dass es schwarze Strafverfolger gibt.“ Stella, die sich nimmt, wovon sie glaubt, dass es ihr zusteht. „Zum Weißsein gehörte nichts als Unverschämtheit. Man konnte jeden davon überzeugen, dass man dazugehörte, egal wo, wenn man nur selbst überzeugt war.“
Wegen ihrer genauen Figurenzeichnung wird Bennett bereits mit Toni Morrison verglichen, als Autorin, die gesellschaftliche Verwerfungen in der Psychologie ihrer Protagonisten spiegelt. Vor allem aber ist Bennett eine Meisterin darin, alte literarische Genres in die Gegenwart zu übertragen. Die so genannte Passing Novel etwa, also Geschichten von Schwarzen, die sich als Weiße ausgeben, um rassistischen Anfeindungen zu entkommen. Das Genre geht auf den Roman „Passing“ von Nella Larsen aus dem Jahr 1929 zurück, in dem sich eine Frau aus Harlem für ihren Ehemann als weiß ausgibt. Bennett setzt noch einen drauf, in dem sie die Passing Novel mit dem Zwillingsmotiv kombiniert. Das taucht seit Shakespeare in der Literatur auf und blüht in der Fantasyliteratur, wo Zwillingsfiguren meistens dazu dienen, Gut und Böse voneinander abzugrenzen. Bennet geht allerdings eher wie die Zwillingsforschung in der Wissenschaft vor. Sie will untersuchen, wie sich genetisch identische Menschen entwickeln, wenn sie unter unterschiedlichen Bedingungen leben.
Da ist Desiree, die nach einer Ehe mit einem gewalttätigen Mann an den Ort ihrer Vergangenheit zurückkehrt und sich zusammen mit ihrer Tochter eine Existenz in der Kleinstadt aufbaut, in der sie aufgewachsen ist. Und da ist Stella, die als Weiße lebt, zusammen mit einem weißen Unternehmer eine Tochter hat und immer wieder von ihrer Vergangenheit heimgesucht wird.
Stella ist genauso glücklich oder unglücklich wie Desiree, die Töchter der beiden sind, jede auf ihre Weise, damit beschäftigt, ihren Platz in der Welt zu finden. Bennett nimmt keine Wertung vor, welche Schwester oder welche Tochter die erstrebenswertere Existenz hat, jede Figur steht für eine Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wenn man so will, ist „Die verschwindende Hälfte“ die literarische Weiterführung des Slogans „Black lives matter“: Schwarze Leben zählen, und jeder Lebensentwurf von Schwarzen darf für sich stehen.
VERENA MAYER
Bennett zeichnet ihre Figuren
genau und lässt ihnen die Freiheit,
ihren Platz in der Welt zu finden
Die Schriftstellerin Brit Bennett, geboren 1990, wuchs in Kalifornien auf, publiziert in Medien wie „Jezebel“, „New Yorker“ und „The Paris Review“. „Die verschwindende Hälfte“ ist ihr zweiter Roman.
Foto: imago/ZUMA Press
Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte. Roman.
Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Robin Detje. Rowohlt, Hamburg 2020. 401 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
„Zum Weißsein gehörte nichts als Unverschämtheit“: Eine Frau wählt ihre Identität in Brit Bennetts Roman „Die verschwindende Hälfte“
Eine schwarze Frau, die von ihrem weißen Chef belästigt wird, weil er genau weiß, dass sie sich nicht wehren kann. Eine schwarze Mutter, die zu ihrem Kind sagt: „Rohheit ist alles, was dich da draußen erwartet.“ Ein Mann, der von seinen Nachbarn ins Koma geprügelt wird, weil sie nicht wollen, dass ein Schwarzer in ihrem Viertel lebt. Brit Bennetts neuer Roman „Die verschwindende Hälfte“ spielt in einer Kleinstadt in Louisiana, und als er im Frühsommer vergangenen Jahres, auf dem Höhepunkt der „Black lives matter“-Bewegung, auf Englisch herauskam, wurde er als Kommentar zu dem gelesen, was gerade in den USA passierte. Zum gewaltsamen Tod von George Floyd durch einen Polizisten und ganz allgemein zur Lage einer gespaltenen Nation, die vom Rassismus aufgerieben wird.
Tatsächlich hat sich die 1990 geborene Schriftstellerin in den vergangenen Jahren immer wieder dazu geäußert. In einem Essay rollte sie 2014 den Fall des schwarzen Teenagers Michael Brown auf, der auf dem Weg zu seiner Oma von einem Polizisten mit zwölf Schüssen getötet wurde. Der Text trug den Titel „I don’t know what to do with good white people“ und handelte von ihrem Unbehagen gegenüber weißen Freunden und Kollegen, die immer schnell dabei sind, sich an Internet-Kampagnen gegen Diskriminierung zu beteiligen, sonst aber nicht wahrhaben wollen, wie alltäglich Rassismus ist und von wievielen Menschen er bewusst oder unbewusst getragen wird.
Es wäre jedoch schade, wenn man Bennetts Literatur auf diese Botschaft reduzieren oder ihr gar eine politische Agenda unterstellen würde. Dazu sind ihre Bücher zu vielschichtig. Schon in ihrem Debüt lotete Bennett 2016 komplexe Fragen von Identität und Existenz aus. „Die Mütter“ ist eine Coming-of-Age-Geschichte im ländlichen Amerika, deren jugendliche Protagonistinnen hin und her gerissen sind zwischen dem, was die Kleinstadtgesellschaft für schwarze Frauen vorgesehen hat, und dem, was sie sein und erreichen wollen.
In ihrem zweiten Roman geht es wieder um eine Kleinstadt, Bennett spannt den Bogen aber nun über mehrere Generationen. Im Mittelpunkt stehen die Zwillingsschwestern Stella und Desiree. Als sie noch Kinder sind, wird ihr Vater von einem weißen Mob gelyncht, die Mutter muss die Familie über Wasser halten, indem sie als Hausangestellte für Weiße schuftet. Die Zwillinge wachsen mit der Schmutzwäsche auf, die die Mutter zum Waschen mit nach Hause nehmen muss. Mit 16 haben die beiden genug und brennen zusammen nach Orleans durch.
Es sind die Fünfzigerjahre, die Zeit der Rassentrennung, in der schwarze Menschen separate Schulen besuchen müssen, nicht in Schwimmbäder gelassen werden und bei öffentlichen Gebäuden nicht den Haupteingang benutzen dürfen. Die beiden finden Jobs, und es stellt sich heraus, dass sie wegen ihres Hauttons oft für Weiße gehalten werden. Anfangs ist das für sie ein Spiel, um auch mal durch einen anderen Eingang in ein Museum zu kommen. Doch dann sieht Stella darin auch eine Tür in ein neues Leben. Sie gibt sich als Weiße aus und kappt die Verbindungen zu ihrer Familie.
Mit viel Liebe fürs Detail stattet Britt Bennett ihr Amerika der Fünfziger- und Sechzigerjahre aus. Es ist eine Welt wie aus der Serie Mad Men, mit glänzenden Cadillacs, rauchenden Männern und Frauen in schimmernden Kleidern. Vor allem aber spürt Bennett der Art nach, wie Menschen sich in dieser Welt verorten. Der schwarze Hollywoodschauspieler, der eine Villa in Los Angeles kauft und dafür einen Anwalt braucht, weil die weiße Nachbarschaft den Einzug verhindern will. Seine Frau, die mit glamourösen Partys beweisen will, wo ihr Platz in der Gesellschaft ist. Desiree, die beim FBI Fingerabdrücke katalogisiert und bei einem Mittagessen mit Staatsanwälten feststellt: „Ich wusste gar nicht, dass es schwarze Strafverfolger gibt.“ Stella, die sich nimmt, wovon sie glaubt, dass es ihr zusteht. „Zum Weißsein gehörte nichts als Unverschämtheit. Man konnte jeden davon überzeugen, dass man dazugehörte, egal wo, wenn man nur selbst überzeugt war.“
Wegen ihrer genauen Figurenzeichnung wird Bennett bereits mit Toni Morrison verglichen, als Autorin, die gesellschaftliche Verwerfungen in der Psychologie ihrer Protagonisten spiegelt. Vor allem aber ist Bennett eine Meisterin darin, alte literarische Genres in die Gegenwart zu übertragen. Die so genannte Passing Novel etwa, also Geschichten von Schwarzen, die sich als Weiße ausgeben, um rassistischen Anfeindungen zu entkommen. Das Genre geht auf den Roman „Passing“ von Nella Larsen aus dem Jahr 1929 zurück, in dem sich eine Frau aus Harlem für ihren Ehemann als weiß ausgibt. Bennett setzt noch einen drauf, in dem sie die Passing Novel mit dem Zwillingsmotiv kombiniert. Das taucht seit Shakespeare in der Literatur auf und blüht in der Fantasyliteratur, wo Zwillingsfiguren meistens dazu dienen, Gut und Böse voneinander abzugrenzen. Bennet geht allerdings eher wie die Zwillingsforschung in der Wissenschaft vor. Sie will untersuchen, wie sich genetisch identische Menschen entwickeln, wenn sie unter unterschiedlichen Bedingungen leben.
Da ist Desiree, die nach einer Ehe mit einem gewalttätigen Mann an den Ort ihrer Vergangenheit zurückkehrt und sich zusammen mit ihrer Tochter eine Existenz in der Kleinstadt aufbaut, in der sie aufgewachsen ist. Und da ist Stella, die als Weiße lebt, zusammen mit einem weißen Unternehmer eine Tochter hat und immer wieder von ihrer Vergangenheit heimgesucht wird.
Stella ist genauso glücklich oder unglücklich wie Desiree, die Töchter der beiden sind, jede auf ihre Weise, damit beschäftigt, ihren Platz in der Welt zu finden. Bennett nimmt keine Wertung vor, welche Schwester oder welche Tochter die erstrebenswertere Existenz hat, jede Figur steht für eine Möglichkeit, Entscheidungen zu treffen und ein selbstbestimmtes Leben zu führen. Wenn man so will, ist „Die verschwindende Hälfte“ die literarische Weiterführung des Slogans „Black lives matter“: Schwarze Leben zählen, und jeder Lebensentwurf von Schwarzen darf für sich stehen.
VERENA MAYER
Bennett zeichnet ihre Figuren
genau und lässt ihnen die Freiheit,
ihren Platz in der Welt zu finden
Die Schriftstellerin Brit Bennett, geboren 1990, wuchs in Kalifornien auf, publiziert in Medien wie „Jezebel“, „New Yorker“ und „The Paris Review“. „Die verschwindende Hälfte“ ist ihr zweiter Roman.
Foto: imago/ZUMA Press
Brit Bennett: Die verschwindende Hälfte. Roman.
Aus dem Englischen von Isabel Bogdan und Robin Detje. Rowohlt, Hamburg 2020. 401 Seiten, 22 Euro.
DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Ein Generationen umspannendes Epos über ethnische Zugehörigkeit und die Sehnsucht nach einem neuen Leben, über Liebe und die Last der Geschichte, unüberwindliche Traumata und eine Vergangenheit, die nie vergeht. Booklist