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Neuer Meister der italienischen Literatur: Vincenzo Latronicos Roman "Die Verschwörung der Tauben"
"Von Zeit zu Zeit wird jemand geboren, der eines schönen Tages den Entschluss fasst, die Welt zu erobern, und kurz darauf zieht er los auf der Suche nach einem Ort, wo er die Messer wetzen kann." Ein Satz, selbst schneidend scharf wie eine Klinge: So vielversprechend säbelt Vincenzo Latronico den Champagnerkorken und lässt dann sein Talent sprudeln. "Die Verschwörung der Tauben", das zweite Buch des 1984 geborenen Autors, ist einer der ambitioniertesten italienischen Romane der letzten Jahre, und - das sei verraten - er hält das Niveau bis zur letzten Zeile.
Latronico beweist endlich einmal wieder, dass Romane von jenseits der Alpen sich nicht zwischen gutem Plot und anspruchsvoller Sprache oder Psychologie entscheiden müssen, dass sie geistreich sind und spannend von der Gegenwart berichten. Der selbst noch junge Secession Verlag aus Zürich, der mit Jérôme Ferrari einen späteren Goncourt-Preisträger ins Programm genommen hatte, zeigt abermals Gespür für Talent.
"Die Verschwörung der Tauben" erzählt die Geschichte zweier ungleicher Freunde: Alfredo Cannella, Sohn eines venezianischen Baulöwen und Firmenerbe in spe, sowie Donka Berati, Sohn eines einfachen albanischen Arbeiters, der seinen Weg machen will. Die beiden jungen Männer sind die Erben von Julien Sorel, Eugène de Rastignac und Frédéric Moreau: Latronico erzählt wie ein französischer Realist von "jungen Wölfen mit langen Zähnen", welche die Welt erobern wollen. Das probate Mittel ist Harvard, aber der eine kommt nicht rein, und der andere fliegt wieder raus. Sie treffen sich in Mailand, wo beide an der Bocconi, einer privaten Wirtschaftsuniversität, studieren. Anschließend ergattert Donka ein Doktorandenstipendium an der staatlichen Universität, während Alfredo leer ausgeht. Er sieht sich auf den Markt geworfen, der dank der väterlichen Hand nur halb frei ist: Er beginnt, in der Mailänder Niederlassung des Familienunternehmens zu arbeiten.
In der Folge entwirft Latronico ein weitgespanntes Netz von Figuren, mit dem er die heutige Welt einzufangen sucht. Da wäre Professor Eugenio Corradini, Donkas Betreuer, ein korrupter Strippenzieher in einem korrupten System. Oder Kay Montana, Alfredos Kollegin, die vom Blumen- zum Immobilienhandel gewechselt hat und die Trennung von ihrem Ex-Mann Maurizio nicht verkraftet, der im New Yorker Investmentbanking Geld scheffelt. Vor allem wäre da Eltjon Thika, der Landsmann Donkas, ein Tausendsassa, der einen Dönerladen betreibt, schwunghaft mit Bürgschaften handelt, Geldtransfers für Migranten anbietet und schließlich Donka dazu überredet, ein Schneeballsystem aufzubauen - genau wie jenes, mit dem Eltjon einst halb Albanien ruiniert hat, darunter Donkas Familie. Die Eminenz im Hintergrund ist der Millionenerbe Miles Eli Rosewater, den Donka aus Harvard kennt, wo beide um die attraktive Drina Drzic warben; er wird Alfredos Geschäftspartner.
Albanien: die arme Herkunft. Amerika: der Traum vom Erfolg. Italien: die Realität, in der man sein Glück versucht. Das sind die Spielfelder, auf denen Latronico seine Figuren aufstellt. All die Geschichten, ob in der Gegenwart oder in der Rückschau erzählt, gruppiert er geschickt um seine Hauptfiguren Alfredo und Donka, deren Wege sich des Öfteren kreuzen. Als Erzähler dient ihm ein Kommilitone der beiden, der allerdings Donka nahesteht und parteiisch ist - eine geschickte ironische Wendung unter vielen. Latronico ist ein hervorragender Fabulierer, er geht den eigenen Geschichten jedoch nicht auf den Leim.
Die zwei Figuren entwickeln sich auf sehr unterschiedliche Weise: Alfredo fällt bei seinen Immobilienspekulationen auf die Nase, wird vom Vater gerettet und beginnt in New York eine neue Karriere als Vermögensverwalter. Getrieben vom Bedürfnis, "Papà" den eigenen Erfolg zu beweisen, kehrt er zurück, um ein Immobilienprojekt in Mailand zu lancieren. Sein Leben scheint von Erfolg, Luxus und schönen Frauen bestimmt; er erobert sogar Drina, die nun als "motivational consultant" arbeitet und den Finanzbetrieb von innen kennt. Donka hingegen muss einsehen, dass die akademische Laufbahn steinig ist und der Erfolg zweifelhaft: Er lehrt, wird promoviert, schreibt Artikel für seinen Professor; sein Liebesleben beschränkt sich auf sadomasochistischen Sex mit der herben Carla aus der Möbelverwaltung.
Da stirbt der Protektor, und die lieben Kollegen versuchen "in emsiger Kleinarbeit etwas von Eugenio Corradinis Leiche zu fleddern". Donka beerdigt Corradini mitsamt seiner Unilaufbahn und sucht nach einem Plan B. Er hilft Alfredo bei einer Transaktion, lässt sich von Eltjon in schmutzige Geschäfte ziehen und beginnt eine Affäre mit Drina. Dank ihrer Insiderkenntnisse kommt er dahinter, dass Rosewater, der einst für seinen Rausschmiss aus Harvard gesorgt hatte, ein zweiter Madoff ist: für Donka die Gelegenheit zu einer großartigen Rache.
Am Ende des Romans stehen zwei Ponzi-Systeme, ein amerikanisches und ein albanisches; die unter Liebe und Freundschaft schwelenden Konflikte explodieren in der finalen Abrechnung. Darauf spielt der Titel des Romans an, denn Latronico bemüht Spieltheorie und Ethologie. Das menschliche Sozialverhalten ähnelt dem von zwei Vogelarten: "die ,Falken', die während einer Begegnung versuchen, den eigenen Profit zum Nachteil des anderen zu maximieren, und die ,Tauben', die eine Zusammenarbeit bevorzugen, selbst wenn sie dabei Einbußen erleiden. Ein Falke ist jemand, könnte man sagen, der zum Verrat bereit ist. Und eine ,Taube' ist jemand, der vertraut, auch auf die Gefahr hin, verraten zu werden." Clou des Modells ist, "dass die natürliche Auslese zur Bevorzugung der Tauben tendiert", weil sie in der Gruppe handeln - und eine "Verschwörung der Tauben" liegt vor, wenn "es den Tauben, jeder Voraussage zum Trotz, im Laufe weniger Generationen gelingt, eine beliebige Population an Falken zu überwältigen". Auf die menschliche Gesellschaft übertragen, bedeutet dies, dass die Falken versuchen werden, sich den Tauben anzupassen. Nur: Können schlafende Falken nicht aufwachen? Wer ist Taube, wer Falke? Gilt das Modell auch für Freundschaften? Stimmt es überhaupt? Kurz: Wer gewinnt?
Menschen- als Tiergruppen im Überlebenskampf, die Einsamkeit des Einzelnen, der Roman als Experimentierfeld: "Die Verschwörung der Tauben" ist mit Michel Houellebecqs Romanen verwandt, schlägt aber einen leichteren Ton an. Latronico kennt das Chaos und traut dem menschlichen Witz. Er parliert mit treffsicherer Leichtigkeit davon, wie Leidenschaften entstehen, vergehen, wie Menschen das Ruder herumreißen. So jung und schon ein abgebrühter Träumer: Mit Latronico wird man rechnen müssen.
NIKLAS BENDER
Vincenzo Latronico: "Die Verschwörung der Tauben". Roman.
Aus dem Italienischen von Klaudia Ruschkowski. Secession Verlag für Literatur, Zürich 2016. 336 S., geb., 24,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Vincenzo Latronicos „Die Verschwörung der Tauben“ ist ein rasanter Thriller aus der Welt
der Finanzwirtschaft – und zugleich das Porträt einer verlorenen Generation in Italien
VON MAIKE ALBATH
Schwarze Locken, den Brioni-Anzug lässig am Leib, die Kreditkarte gezückt, ein glänzendes Abschlusszeugnis der Mailänder Wirtschaftsuniversität Bocconi in der Tasche und ein einflussreicher Papa im Hintergrund – und doch will Alfredo Cannella mehr, viel mehr. Der ambitionierte Nachwuchsunternehmer steht seit seiner Ablehnung in Harvard enorm unter Zugzwang, und die kränkende Herablassung seines Vaters tut ihr Übriges. Alfredos unstillbare Gier ist der Motor des Romans „Die Verschwörung der Tauben“ von Vincenzo Latronico. Vieles glückt dem jungen Finanzgenie, der einen Riecher für Geschäfte und Stimmungen hat, einen Coup für die familieneigene Baufirma in Mailand landet, kurz darauf zu scheitern droht, dann nach New York ins Investmentbanking wechselt, sich schließlich mit Immobilien um Kopf und Kragen bringt und auf jeden Misserfolg mit noch riskanteren Strategien reagiert.
Latronico verknüpft eine typische Psychopathologie der Nullerjahre mit archaischen Motiven: Es geht nicht nur um den Kampf Alfredos gegen seinen übermächtigen Vater, sondern er stellt seinem von Ehrgeiz zerfressenen Helden auch noch einen Rivalen zur Seite. Donka, den besten Freund und Mitbewohner Alfredos, übergewichtig, aus Albanien gebürtig, kein Frauenheld, aber intelligenter und sympathischer als das Papasöhnchen. Weil ihn sein Doktorvater unterstützt, schlägt Donka, der immerhin ein paar Jahre in Harvard war, zunächst eine akademische Karriere ein. Schon auf den ersten Seiten deutet sich eine Art Kain-und-Abel-Konstellation an. Den entscheidenden Dreh bekommt das Ganze dann durch das weibliche Element: Die junge Dame heißt Drina, eine Kroatin, und spielt im Leben beider Männer eine zentrale Rolle. Schließlich nimmt auch noch ein Ich-Erzähler im Hintergrund Witterung auf. Zunächst stattet er den Schauplätzen Mailand, Boston und Berlin nur alle fünfzig Seiten eine Stippvisite ab, bevor er im Mittelteil ausführlicher zu Wort kommt. Er unternimmt einen Ausflug in die Metafiktion, gibt sich als Arrangeur zu erkennen, denkt über das Handwerk des Schreibens nach und führt in der Schlusskadenz die Fäden zusammen.
Vincenzo Latronico, Jahrgang 1984, Absolvent der philosophischen Fakultät von Mailand und genau wie sein Ich-Erzähler eine Weile lang in Berlin beheimatet, debütierte 2008 mit „Ginnastica e revoluzione “. 2011 erschien sein zweites Buch „Die Verschwörung der Tauben“, das jetzt auf Deutsch vorliegt. Zu entdecken ist ein Schriftsteller, der von Michel Houellebecq über David Foster Wallace und Roberto Bolaño bis zu Antonio Moresco die Gegenwartsliteratur inhaliert hat, mit Verfahren wie der Autofiktion à la Roland Barthes arbeitet, außerdem etwas von Spieltheorie, Wirtschaft und Bauspekulation versteht und daraus eine kurvenreiche Handlung zu basteln weiß. Latronico hat sich also ziemlich viel vorgenommen. Ein bisschen zu viel vielleicht, ähnlich wie sein getriebener Held, dennoch ist sein Roman eine der überraschendsten Neuerscheinungen aus Italien. Nebenbei gelingt ihm ein Porträt seiner Generation und seines Landes.
Latronico eröffnet seinen Roman mit einer ironischen Geste und parodiert den jovialen Erzählerton des 19. Jahrhunderts – früher habe man Schlachten ausfechten und dort zum Mann werden können, heute gehe es nur noch um die richtige Universität. Diese etwas zu kennerische Pose fällt von ihm ab, als er seine Hauptfiguren einführt und nach und nach ins Erzählen kommt. Er entwirft ein ganzes Set einprägsamer Charaktere, angefangen mit dem autoritären Patriarchen der Old Economy Giulio Cannella, der seinen Sohn Alfredo immer wieder genussvoll demütigt, über die geheimnisvolle Drina, die als Lifecoach zweifelnde Entscheidungsträger in die Spur bringt, bis hin zu dem Oberschichtssprössling Miles Eli Rosewater, einem Wiedergänger des legendären Anlageberaters Bernie Maddof, der mit arroganter Selbstverständlichkeit Milliarden versenkt.
Präzise analysiert Latronico die Folgen der Berlusconi-Ära: Alfredo ist ein Geschöpf jener Epoche. Auch die zweite Hauptfigur Donka Berati, mit dem Instinkt eines Aufsteigers ausgestattet, ist ein abgründiger Charakter. Seine kriminelle Energie speist sich aus ganz anderen Quellen. Manchmal übertreibt es der Autor mit seiner Liebe zum Detail – nicht jede Masturbation ist für den Leser von Belang. Dann wieder liefert der Autor atemberaubende Einblicke in die Mailänder Lokalpolitik: Wie man aus einem besetzten Haus eine angesagte Adresse macht und Protestaktionen von Bürgerkomitees zu Reklamezwecken umpolt, ist glänzend geschildert, ebenso wie die komplett korrupten Berufungsverfahren an der Universität und die Gepflogenheiten in Diskotheken. Ein bisschen College-Roman, ein bisschen Finanz-Thriller, auch Elemente aus anderen populären Genres fließen mit ein. Ein Bankenskandal in Albanien, der tatsächlich passiert ist, das Land in seinen Grundfesten erschütterte und ein Vorbote der großen Krise von 2008 war, verleiht der Handlung zusätzliche Rasanz.
Der Titel des Romans spielt auf ein Modell aus der Spieltheorie an, mit dem sich der Ich-Erzähler befasst: Auch wenn kooperative Tauben gegenüber egoistischen Falken benachteiligt sind, können sie als Gruppe die Gesetze der dominanten Spezies außer Kraft setzen. Am Ende scheint sich diese Regel zu bewahrheiten. Latronicos Figurentableau besitzt nicht nur soziologische Raffinesse – der Autor zeigt zugleich, warum sich aus der Ausgrenzung einer ganzen Generation keine revolutionäre Kraft entwickelt. Jedes Aufbegehren wird durch Abhängigkeiten entschärft. Wer sich fragt, wie es um die Dreißigjährigen in Italien steht, findet bei Latronico ein paar Antworten.
Vincenzo Latronico: Die Verschwörung der Tauben. Roman. Aus dem Italienischen von Claudia Ruschkowski. Secession Verlag, Zürich 2016, 335 Seiten, 24 Euro. E-Book 19,99 Euro.
Zu entdecken ist hier eine
der überraschendsten
Neuerscheinungen aus Italien
Der Kapitalismus als modernes Schlachtfeld, so sieht das auch der Autor Latronico. Unser Bild zeigt das Mailänder Börsenparkett.
Foto: LEEMAGE
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