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Auf das Ende zu: Matthias Bormuth widmet sich vier Passionsgeschichten und hat dabei einen Gewährsmann als Gegenfigur parat.
Es gibt Lebensläufe, die von ihrem Ende her gelesen werden wollen. Der Tod markiert in solchen Fällen nicht das natürliche Ende des Lebens, sondern erscheint als sinnstiftender Akt und abschließender Höhepunkt einer Entwicklung, die rückblickend gesehen den Charakter des Zwangsläufigen annimmt, als habe es anders nicht kommen können. Die Umstände des Todes bestimmen in solchen Fällen die Wege der Deutung des Lebens, das ihnen vorausgegangen ist. Anders gesagt: Wer zum Märtyrer werden will, tut gut daran, seinem Tod nicht im Lehnstuhl entgegenzusehen.
Matthias Bormuth spürt in seinem Buch vier Lebensgeschichten nach, die im unerhörten Ereignis einer aufsehenerregenden Todesart münden. Er bezeichnet seine Protagonisten - Ingeborg Bachmann, Jean Améry, Uwe Johnson und Ulrike Meinhof - als "Die Verunglückten" und greift damit einen Titel Johnsons auf. Die "Skizze eines Verunglückten" erschien 1981, nachdem Max Frisch zuvor das Fragment einer Erzählung mit dem Titel "Skizze eines Unglücks" veröffentlicht hatte. Indem Johnson Frischs Titel variierte, nahm er eine signifikante Akzentverschiebung vor: weg vom Ereignis hin zur Person, der es widerfährt und die dadurch so geprägt wird, dass sie fortan eines Eigennamens fast schon nicht mehr bedarf. Verunglückt zu sein ist ihr wichtigstes Merkmal, ihre entscheidende Charaktereigenschaft.
Aber um welche Art von Unglück handelt es sich, was verbindet Bormuths vier Protagonisten? Der Autor definiert sie als Intellektuelle in einem "geistesgeschichtlich deutschen Sinn". Mit Max Weber beschreibt er sie als Personen, die eine "innere Nötigung" empfinden, "die Welt als einen sinnvollen Kosmos erfassen und zu ihr Stellung nehmen zu können". Allen gemeinsam sei das Leiden an einer ungerechten Welt vor dem Hintergrund des Zivilisationsbruchs, der in den Gaskammern und Krematorien der Konzentrationslager kulminierte. Wer sich mit den Werken von Bachmann, Améry und Johnson vertraut macht, werde "jeweils mit dem Elend eines Lebens konfrontiert, in dem der Tod zu einem Versprechen werden kann".
Aber es geht Bormuth nicht allein um ausweglos erscheinende Lebenssituationen. Zwar sind die "suizidalen Gedanken und Handlungen" der Protagonisten wichtige Gegenstände seiner Untersuchungen, aber erst mit dem Hintergrund der jüdisch-christlichen Opfertradition erhalten sie den Fluchtpunkt, auf den es der Autor abgesehen hat und der es ihm erlaubt, von "säkularisierten Passionsgeschichten" zu sprechen.
Auffällig ist, dass der Autor keinerlei Anschluss an gegenwärtige Opferdiskurse sucht. Er verhandelt Varianten künstlerischer Selbstviktimisierung, ohne sie als solche zu benennen. Bormuth, der Medizin studiert hat, "psychiatrisch tätig" war, wie der Verlag mitteilt, und heute eine Professur für vergleichende Ideengeschichte in Oldenburg innehat, setzt nach einer ausführlichen Einleitung mit dem Essay zu Jean Améry ein. Es ist die Chronik eines angekündigten Todes. Améry, 1912 in Wien geboren, schloss sich dem Widerstand in Belgien an, wurde von der Gestapo verhaftet und deportiert. Er überlebte mehrere Konzentrationslager und ließ sich nach der Befreiung des Lagers Bergen-Belsen als freier Publizist in Brüssel nieder. Nachdem er 1965 im "Merkur" über seine Haft berichtet hatte, wurde er rasch bekannt. 1976, da war er längst berühmt, erschien sein am meisten diskutierter Text: "Hand an sich legen. Diskurs über den Freitod". Zwei Jahre nach dieser Publikation schied Améry freiwillig aus dem Leben. Welche Rolle die traumatischen Erfahrungen von Folter und Lagerhaft dabei spielten und wie schwer die lebenslang empfundene Kränkung wog, zwar als Essayist, nicht aber als Romanautor Anerkennung zu finden, muss dahingestellt bleiben. Sein Tod solle seine Sache sein, hatte Améry geschrieben und zugleich den Freitod allgemein als "Privileg des Humanen" definiert.
Bei Améry erscheint das Lebensende weitaus mehr als bei den anderen "Verunglückten" als verzweifelter Versuch, zurückzugewinnen, was zuvor verlorengegangen war: Autonomie und Selbstbestimmung. Ein Satz von Imre Kertész, von dem die Bemerkung stammt, der Holocaust habe seine Heiligen wie jede andere Subkultur auch, widerspricht dieser Deutung und bekräftigt sie zugleich: "Als hätte die Befreiung der Lager das Urteil nur aufgeschoben, das die zum Tode Bestimmten schließlich selbst vollstreckten." Man liest danach nicht ohne ein gewisses Unbehagen das Kapitel über Ingeborg Bachmann, die das Unglück ihres Privatlebens mit einem historischen Kontext verwob und das Amalgam literarisch fruchtbar machte. Was sie Paul Celan in einem nicht abgeschickten Brief vorwarf, dürfte auf gewisse Weise auch für sie selbst gegolten haben: "Du willst das Opfer sein, aber es liegt an Dir, es nicht zu sein . . . Du willst der sein, der dran zuschanden wird."
Das Zuschandengehen als letzter, unbezweifelbarer Ausweis äußerster moralischer Integrität und persönlicher Wahrhaftigkeit - ist auch das eine Denkfigur, die man mit Bormuth in einem "geistesgeschichtlich deutschen Sinn" verstehen müsste? Bachmann und Johnson verbindet die Übersteigerung privater Malaisen, und was Max Frisch mit Blick auf seine Beziehung zu Ingeborg Bachmann in "Montauk" formuliert hat, könnte auch Elisabeth Johnson über den moralischen Rigorismus ihres Ehemanns gesagt haben: "Die klare Erkenntnis, lebbar nicht länger als vier Wochen." Dass der Verrat durch Ehebruch, den Johnson ihr unterstellte, sich anders zugetragen hatte als zunächst vermutet, wollte er nicht wahrhaben. Johnson verschanzte sich in seiner Verletztheit wie in einer Trutzburg.
Matthias Bormuths Studie ist materialreich und konzentriert. Was ihm wichtig ist, etwa Siegfried Unselds ambivalentes Verhalten gegenüber seinem schwierigen Autor Johnson, behandelt er ausdauernd. Er ist nicht der Richter seiner Protagonisten und auch nicht ihr Hagiograph. Als ihren Anwalt wird man ihn jedoch bezeichnen dürfen, vor allem im letzten Essay, der Ulrike Meinhof gilt. Sein Stil ist mitunter etwas umständlich, die Syntax ein wenig steif. Das Lektorat war nicht immer konzentriert bei der Sache oder in Gedanken halb bei Flaubert, wenn die Journalistin Margret Boveri plötzlich Bovari heißt.
Die Versuchung, die "Verunglückten" zu modernen Heiligenfiguren zu stilisieren, ist spürbar, aber Bormuth ist ihr nicht erlegen. Seine Sympathien dürften halbwegs gleichmäßig verteilt sein. Nur einer bekommt mehr davon als die anderen. Man ist versucht zu sagen: wie immer. Es ist Hans Magnus Enzensberger, wie Peter Rühmkorf ein teilnehmender Beobachter der Republik und die Brücke, über die Bormuth von den drei Schriftstellern zur Journalistin Ulrike Meinhof findet. Ihr gilt der letzte Satz des Buches. Er stammt von Per Olov Enquist: "Gewisse Tragödien erschaffen Heilige. Aus so guten Gründen so unerhört in die Irre zu gehen!"
Das letzte Wort, im übertragenen Sinne, hat indes Enzensberger. Bormuth lässt ihn immer wieder zu Wort kommen, als Gewährsmann, dessen Bericht immer auch schon die Deutung des Geschehens enthält. Enzensberger ist die heimliche Gegenfigur zu den Verunglückten, die aus allen Problemlagen und Aporien stets einen Ausweg zu finden wusste. Wenn auch nur für sich selbst.
HUBERT SPIEGEL.
Matthias Bormuth: "Die Verunglückten". Bachmann, Johnson, Meinhof, Améry.
Berenberg Verlag, Berlin 2020. 248 S., geb., 25,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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