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»Wir hielten uns an den Händen, für die Kraft. Jede brauchte einen Menschen.« - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse
Eine nationalsozialistische Vorzeigemutter, die anderen beibringt, wie Kinder zu erziehen sind, doch über das Wichtigste, was sie verloren hat, niemals spricht. Eine Köchin, die lieber Frauen geliebt hätte als den Dienstherrn, unterwegs durch das zerstörte Deutschland im Sommer 1945. Ein Mädchen in München Solln, geboren in einem Lebensbornheim der SS. Eine alleinerziehende Anwältin von heute, die nach dem Tod ihrer Mutter unverhofft eine Wohnung in Wrocław erbt –…mehr

Produktbeschreibung
»Wir hielten uns an den Händen, für die Kraft. Jede brauchte einen Menschen.« - Nominiert für den Preis der Leipziger Buchmesse

Eine nationalsozialistische Vorzeigemutter, die anderen beibringt, wie Kinder zu erziehen sind, doch über das Wichtigste, was sie verloren hat, niemals spricht. Eine Köchin, die lieber Frauen geliebt hätte als den Dienstherrn, unterwegs durch das zerstörte Deutschland im Sommer 1945. Ein Mädchen in München Solln, geboren in einem Lebensbornheim der SS. Eine alleinerziehende Anwältin von heute, die nach dem Tod ihrer Mutter unverhofft eine Wohnung in Wrocław erbt – und einen polnischen Zweig der Familie entdeckt. Alle Figuren verbindet ein Jahrhundert von Krieg und Nachkrieg, Flucht und Vertreibung, von Gewalt. Was bedeutet es, in einem Staat zu leben, der Menschenzucht betreibt? Und wie darüber schreiben, was den Frauen im Krieg geschieht? Was ihnen die Sprache nimmt. Was sie für immer verwandelt. Und wie über die unsichtbare Kraft, die verhindert, dass sie daran zerbrechen?

Ulrike Draesner gibt den Verwandelten ihre Stimmen zurück. Sie erfinden sich neu, wechseln Sprache und Land, überraschen sich selbst mit ihrem Mut, ihrem Humor, ihrer Kraft. Die Bedeutung von Familie verändert sich, Freiräume entstehen. Ein erschütternder Roman, bewegend, aufwühlend, zärtlich, klug.

Schaut: die Liebe der Töchter zu ihren Müttern, der Mütter zu ihren Töchtern. Schaut, wie sie blitzt durch ein dunkles Tuch.

Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung 2024: »Ulrike Draesners Werke halten – mit hochentwickeltem Sprachbewusstsein – literarische Signale politischer Vorgänge in Zeitenwenden fest; sie bezeugen dadurch die verwandelnde Kraft der Literatur.« (aus der Begründung der Jury)

Autorenporträt
Ulrike Draesner, 1962 in München geboren, wurde für ihre Romane, Essays und Gedichte vielfach ausgezeichnet. Zuletzt erhielt sie den Großen Preis des Deutschen Literaturfonds (2021) für ihr Gesamtwerk, das multimediale Arbeiten und Übersetzungen einschließt. Die Jahre 2015 bis 2017 verbrachte Draesner in England. Nach verschiedenen internationalen Gastdozenturen und Poetikvorlesungen ist sie seit April 2018 Professorin am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Draesner lebt mit ihrer Tochter in Berlin.
Rezensionen

Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension

Einen "Roman gegen die Sprachlosigkeit" liest Rezensent Fridtjof Küchemann mit Ulrike Draesners neuem Buch. Die Autorin erzählt über drei Generationen die Geschichten von deutschen und polnischen Frauen, die, auch lange nach seinem Ende, mit den traumatischen Folgen des Krieges zu kämpfen haben. Kinga, eine der Haupfiguren im Roman, ist eines der sogenannten "Nebelkinder", informiert uns der Rezensent, Teil der ersten Nachkriegsgeneration, deren Eltern sich über die Vergangenheit in Schweigen hüllten. So muss Kinga erst einmal herausfinden, welche zerstörerische Rolle der Krieg in ihrer Familie spielte, verrät Küchemann. Allerdings, betont er, belässt es Draesner nicht bei der Suche nach "fehlenden Puzzleteilen" einer Familiengeschichte, ihr Roman ist komplex konstruiert und erzählt aus mehreren Perspektiven. Das ist so eindringlich, realistisch und gut recherchiert, findet der Kritiker, dass man die Figurenbiografien für wahr halten könnte.

© Perlentaucher Medien GmbH

Süddeutsche Zeitung - Rezension
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 22.04.2023

Wovon sich nicht sprechen lässt
Ulrike Draesner will das Schweigen von Frauen hörbar machen
Was vergangen ist, ist nicht vorbei; und umso weniger, je mehr man darüber schweigt. Dies ist die Prämisse von Ulrike Draesners Roman „Die Verwandelten“ – dem dritten von der Autorin, in dem sie sich dem Weltkrieg und seinen Folgen zuwendet. Das Buch beginnt mit der Juristin Kinga, Spezialistin für Erbrecht. Sie ist nicht mehr ganz jung, und ihr ganzes Herzblut gilt der Adoptivtochter Flummy, einem Mädchen aus der Südsee, das sie spät an Tochters statt angenommen hat.
Eines Tages, nach einem ihrer Vorträge, tritt eine Zuhörerin an sie heran und bekundet durch ihre Nachfragen nicht nur fachliches Interesse, sondern auch, dass sie über Kinga persönlich mehr weiß als diese selbst. Dorota heißt sie, eine Polin mit akzentfreiem Deutsch, die alsbald Teil von Kingas kleiner Familie wird. Damit öffnet sich das Tor, um nicht zu sagen die Falltür, in die Vergangenheit.
Was sich allmählich herausschält: Alissa, Kingas alleinerziehende Mutter, ist nicht das leibliche Kind ihrer Eltern Gerd und Gerda gewesen, sondern wurde im schon erinnerungsfähigen Alter von fünf Jahren über ein Lebensborn-Heim im bayerischen Oberland adoptiert. Gerd und Gerda waren damals stramme Nazis und tauften die verdächtige Alissa in Gerhild um. Deren wahre Mutter, Adele, war ein Dienstmädchen in Breslau, geschwängert vom Dienstherren Marolf, dessen Gattin Else den Bankert nicht im Haus dulden wollte: So wurde er nach Bayern abgegeben. Else und Marolf hatten auch eine legitime Tochter namens Reni, die 1945 allein im von den Russen eroberten Breslau zurückbleibt, als Marolf und Else in den Westen fliehen, und eine neue Identität als die Polin Walla annimmt; Dorota ist ihre Tochter.
Das Ganze ist noch weit komplexer, als sich hier wiedergeben lässt. Das Buch erstreckt sich über drei Länder, drei Generationen (wenn man Flummy mitzählt, vier) und neunzig Jahre von den Dreißigern bis heute, mit dem Herkunfts- und Sehnsuchtsort Breslau/Wrocław im Zentrum. Erzählt wird die Geschichte in sieben Stimmen von sieben Frauen, die (mit wenigen Ausnahmen) immer „ich“ sagen: Kinga, Dorota, Alissa/Gerhild, Reni/Walla, Else, Adele, Gerda. Männer kommen nur als Besprochene vor, und auch das eher am Rande, als schwache Gatten, verduftende Liebhaber oder sadistische Verbrecher.
Sieben Stimmen: Aber sie klingen alle gleich. Ulrike Draesner hat es als ihr Ziel und poetisches Verfahren bezeichnet, das Schweigen der Frauen hörbar zu machen. Der Vorsatz ist ehrenwert; aber in sich widersprüchlich. Wer das Schweigen anderer hörbar zu machen sucht, setzt notwendig sich selbst an ihre Stelle und bevormundet sie von Neuem.
Ulrike Draesner ist auch als Lyrikerin hervorgetreten und hat dafür Anerkennung gefunden. Diese Qualität zeigt sich an vielen Stellen, wenn sie von Orten, Stimmungen, Tieren spricht. Aber wo sich solch lyrisches Sprechen als Stil und Haltung des Ich-Erzählens behauptet, erhebt es sich über diejenigen, denen es in den Mund gelegt wird.
Zwar kommt auf diese Weise durchaus die lang verschwiegene Wahrheit ans Licht, doch wenn diese sieben Frauen selbst gesprochen hätten, dann hätten sie es wahrscheinlich anders getan, nämlich so, wie ihr Milieu, ihre Zeit, ihr Temperament es ihnen eingeben und vorzeichnen.
Am ehesten gelingt Draesner ihre Absicht dort, wo die Sprechende ihr selbst in Alter und Umwelt nah ist, bei Kinga also; am wenigsten beim Dienstmädchen Adele, deren Sphäre sie ganz fern steht. Diese spricht so: „Auf dem Markt fühlte ich die Mürbigkeit des Fleisches, seine Frische und seine Fettgewebe durch Federn oder Fell.“ Des Fleisches wohlgemerkt, nicht des Fleischs. Zweifellos tut Adele das, was hier beschrieben wird. Aber hätte sie es selbst so gesagt? Die Alliteration aus Fettgewebe, Federn und Fell jedenfalls gehört ganz der Dichterin.
Nun mag man sagen, es handle sich um Romanfiguren, mit denen die Autorin walten könne, wie es ihr passt, auch wenn sie eingestandenermaßen auf reale Erfahrungsberichte zurückgreift, die sie ihren Recherchen verdankt. Aufschlussreich ist es da, zum Vergleich einen anderen Roman heranzuziehen, „Die Unvollendeten“ von Reinhard Jirgl, ein Buch, das sich schon im Titel als ein Zwilling der „Verwandelten“ beglaubigt.
Auch Jirgl lässt drei Generationen von Frauen auftreten, in ihren Lebensläufen ebenfalls gebündelt durch den traumatischen Vorgang der Vertreibung aus dem Osten, in diesem Fall statt Schlesiens dem Sudetenland. Aber er betreibt wahre Mimikry an den Ausdruck seiner Figuren. Wenn der linkische Galan es von der Geliebten selbst erfährt, dass sie sich neu gebunden hat, dann heißt es dort: nen Ver!lobten habe sie. Das Ausrufezeichen mitten im Wort bezeichnet ebenso den weiblichen Triumph über wie den männlichen Argwohn gegen diesen Klassenaufstieg; und zwar auf zugleich direktere Weise, denn so reden sie wirklich, und auf indirektere, denn es spricht hier etwas anderes durch sie hindurch.
Von diesem Einwand, der an die Wurzel des Buchs reicht, seien jene Passagen ausgenommen, worin Mutter Else und Tochter Reni, die nachmalige Walla, in einem ersten Fluchtversuch vom bedrohten Breslau zu Fuß nach Westen gelangen wollen. Es herrscht bittere Kälte, es gibt nichts zu essen, niemand weiß, wo man eigentlich hin soll. Massenvergewaltigungen finden statt, nach denen die Frauen in Wahnsinn verfallen, Babys werden abgeschlachtet.
Draesner findet einen Weg, wie den ins äußerste Verstummen gedrängten Frauen wieder Sprache zuwächst. Das ist dann freilich keine mimetische Stimme mehr. Es ist etwas anderes, man zögert zu sagen: Besseres.
Eine Sprache ist es, die das reale Entsetzen fasst und doch zugleich als unaussprechlich respektiert; in seiner durchscheinenden Hülle führt es Leser und Leserin noch Jahrzehnte später an den Rand des Aushaltbaren: „Am Morgen ist Benschi (das Baby) tot. Da lacht die Nacht. Sie ist in uns gekrochen, da bleibt sie sitzen. Der liebe Pinguin, wie er mit den Armen flappte, wenn er versuchte zu laufen oder sich freute, ein Arm hat ihn …, eine Hand hat ihn … gegen eine Wand.“
Es ist ein interessantes Buch geworden. Das ist vielleicht besser, als wenn es ein gutes geworden wäre. Ärgerlich an ihm ist die Übegriffigkeit der Erzählhaltung: als stünde es der Autorin frei, alles und alle zum eigenen Ton breitzuschlagen. Verheißungsvoll und stark aber muss man es nennen, wie sie, wo es am schlimmsten kommt, von dem spricht, wovon sich nicht sprechen lässt. Hier ist die harte Lyrik am Platze; durch hohen Druck verwandelt sie, was schwarzer Kohlenstaub war, in einen Diamanten.
BURKHARD MÜLLER
Ulrike Draesner:
Die Verwandelten.
Roman.
Penguin Verlag,
München 2023.
601 Seiten,
26 Euro.

DIZdigital: Alle Rechte vorbehalten – Süddeutsche Zeitung GmbH, München
Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
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Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 26.04.2023

Durch den Krieg gekrochen

Das "große Schlimme" und die Frauen: Ulrike Draesner lässt in "Die Verwandelten"

Kriegsversehrte aus drei Generationen sprechen.

Eine Frau aus Breslau zieht durch die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und durch die ersten der Nachkriegszeit, im April hat sie sich auf den Weg gemacht, im Sommer kommt sie endlich an in Steinhöring östlich von München. Ihre Tochter ist nicht mehr da. Kein Kind ist mehr in dem ehemaligen Lebensborn-Heim der Nationalsozialisten. Adele ist zu spät gekommen.

Ein Mädchen steht am Zaun, steht auf der Straße, will gehen: Flüchtende ziehen durch Solln bei München in der Nachkriegszeit, und Alissa weiß bestimmt, dass ihre Mutter unter ihnen ist, dass sie nach ihr sucht. Ihre richtige Mutter. Die Eltern binden sie an, erst an einen Baum, dann im Haus an einen Stuhl. Bis sie eines Tages mit ihm umkippt, auf den Kopf fällt, ohne sich auffangen zu können. Bis die Mutter, die so gern eine richtige Mutter wäre, dem Vorschlag des Kindes nachgibt: Sie fahren gemeinsam nach Steinhöring und fragen dort nach Adele Herschel. Wenn in Haus Hochland niemand ihren Namen gehört hat, gibt sich Alissa geschlagen. Im Oktober 1945 machen sie sich auf den Weg. Aus dem ehemaligen Lebensborn-Heim ist ein Kinderkrankenhaus der Salesianerinnen geworden. Sie fahren umsonst.

Was macht der Krieg mit Familien, was mit Frauen, was macht er mit Frauen schon in seiner Vorbereitung, was wird aus ihnen, was aus ihren Kindern danach? In ihrem Roman "Die Verwandelten" erzählt Ulrike Draesner von Frauen aus drei Generationen, aus ihren Leben, die miteinander verbunden, verschränkt, verknotet sind, die verdreht sind, verkehrt, versehrt vom "großen Schlimmen", auch wenn sie erst lange nach dem Krieg geboren worden sind, selbst wenn sie die längste Zeit ihres Lebens keine Ahnung hatten, welche Rolle der Krieg in ihrer Familien-, also ihrer eigenen Geschichte gespielt hat. Oder nicht viel mehr als eine nebulöse Vermutung.

"Nebelkinder" werden die in den Sechzigerjahren Geborenen genannt, deren kriegsgezeichnete Eltern, wie Ulrike Draesner schreibt, allenfalls "andeuteten und verstummten, mit Floskeln abspeisten, sich selbst nicht anders verstanden denn als Schemen, Eltern, die den Nebel erzeugten, an dem sie zugleich litten, was sie nie zugegeben hätten, denn sie taten es, um sich zu schützen". Ein solches Nebelkind ist Kinga, Alissas Tochter, in unserer Gegenwart eine Berliner Anwältin, die nach ihrem juristischen Vortrag über Zukunftsformen von Elternschaft in Hamburg unversehens einer Zuhörerin gegenübersteht, ihr selbst so ähnlich, dass Umstehende glauben, sie müssten einander kennen. Auch wenn sich die beiden noch nie begegnet sind: Diese Doro tut sehr vertraut, vertraut mit Kingas Lebensgeschichte, der ihrer Großmutter, um genau zu sein.

Kinga war auf eine Vergangenheitsform von Elternschaft zu sprechen gekommen, darauf, dass ihre Mutter in einem Lebensborn-Heim der Nationalsozialisten zur Welt gekommen und ein paar Jahre nach der Geburt zur Adoption dorthin zurückgebracht worden war, vermutlich, weil die leibliche Mutter verstorben sei. "Aber nein, sie lebte noch", muss sich Kinga von der Unbekannten verbessern lassen.

Es stellt sich heraus: Doro hatte Kingas Mutter kennengelernt, "in Teilchen", wie sie sagt, vor Jahren in Wroclaw, einstmals Breslau, eines Sommertags im Garten der dortigen Deutschen Gesellschaft. Doro hatte ihre Mutter Walla dorthin begleitet. Kingas Mutter Alissa hatte um ein Treffen gebeten und im Gespräch der beiden alten Damen mit ihren bruchstückhaften Erinnerungen und dem, was sie davon preiszugeben bereit war, auf Granit gebissen. "Eene schwere Tiftelei in Ihrer Familie", diagnostizierte Walla kühl, bis Alissa Momente später die Geduld reißt: "Nu tu nich so tälsch, Reni. Du erkennst mich, ich spür's." Was die beiden verbindet: das gemeinsame Aufwachsen in der Wohnung des Breslauer Theaterintendanten Marolf Valerius in den frühen Vierzigerjahren, die eine als Tochter des Hauses, die andere als Tochter der Köchin des Hauses. Und mehr als das: Beide haben denselben Vater.

Alissa und Walla sind Halbschwestern, Kinga und Doro also Cousinen, deren Begegnung den Nachkriegsnebel zu lichten vermag. Dabei belässt Ulrike Draesner es in der Konstruktion ihres Romans nicht etwa dabei, den beiden bei ihrer Begegnung, beim Abgleich des jeweils Gewussten oder Geahnten und bei der Suche nach fehlenden Puzzleteilen zu begleiten. Sie gibt Frauen aus drei Generationen eine Stimme, angefangen mit Wallas Mutter, mit der Mutter und der Adoptivmutter Alissas. Mehr noch: Mit jedem Kapitel vorangestellten chorischen Gesängen, wie Gedichte gesetzt, und mit zwei Einschüben, in denen die Autorin eine Sonde den Leidenswegen der Geschichte nachspüren lässt, erinnert sie ihre Leser daran, dass sie es bei "Die Verwandelten" mit etwas kunstvoll Künstlichem zu tun haben.

Ein wichtiger Hinweis, erzählt Ulrike Draesner doch ansonsten mit einer solchen Eindringlichkeit aus den wechselnden Perspektiven, das man die Schicksale durchaus für wahr halten könnte. Sie habe "alle 'Umstände' akribisch recherchiert und alle Figuren präzise erfunden", hält die Autorin in einer Art Nachwort fest. Sie beginnt es mit der Erwähnung einer Bekanntschaft nach einer Lesung in Hamburg, die entfernt an die erste Begegnung von Kinga und Doro erinnert. Damals hatte die Schriftstellerin ihren vor neun Jahren veröffentlichten Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" vorgestellt, in dem es auch schon um kindliche Erlebnisse im Schlesien des Kriegsendes geht. Die Frau, die sich ihr damals vorstellte, erzählte ihr von "Verschränkungen polnischer und deutscher Identitäten", reiste mit ihr zusammen nach Wroclaw, schenkte ihr den Stoff, aus dem in Draesners Roman schließlich Walla wurde, 1928 als Reni im schlesischen Breslau geboren, die sich schließlich, nachdem sie mit ihrer Mutter in den letzten Kriegstagen aus der belagerten Stadt geflüchtet und nach schrecklichen Erlebnissen wieder zurückgekehrt ist, entschließt zu bleiben, sich über zwei Wochen versteckt, verpuppt und mit erfundener polnischer Identität ans Tageslicht einer Stadt zurückkehrt, aus der die Deutschen vertrieben worden sind. Jahrzehnte später überführt sie die Digitalisierung der Meldedaten.

Im Titel spielt der Roman auf Ovids "Metamorphosen" an. Wie viele der antiken Erzählungen eine Vergewaltigung zum Thema haben, wird Doro im Buch erst lange nach der ersten Lektüre als junges Mädchen klar. Einem Opfer, Philomela, schneidet ihr Vergewaltiger die Zunge heraus, damit sie ihn nicht verraten kann. "Die Verwandelten" ist ein Roman gegen die Sprachlosigkeit, mit der ein Krieg seine Opfer oft genug schlägt. Ob aus dem unmittelbaren Erleben in den Kriegstagen heraus oder auf dem Sterbebett: Bis in den Atem hinein, ins Stocken, ins Hervorpressen der Erinnerung zeigt Ulrike Draesner, was zu bezeugen, was zu erzählen ist, wenn nur erzählt werden kann. FRIDTJOF KÜCHEMANN

Ulrike Draesner: "Die

Verwandelten". Roman.

Penguin Verlag, München 2023. 608 S., geb., 26,- Euro.

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»Für mich eigentlich der große deutsch-polnische Roman seit Günter Grass' Blechtrommel.« SWR2, lesenswert Quartett, Denis Scheck