Ulrike Draesner gibt den Verwandelten ihre Stimmen zurück. Sie erfinden sich neu, wechseln Sprache und Land, überraschen sich selbst mit ihrem Mut, ihrem Humor, ihrer Kraft. Die Bedeutung von Familie verändert sich, Freiräume entstehen. Ein erschütternder Roman, bewegend, aufwühlend, zärtlich, klug.
Schaut: die Liebe der Töchter zu ihren Müttern, der Mütter zu ihren Töchtern. Schaut, wie sie blitzt durch ein dunkles Tuch.
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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Das "große Schlimme" und die Frauen: Ulrike Draesner lässt in "Die Verwandelten"
Kriegsversehrte aus drei Generationen sprechen.
Eine Frau aus Breslau zieht durch die letzten Tage des Zweiten Weltkriegs und durch die ersten der Nachkriegszeit, im April hat sie sich auf den Weg gemacht, im Sommer kommt sie endlich an in Steinhöring östlich von München. Ihre Tochter ist nicht mehr da. Kein Kind ist mehr in dem ehemaligen Lebensborn-Heim der Nationalsozialisten. Adele ist zu spät gekommen.
Ein Mädchen steht am Zaun, steht auf der Straße, will gehen: Flüchtende ziehen durch Solln bei München in der Nachkriegszeit, und Alissa weiß bestimmt, dass ihre Mutter unter ihnen ist, dass sie nach ihr sucht. Ihre richtige Mutter. Die Eltern binden sie an, erst an einen Baum, dann im Haus an einen Stuhl. Bis sie eines Tages mit ihm umkippt, auf den Kopf fällt, ohne sich auffangen zu können. Bis die Mutter, die so gern eine richtige Mutter wäre, dem Vorschlag des Kindes nachgibt: Sie fahren gemeinsam nach Steinhöring und fragen dort nach Adele Herschel. Wenn in Haus Hochland niemand ihren Namen gehört hat, gibt sich Alissa geschlagen. Im Oktober 1945 machen sie sich auf den Weg. Aus dem ehemaligen Lebensborn-Heim ist ein Kinderkrankenhaus der Salesianerinnen geworden. Sie fahren umsonst.
Was macht der Krieg mit Familien, was mit Frauen, was macht er mit Frauen schon in seiner Vorbereitung, was wird aus ihnen, was aus ihren Kindern danach? In ihrem Roman "Die Verwandelten" erzählt Ulrike Draesner von Frauen aus drei Generationen, aus ihren Leben, die miteinander verbunden, verschränkt, verknotet sind, die verdreht sind, verkehrt, versehrt vom "großen Schlimmen", auch wenn sie erst lange nach dem Krieg geboren worden sind, selbst wenn sie die längste Zeit ihres Lebens keine Ahnung hatten, welche Rolle der Krieg in ihrer Familien-, also ihrer eigenen Geschichte gespielt hat. Oder nicht viel mehr als eine nebulöse Vermutung.
"Nebelkinder" werden die in den Sechzigerjahren Geborenen genannt, deren kriegsgezeichnete Eltern, wie Ulrike Draesner schreibt, allenfalls "andeuteten und verstummten, mit Floskeln abspeisten, sich selbst nicht anders verstanden denn als Schemen, Eltern, die den Nebel erzeugten, an dem sie zugleich litten, was sie nie zugegeben hätten, denn sie taten es, um sich zu schützen". Ein solches Nebelkind ist Kinga, Alissas Tochter, in unserer Gegenwart eine Berliner Anwältin, die nach ihrem juristischen Vortrag über Zukunftsformen von Elternschaft in Hamburg unversehens einer Zuhörerin gegenübersteht, ihr selbst so ähnlich, dass Umstehende glauben, sie müssten einander kennen. Auch wenn sich die beiden noch nie begegnet sind: Diese Doro tut sehr vertraut, vertraut mit Kingas Lebensgeschichte, der ihrer Großmutter, um genau zu sein.
Kinga war auf eine Vergangenheitsform von Elternschaft zu sprechen gekommen, darauf, dass ihre Mutter in einem Lebensborn-Heim der Nationalsozialisten zur Welt gekommen und ein paar Jahre nach der Geburt zur Adoption dorthin zurückgebracht worden war, vermutlich, weil die leibliche Mutter verstorben sei. "Aber nein, sie lebte noch", muss sich Kinga von der Unbekannten verbessern lassen.
Es stellt sich heraus: Doro hatte Kingas Mutter kennengelernt, "in Teilchen", wie sie sagt, vor Jahren in Wroclaw, einstmals Breslau, eines Sommertags im Garten der dortigen Deutschen Gesellschaft. Doro hatte ihre Mutter Walla dorthin begleitet. Kingas Mutter Alissa hatte um ein Treffen gebeten und im Gespräch der beiden alten Damen mit ihren bruchstückhaften Erinnerungen und dem, was sie davon preiszugeben bereit war, auf Granit gebissen. "Eene schwere Tiftelei in Ihrer Familie", diagnostizierte Walla kühl, bis Alissa Momente später die Geduld reißt: "Nu tu nich so tälsch, Reni. Du erkennst mich, ich spür's." Was die beiden verbindet: das gemeinsame Aufwachsen in der Wohnung des Breslauer Theaterintendanten Marolf Valerius in den frühen Vierzigerjahren, die eine als Tochter des Hauses, die andere als Tochter der Köchin des Hauses. Und mehr als das: Beide haben denselben Vater.
Alissa und Walla sind Halbschwestern, Kinga und Doro also Cousinen, deren Begegnung den Nachkriegsnebel zu lichten vermag. Dabei belässt Ulrike Draesner es in der Konstruktion ihres Romans nicht etwa dabei, den beiden bei ihrer Begegnung, beim Abgleich des jeweils Gewussten oder Geahnten und bei der Suche nach fehlenden Puzzleteilen zu begleiten. Sie gibt Frauen aus drei Generationen eine Stimme, angefangen mit Wallas Mutter, mit der Mutter und der Adoptivmutter Alissas. Mehr noch: Mit jedem Kapitel vorangestellten chorischen Gesängen, wie Gedichte gesetzt, und mit zwei Einschüben, in denen die Autorin eine Sonde den Leidenswegen der Geschichte nachspüren lässt, erinnert sie ihre Leser daran, dass sie es bei "Die Verwandelten" mit etwas kunstvoll Künstlichem zu tun haben.
Ein wichtiger Hinweis, erzählt Ulrike Draesner doch ansonsten mit einer solchen Eindringlichkeit aus den wechselnden Perspektiven, das man die Schicksale durchaus für wahr halten könnte. Sie habe "alle 'Umstände' akribisch recherchiert und alle Figuren präzise erfunden", hält die Autorin in einer Art Nachwort fest. Sie beginnt es mit der Erwähnung einer Bekanntschaft nach einer Lesung in Hamburg, die entfernt an die erste Begegnung von Kinga und Doro erinnert. Damals hatte die Schriftstellerin ihren vor neun Jahren veröffentlichten Roman "Sieben Sprünge vom Rand der Welt" vorgestellt, in dem es auch schon um kindliche Erlebnisse im Schlesien des Kriegsendes geht. Die Frau, die sich ihr damals vorstellte, erzählte ihr von "Verschränkungen polnischer und deutscher Identitäten", reiste mit ihr zusammen nach Wroclaw, schenkte ihr den Stoff, aus dem in Draesners Roman schließlich Walla wurde, 1928 als Reni im schlesischen Breslau geboren, die sich schließlich, nachdem sie mit ihrer Mutter in den letzten Kriegstagen aus der belagerten Stadt geflüchtet und nach schrecklichen Erlebnissen wieder zurückgekehrt ist, entschließt zu bleiben, sich über zwei Wochen versteckt, verpuppt und mit erfundener polnischer Identität ans Tageslicht einer Stadt zurückkehrt, aus der die Deutschen vertrieben worden sind. Jahrzehnte später überführt sie die Digitalisierung der Meldedaten.
Im Titel spielt der Roman auf Ovids "Metamorphosen" an. Wie viele der antiken Erzählungen eine Vergewaltigung zum Thema haben, wird Doro im Buch erst lange nach der ersten Lektüre als junges Mädchen klar. Einem Opfer, Philomela, schneidet ihr Vergewaltiger die Zunge heraus, damit sie ihn nicht verraten kann. "Die Verwandelten" ist ein Roman gegen die Sprachlosigkeit, mit der ein Krieg seine Opfer oft genug schlägt. Ob aus dem unmittelbaren Erleben in den Kriegstagen heraus oder auf dem Sterbebett: Bis in den Atem hinein, ins Stocken, ins Hervorpressen der Erinnerung zeigt Ulrike Draesner, was zu bezeugen, was zu erzählen ist, wenn nur erzählt werden kann. FRIDTJOF KÜCHEMANN
Ulrike Draesner: "Die
Verwandelten". Roman.
Penguin Verlag, München 2023. 608 S., geb., 26,- Euro.
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