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© BÜCHERmagazin, Carsten Tergast (ct)
Funde im Gerätekeller: Martin Meyer und Bruno Preisendörfer blicken zurück auf das verblassende zwanzigste Jahrhundert.
Nostalgie selbst scheint zeitenthoben zu sein, weil Menschen zu allen Zeiten der eigenen Jugend nachtrauern. Es fällt trotzdem schwer, sich vorzustellen, dass sich Digital Na(t)ives einmal genauso gerührt an Telegram oder Snapchat erinnern werden wie die heute Sechzigjährigen an Tastentelefone und das erste Durchblättern des "Playboy". Immerhin, so ließe sich ins Feld führen, wurden Letztere Zeugen eines Kulturbruchs, der die Welt in ein Davor und ein Danach teilt: die elektronische Verschaltung, die den Zwischenraum zwischen den Ereignissen abgeschafft hat. Wie selig erscheinen manch einem da prädigitale Rituale der Verzögerung. Freilich dachten frühere Generationen schon ähnlich, etwa über den Kutschenkulturschock Eisenbahn.
Zwei persönliche Rückblicke auf das allmählich verblassende zwanzigste Jahrhundert sind in dieser Saison erschienen, mal heiter, mal polemisch, mal von "Verwandlung" sprechend, mal von "Verschwinden". Beide Bücher stammen von Publizisten reiferen Alters, und beide zielen auf Altersgenossen, die es ebenfalls nicht fassen können, dass mehr als ein halbes Jahrhundert vergangen sein soll, seit die Märklin-Lok "Krokodil" unter dem Christbaum lag. Für eine simple Verklärung des Vergangenen sind die Autoren zu klug, amüsieren sich etwa über historisch-ästhetische Irrwege wie den Spannteppich oder die Fototapete. Blind den Fortschritt feiern möchten sie aber noch viel weniger.
Vor allem bei Martin Meyer, dem ehemaligen Feuilletonleiter der "Neuen Zürcher Zeitung", ist die Gegenwartskritik allgegenwärtig: "Im Augenblick des Geschehenden muss über dieses bereits berichtet werden. Selbst die Sekunde eines schweigenden Nichts wird abgetrieben. Alles ist immer Jetzt. Damit verändert sich geschichtlich aufgeladene Erfahrung." Der Abschaffung der technisch-medial bedingten Reaktionszeit korrespondiere also ein Reflexions-Manko, das der Autor als Signatur unserer Epoche begreift. Das mag nicht falsch sein. Meyer aber geht noch weiter und attestiert der Neomoderne eine Art strukturelle Egozentrik, weil in einer "Welt ohne Götter und Himmel" das Selbstvergessen "zugunsten eines Größeren" abhandengekommen sei. Das ist die alte, knarzende Klage über den Nihilismus: "Wir stürzen immer tiefer ins Nichts."
Man muss diese Ansicht glücklicherweise nicht teilen, um diese phänomenologisch inspirierten und mit eigenen Erfahrungen beglaubigten Reflexionen zu goutieren: der Lego-Kult als Nachspielen des Wiederaufbaus; die einstige Aufgeräumtheit des deutschen Waldes, bevor nach dem Sturm "Lothar" die neue Unterholz-Doktrin griff; die Kapitulation in Sachen "Schönschrift" als Vergehen an Friedrich Schillers Freiheit-folgt-Kunst-Idealismus; der Einbruch der "James Bond"-Coolness ins "Seldwyla" der schweizerischen Provinz, "Barbies" Triumph über die an naive Bauernmalerei erinnernden Käthe-Kruse-Puppen oder die verschwitzte Erotik der Hula-Hoop-Manie als nachgeholte Pubertät und Vorschein einer sexuellen Befreiung ohne Grenzen. Solche Miniaturen sind so kurzweilig wie erhellend.
Anderes ist vorhersehbarer, etwa die Polemik über Tattoos als "Selbstbeschädigungen". Meyer hält es mit dem Einritzen von Liebesschwüren in Baumstämme, wo sie in Würde altern dürfen.
Der Kulturwissenschaftler Bruno Preisendörfer, der mit seinen gelehrten "Reisen" in die Goethe- oder Lutherzeit einem großen Publikum bekannt geworden ist, geht die Sache eher ironisch an, indem er etwa Linien auszieht, die im animierten "Kot-Emoji" des neuen iPhone X enden. Auch eine Lesart der Geschichte zur Bildung der Menschheit. Im Habitus unterscheiden sich die beiden Bücher aber noch weitergehend, denn Preisendörfer widmet sich seinem Gegenstand nicht nur mit amüsiertem Kopfschütteln, sondern auch mit einer Akkuratesse, die dem auf essayistische Pirouetten abonnierten Meyer fremd ist.
Bei Preisendörfers "Zeitreise", die in sechs Kapiteln die Instrumente des Schreibens, Hörens, Sehens und Fernsprechens thematisiert, handelt es sich um eine mit Anekdoten gespickte Mediengeschichte des vergangenen Jahrhunderts. Es stellt sich hier allerdings die Frage nach dem Publikum: Wer dabei gewesen ist, braucht wohl kaum derart kleinteilige Erklärungen zu Geräten wie Schreibmaschine oder VHS-Rekorder. Auch ein weiterer Schnelldurchlauf zur Internet-Entwicklung fehlte gewiss niemandem. Und ob Jüngere sich durch Nachrufe noch einmal an überstiegene Stufen der kommunikationstechnischen Alltagskultur heranführen lassen, kann zumindest bezweifelt werden: "Auf den letzten Seiten des Ratgebers von 1975 bewirbt das Versandhaus Neckermann, das es seit 2012 nicht mehr gibt, in einer Anzeige die Taschenrechner der Firma Commodore, die es seit 1994 nicht mehr gibt." Nihil aeternum est, viel mehr gibt es dabei nicht zu lernen.
Die gesellschaftlichen Auswirkungen der rasanten Technikentwicklung, beispielsweise das Gefühl eines Kontrollverlusts durch das Entschwinden alles Haptischen im Zeitalter des Streamings, interessieren Preisendörfer wenig. Er hat dafür einige Trivialitäten parat: "der Flow der Zukunft kommt aus dem Netz". Wenn man aber gar nichts lernen will, sondern wie im "Manufactum"-Geschäft (nicht "Shop") ein wenig in Vintage-Erinnerungen schwelgen, an Schiefertafeln, Tintenkiller oder Floppy-Discs, dann ist man mit dieser positivistischen Dinggeschichte gut bedient. Manche vergessene Kuriosität ist dabei zu entdecken, so die "Illusionsnachhilfe" Wasserlinse, mit der man in der DDR das Fernsehbild vergrößerte und zugleich verwässerte. Sogar Tipps gibt das Buch, etwa den, sich der Tortur des Erlernens des Zehn-Finger-Tippens zu unterziehen: "Übrigens lässt sich das als alter Mensch nachholen: am Schirm."
Dass Preisendörfers persönliche Einsprengsel nicht immer rasend interessant scheinen - Erinnerungen an Taxifahrten, das Vergessen des ersten Kusses, die Bestückung des Schreibtischs -, macht der Autor durch seine propere Gutgelauntheit wett. So sieht er etwa im "Belfie"-Trend - Selfies des eigenen Hinterns - nicht gleich eine Metapher auf den großen Verfall, wie sie der über Plastikspielzeug ("horrend"), zeitgenössische Kunst ("alles seit vielen Jahrzehnten ähnlich"), Tramfahrten ("heute kein Vergnügen mehr") oder akademische Verirrungen ("man verrennt sich in die Gender-Themen") murrende Meyer in seinem philosophisch gleichwohl reichhaltigeren Werk überall entdeckt.
Preisendörfer bleibt locker, sieht die Gegenwart als "eine Art Jetlag zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, wie sie einmal gewesen sein wird". Da lässt sich über Setzfibeln und Heintje-Kassetten ebenso schmunzeln wie über Handysocken. Die Zeit mag fliegen, aber der Mensch lahmt immer hinterher. Das ist doch ein Trost.
OLIVER JUNGEN
Bruno Preisendörfer: "Die Verwandlung der Dinge". Eine Zeitreise von 1950 bis morgen.
Galiani Berlin Verlag, Berlin 2018. 272 S., geb., 20,- [Euro].
Martin Meyer:
"Gerade gestern". Vom
allmählichen Verschwinden des Gewohnten.
Carl Hanser Verlag,
München 2018.
320 S., geb., 23,- [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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