Die berühmteste Erzählung Franz Kafkas berichtet von Gregor Samsa, der eines Morgens nicht mehr als Mensch, sondern als hässliches »Ungeziefer« erwacht. Kafkas »Verwandlung« ist die groteske Parabel einer stillen Revolte gegen die Unmenschlichkeit. In Tiergestalt hält Gregor Samsa der Welt den Spiegel vor. Ein schweigender Protestschrei, der am Ende ohnmächtig bleibt, aber bis heute eines der aufregendsten Werke der Weltliteratur.
- Franz Kafkas berühmteste Erzählung
- Gebundene Ausgabe
- Der käfergewordene Gregor Samsa ist Inbegriff der geheimnisvollen, fantastischen Welt Franz Kafkas
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 07.02.2004Wider den roten Vormund
Kafka und seine Freunde: Aus Anlaß einiger Neueditionen
Aus seiner Jugend wissen wir zwei Dinge: eine unglückliche Liebe und das Vergnügen an Reiseromanen": Mit leichter Hand und treffsicher benennt der argentinische Übersetzer von Kafkas "Verwandlung" im Jahr 1938 die beiden Momente, als würden sie sich komplementär zueinander verhalten. Merkwürdigerweise ist trotz des frühen Fingerzeigs aus weiter Ferne die Forschung diesem Hinweis Borges' auf die "Reiseromane" kaum nachgegangen. Es blieb einem kanadischen Grenzgänger vorbehalten, diese Lektüren zurückzuverfolgen und dabei verblüffende und weitreichende Entdeckungen zu machen.
John Zilkosky hat in seiner bislang nur in Englisch erschienenen Untersuchung "Kafka's Travels" dem (Lese-)Reisenden Franz Kafka eine ganz eigene Statur verliehen. Es sind nicht nur die tatsächlichen Reisen, die Kafka seit seiner Jugend in alle Himmelsrichtungen unternommen hat und die sein Schreiben nachhaltig befördert haben. Zusammen mit dem Freund Brod wollte er in einem spleenigen Moment ihrer Grand Tour von 1911 zum "roten Vormund" des Baedeker mit einem eigenen Reiseführer - "Billig" sollte er heißen und sein - in Konkurrenz treten. Und für kurze Zeit laborierten die beiden Freunde eifrig an einem gemeinsamen Manuskript.
Entscheidender aber - und dies materiell zu erhärten, ist Zilkoskys großes Verdienst - sind die Lesefrüchte, die Kafka auf dem weiten Feld der realen und imaginären Reiseliteratur gesammelt hat. Ins Zentrum von Zilkoskys Untersuchungen rücken dabei die in den zehner und zwanziger Jahren außerordentlich populären "Schaffstein's Grüne Bändchen", Trivialliteratur der schönsten exotischen Art. Und unter diesen nimmt "Der Zuckerbaron" aus der Feder des einstmals ebenso populären wie heute vergessenen Schriftstellers Oskar Weber für Kafka eine eminent wichtige Stellung ein. Felice Bauer gesteht er 1916: "Ein Buch, das mir so nahegeht, als handelte es von mir oder als wäre es die Vorschrift meines Lebens, der ich entweiche oder entwichen bin."
Die dort geschilderten und illustrierten "Schicksale eines ehemaligen deutschen Offiziers in Südamerika" liefern bestimmte Motive und den Paratext für die alle Maßstäbe sprengende "Strafkolonie". Minutiös verfolgt Zilkosky Kafkas radikale Verrückung der ursprünglichen kolonialistischen Perspektiven und gibt uns so einen tieferen Einblick in die sehr avancierte Montagetechnik des Pragers. Da wir leider immer noch auf einen panoramatischen Überblick über Kafkas Lektüren warten müssen, sollte sich bald ein deutscher Verleger für dieses abenteuerlich gute und analytische Buch aus Kanada finden.
Im Verlag Stroemfeld/Roter Stern sind die Quarthefte 1 und 2 (inklusive einer CD-ROM) und die Erzählung "Die Verwandlung" ediert worden. Es ist fast müßig, die Vor- und Nachteile dieser Edition gegenüber der abgeschlossenen Kritischen Ausgabe des S. Fischer Verlags noch einmal Revue passieren zu lassen. Unbestritten und groß ist das Verdienst der Herausgeber Roland Reuß und Peter Staengle, gerade jene Texte Kafkas als Faksimile zugänglich gemacht und in einem unmittelbaren Sinn "handschriftengenau" kommentiert zu haben, die zu Lebzeiten nicht oder in starker Abweichung von den Manuskripten veröffentlicht wurden. Wenn es eines augenfälligen Belegs für diese Art der Faksimileedition bedürfte, so genügte es, die wegweisende Arbeit von Annette Schütterle "Franz Kafkas Oktavhefte" (F.A.Z. vom 1. September 2003) zu erwähnen. Die Stufen des sich vor unseren Augen enthüllenden Schreibprozesses werden dort mit unnachgiebiger Sorgfalt dargestellt und analysiert.
Die jetzt zum ersten Mal vollständig faksimiliert vorliegenden Quarthefte 1 und 2, deren Original in der Bodleian Library zu Oxford verwahrt wird, stellen den Leser vor ein Dilemma. Es ist ein immer wieder erregendes Schauspiel, Kafkas Handschrift zu betrachten, den nervös-beschwingten Duktus seines zwischen Kalligraphie und Kritzelei schwankenden Schreibens unverstellt mitverfolgen zu können. Es gibt wenige Handschriften des zwanzigsten Jahrhunderts, die jenseits aller graphologischen Spekulationen so sprechend und ergreifend sind wie diejenige des Prager Konzipisten. Der durchaus vieldeutige Ausruf - oder die als Konjunktiv getarnte Strategie Kafkas - in einem Brief an Max Brod "Wenn es wahr wäre, daß man Mädchen mit der Schrift binden kann!" erlangt angesichts der in den Quartheften ausgebreiteten Schriftzüge unmittelbare Evidenz, unabhängig von dem ganz anders gerichteten Vektor dieses Satzes.
Es war ein schwerer verlegerischer Fehler von S. Fischer, für die Kritische Kafka-Ausgabe nicht zumindest jene Manuskripte zu faksimilieren, deren Wiedergabe im Druck zu aberwitzigen Beschreibungskünsten zwingt. Doch was Stroemfeld/Roter Stern anbietet, ist, leider, eine "matte Sache". Wer einmal die Möglichkeit hatte, die Manuskripte Kafkas im Original zu betrachten, kann sich über die hier reproduzierten Faksimiles nur wundern. Dieser Einwand ist nur bedingt als ein technischer zu verstehen, schließlich tauchen in diesen Manuskripten immer wieder minimale, aber signifikante Korrekturen auf, die mit wechselnden Tinten oder von diesen zu Blei- und Kopierstift wechselnd vorgenommen wurden. Nicht nur Kafkas verschiedene Schreibmaterialien würden bei guten Farbscans sichtbar, sondern auch die verschiedenen farbigen Markierungen Brods, die er im Laufe seiner Editionsarbeit vorgenommen hat. Dies alles zu studieren wäre für den Leser, dem ja die Originale mittlerweile entzogen sind wie die Top-secret-Papiere der CIA - "For Eyes Only" steht auf den unberührbaren Dokumenten -, ein wirklicher Gewinn. Es ist zu bedauern, daß der radikal gedachte Ansatz nicht mit der entsprechenden technischen Radikalität umgesetzt wurde.
Dieser Einwand will kein bloß technischer sein, schließlich haben die Herausgeber nichts Geringeres im Sinn als eine signifikante Revision der Kritischen Ausgabe, indem sie mit guten Gründen auf dem Schreibprozeß, auf der tendenziell unabgeschlossenen und unabschließbaren Schrift Kafkas insistieren. Doch gerade weil diese graphematische Lektüre Kafkas einen Text rehabilitieren oder zumindest sichtbar machen will, der in diesen Lesarten nicht erfaßt und nicht begriffen wurde, darf das Schriftbild nicht so stiefmütterlich behandelt werden, wie dies hier geschehen ist.
Einer Max Brod folgenden Tradition werden diese Texte, einschließlich der darin verstreut enthaltenen Prosaentwürfe, als "Tagebücher" geführt. Die Herausgeber der Stroemfeld-Ausgabe scheinen dieses Genre respektive diese Bezeichnung mit aller Macht zu scheuen, statt dessen ist von Notizen und Aufzeichnungen die Rede, was angesichts von Kafkas expliziter Orientierung am Journal sehr verwunderlich ist: "Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es."
Unangenehm berührt der mitunter heftige Affekt der Herausgeber gegen die Editoren der S. Fischer-Ausgabe vor allem dann, wenn man die Kommentare und Anmerkungen ihrer Ausgabe mit denen der anderen vergleicht. Es war nicht wenig, was Pasley, Müller und Koch, Schillemeit und Neumann und natürlich auch Wagenbach, Binder und Northey, um nur einige der wichtigsten zu nennen, in langen Jahren der Forschung zur Erhellung der häufig sehr verschlüsselten und gelegentlich von Brod noch zusätzlich kodierten Eintragungen zutage gefördert haben. Die Summe all dieser philologischen und kulturarchäologischen Recherchen findet sich in der erweiterten Taschenbuchausgabe der Tagebücher (1994) von Koch versammelt. Vergleicht man einmal den Erläuterungsteil der Stroemfeld-Ausgabe von 2001 mit dem der Taschenbuchausgabe von S. Fischer, so kann man nicht umhin, von einer massiven Entlehnung und stillschweigenden Übernahme großer Teile zu sprechen. Daß in der Danksagung aber namentlich nur die durchaus verdienstvollen Binder und Northey aufgeführt werden, läßt das Verschweigen der übrigen Forscher unbegreiflich, ja dreist erscheinen.
Der Edition der Erzählung "Die Verwandlung" beigefügt ist ein sogenannter "Faksimilenachdruck der ersten Buchausgabe". Die Irrtümer, die hierbei unterlaufen sind, lassen es geboten erscheinen, von einer Mogelpackung zu sprechen. Die bekanntere, graphisch sehr expressive Erstausgabe der "Verwandlung" war ein unbeschnittener Band englischer Broschur, eingehängt, mit einer Zeichnung von Ottomar Starke auf einem gelb-bräunlichen Einband. Als Nachdruck liegt ein beschnittenes und mit dem falschen Einband versehenes Exemplar vor. Es fehlt der kleine, sprechende Zensurstempel auf dem Innentitel (mit dem Umrißbild des Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig) rechts, außerhalb des Gevierts, in Höhe der Verlagslegende, und die Graphik von Starke ist am Ende des Bandes verkleinert reproduziert. Wer, wie die beiden Herausgeber, so strenge Maßstäbe an die Editionsarbeit anlegt und mit Vorwürfen gegen andere Editoren nicht spart, will mit gleicher Elle gemessen werden. Die Vorlage, die für diesen Reprint herangezogen wurde, war offenbar eine falsche. Diese Einschränkungen sollen aber nicht über Gebühr strapaziert werden: Es ist erfreulich, die Erzählung in ihrer (fast) ursprünglichen Gestalt wieder in Händen zu halten und lesend zwischen Handschrift und Druck hin- und herwandern zu können.
Hinzuweisen ist auf den gehaltvollen Band "Kafkas letzter Freund" über den Arzt Robert Klopstock. Mit großer Sorgfalt haben der Herausgeber Hugo Wetscherek und seine Mitarbeiter es verstanden, aus dem verstreuten großen Nachlaß und entlegenen Bildmaterial durch das textlich feingewirkte Lebenspanorama des großen Arztes ein wirkliches Epochenbild vor uns erstehen zu lassen. Erhellend der Beitrag von Leonhard M. Fiedler und - für Kraus- und Werfel-Leser unentbehrlich - der dichte Aufsatz von Leo A. Lensing.
"Kafkas unbestreitbarste Tugend ist die Erfindung unerträglicher Situationen. An Menschen gibt es in seinem Werk nur einen: den homo domesticus - so jüdisch und so deutsch -, der sich nach einem und sei es noch so erbärmlichen Platz in einer beliebigen Ordnung sehnt: im Universum, in einem Ministerium, in einem Irrenhaus, in einem Gefängnis", bemerkt der argentinische Übersetzer Kafkas. Im selben Jahr erlitt er einen fatalen Unfall, als er auf dem Weg zu seiner Verlobten ein dunkles Treppenhaus hinaufeilend mit dem Kopf gegen ein offenes Innenfenster prallte. Jahre darauf erblindete er an den Folgen dieses Malheurs.
John Zilkosky: "Kafka's Travel". Exoticism, Colonialism and the Traffic of Writing. Palgrave Macmillan, New York 2003. 289 S., geb., 65,- $.
"Kafkas letzter Freund". Der Nachlaß Robert Klopstock (1899-1972). Mit komment. Erstveröffentlichung von 38 teils ungedruckten Briefen Franz Kafkas. Bearb. von Christopher Frey und Martin Peche. Hrsg. von Hugo Wetscherek. Inlibris, Wien 2003. 312 S., 110 Abb., geb., 65,- [Euro].
Franz Kafka: "Oxforder Quartheft 17: Die Verwandlung". Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main/Basel 2003. Faksimile des Quarthefts: 172 S., im Schuber mit Franz Kafka-Heft 4: 93 S., und Reprint der Erstausgabe: 80 S., geb., zus., 128,- [Euro].
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Kafka und seine Freunde: Aus Anlaß einiger Neueditionen
Aus seiner Jugend wissen wir zwei Dinge: eine unglückliche Liebe und das Vergnügen an Reiseromanen": Mit leichter Hand und treffsicher benennt der argentinische Übersetzer von Kafkas "Verwandlung" im Jahr 1938 die beiden Momente, als würden sie sich komplementär zueinander verhalten. Merkwürdigerweise ist trotz des frühen Fingerzeigs aus weiter Ferne die Forschung diesem Hinweis Borges' auf die "Reiseromane" kaum nachgegangen. Es blieb einem kanadischen Grenzgänger vorbehalten, diese Lektüren zurückzuverfolgen und dabei verblüffende und weitreichende Entdeckungen zu machen.
John Zilkosky hat in seiner bislang nur in Englisch erschienenen Untersuchung "Kafka's Travels" dem (Lese-)Reisenden Franz Kafka eine ganz eigene Statur verliehen. Es sind nicht nur die tatsächlichen Reisen, die Kafka seit seiner Jugend in alle Himmelsrichtungen unternommen hat und die sein Schreiben nachhaltig befördert haben. Zusammen mit dem Freund Brod wollte er in einem spleenigen Moment ihrer Grand Tour von 1911 zum "roten Vormund" des Baedeker mit einem eigenen Reiseführer - "Billig" sollte er heißen und sein - in Konkurrenz treten. Und für kurze Zeit laborierten die beiden Freunde eifrig an einem gemeinsamen Manuskript.
Entscheidender aber - und dies materiell zu erhärten, ist Zilkoskys großes Verdienst - sind die Lesefrüchte, die Kafka auf dem weiten Feld der realen und imaginären Reiseliteratur gesammelt hat. Ins Zentrum von Zilkoskys Untersuchungen rücken dabei die in den zehner und zwanziger Jahren außerordentlich populären "Schaffstein's Grüne Bändchen", Trivialliteratur der schönsten exotischen Art. Und unter diesen nimmt "Der Zuckerbaron" aus der Feder des einstmals ebenso populären wie heute vergessenen Schriftstellers Oskar Weber für Kafka eine eminent wichtige Stellung ein. Felice Bauer gesteht er 1916: "Ein Buch, das mir so nahegeht, als handelte es von mir oder als wäre es die Vorschrift meines Lebens, der ich entweiche oder entwichen bin."
Die dort geschilderten und illustrierten "Schicksale eines ehemaligen deutschen Offiziers in Südamerika" liefern bestimmte Motive und den Paratext für die alle Maßstäbe sprengende "Strafkolonie". Minutiös verfolgt Zilkosky Kafkas radikale Verrückung der ursprünglichen kolonialistischen Perspektiven und gibt uns so einen tieferen Einblick in die sehr avancierte Montagetechnik des Pragers. Da wir leider immer noch auf einen panoramatischen Überblick über Kafkas Lektüren warten müssen, sollte sich bald ein deutscher Verleger für dieses abenteuerlich gute und analytische Buch aus Kanada finden.
Im Verlag Stroemfeld/Roter Stern sind die Quarthefte 1 und 2 (inklusive einer CD-ROM) und die Erzählung "Die Verwandlung" ediert worden. Es ist fast müßig, die Vor- und Nachteile dieser Edition gegenüber der abgeschlossenen Kritischen Ausgabe des S. Fischer Verlags noch einmal Revue passieren zu lassen. Unbestritten und groß ist das Verdienst der Herausgeber Roland Reuß und Peter Staengle, gerade jene Texte Kafkas als Faksimile zugänglich gemacht und in einem unmittelbaren Sinn "handschriftengenau" kommentiert zu haben, die zu Lebzeiten nicht oder in starker Abweichung von den Manuskripten veröffentlicht wurden. Wenn es eines augenfälligen Belegs für diese Art der Faksimileedition bedürfte, so genügte es, die wegweisende Arbeit von Annette Schütterle "Franz Kafkas Oktavhefte" (F.A.Z. vom 1. September 2003) zu erwähnen. Die Stufen des sich vor unseren Augen enthüllenden Schreibprozesses werden dort mit unnachgiebiger Sorgfalt dargestellt und analysiert.
Die jetzt zum ersten Mal vollständig faksimiliert vorliegenden Quarthefte 1 und 2, deren Original in der Bodleian Library zu Oxford verwahrt wird, stellen den Leser vor ein Dilemma. Es ist ein immer wieder erregendes Schauspiel, Kafkas Handschrift zu betrachten, den nervös-beschwingten Duktus seines zwischen Kalligraphie und Kritzelei schwankenden Schreibens unverstellt mitverfolgen zu können. Es gibt wenige Handschriften des zwanzigsten Jahrhunderts, die jenseits aller graphologischen Spekulationen so sprechend und ergreifend sind wie diejenige des Prager Konzipisten. Der durchaus vieldeutige Ausruf - oder die als Konjunktiv getarnte Strategie Kafkas - in einem Brief an Max Brod "Wenn es wahr wäre, daß man Mädchen mit der Schrift binden kann!" erlangt angesichts der in den Quartheften ausgebreiteten Schriftzüge unmittelbare Evidenz, unabhängig von dem ganz anders gerichteten Vektor dieses Satzes.
Es war ein schwerer verlegerischer Fehler von S. Fischer, für die Kritische Kafka-Ausgabe nicht zumindest jene Manuskripte zu faksimilieren, deren Wiedergabe im Druck zu aberwitzigen Beschreibungskünsten zwingt. Doch was Stroemfeld/Roter Stern anbietet, ist, leider, eine "matte Sache". Wer einmal die Möglichkeit hatte, die Manuskripte Kafkas im Original zu betrachten, kann sich über die hier reproduzierten Faksimiles nur wundern. Dieser Einwand ist nur bedingt als ein technischer zu verstehen, schließlich tauchen in diesen Manuskripten immer wieder minimale, aber signifikante Korrekturen auf, die mit wechselnden Tinten oder von diesen zu Blei- und Kopierstift wechselnd vorgenommen wurden. Nicht nur Kafkas verschiedene Schreibmaterialien würden bei guten Farbscans sichtbar, sondern auch die verschiedenen farbigen Markierungen Brods, die er im Laufe seiner Editionsarbeit vorgenommen hat. Dies alles zu studieren wäre für den Leser, dem ja die Originale mittlerweile entzogen sind wie die Top-secret-Papiere der CIA - "For Eyes Only" steht auf den unberührbaren Dokumenten -, ein wirklicher Gewinn. Es ist zu bedauern, daß der radikal gedachte Ansatz nicht mit der entsprechenden technischen Radikalität umgesetzt wurde.
Dieser Einwand will kein bloß technischer sein, schließlich haben die Herausgeber nichts Geringeres im Sinn als eine signifikante Revision der Kritischen Ausgabe, indem sie mit guten Gründen auf dem Schreibprozeß, auf der tendenziell unabgeschlossenen und unabschließbaren Schrift Kafkas insistieren. Doch gerade weil diese graphematische Lektüre Kafkas einen Text rehabilitieren oder zumindest sichtbar machen will, der in diesen Lesarten nicht erfaßt und nicht begriffen wurde, darf das Schriftbild nicht so stiefmütterlich behandelt werden, wie dies hier geschehen ist.
Einer Max Brod folgenden Tradition werden diese Texte, einschließlich der darin verstreut enthaltenen Prosaentwürfe, als "Tagebücher" geführt. Die Herausgeber der Stroemfeld-Ausgabe scheinen dieses Genre respektive diese Bezeichnung mit aller Macht zu scheuen, statt dessen ist von Notizen und Aufzeichnungen die Rede, was angesichts von Kafkas expliziter Orientierung am Journal sehr verwunderlich ist: "Ich werde das Tagebuch nicht mehr verlassen. Hier muß ich mich festhalten, denn nur hier kann ich es."
Unangenehm berührt der mitunter heftige Affekt der Herausgeber gegen die Editoren der S. Fischer-Ausgabe vor allem dann, wenn man die Kommentare und Anmerkungen ihrer Ausgabe mit denen der anderen vergleicht. Es war nicht wenig, was Pasley, Müller und Koch, Schillemeit und Neumann und natürlich auch Wagenbach, Binder und Northey, um nur einige der wichtigsten zu nennen, in langen Jahren der Forschung zur Erhellung der häufig sehr verschlüsselten und gelegentlich von Brod noch zusätzlich kodierten Eintragungen zutage gefördert haben. Die Summe all dieser philologischen und kulturarchäologischen Recherchen findet sich in der erweiterten Taschenbuchausgabe der Tagebücher (1994) von Koch versammelt. Vergleicht man einmal den Erläuterungsteil der Stroemfeld-Ausgabe von 2001 mit dem der Taschenbuchausgabe von S. Fischer, so kann man nicht umhin, von einer massiven Entlehnung und stillschweigenden Übernahme großer Teile zu sprechen. Daß in der Danksagung aber namentlich nur die durchaus verdienstvollen Binder und Northey aufgeführt werden, läßt das Verschweigen der übrigen Forscher unbegreiflich, ja dreist erscheinen.
Der Edition der Erzählung "Die Verwandlung" beigefügt ist ein sogenannter "Faksimilenachdruck der ersten Buchausgabe". Die Irrtümer, die hierbei unterlaufen sind, lassen es geboten erscheinen, von einer Mogelpackung zu sprechen. Die bekanntere, graphisch sehr expressive Erstausgabe der "Verwandlung" war ein unbeschnittener Band englischer Broschur, eingehängt, mit einer Zeichnung von Ottomar Starke auf einem gelb-bräunlichen Einband. Als Nachdruck liegt ein beschnittenes und mit dem falschen Einband versehenes Exemplar vor. Es fehlt der kleine, sprechende Zensurstempel auf dem Innentitel (mit dem Umrißbild des Völkerschlachtdenkmals bei Leipzig) rechts, außerhalb des Gevierts, in Höhe der Verlagslegende, und die Graphik von Starke ist am Ende des Bandes verkleinert reproduziert. Wer, wie die beiden Herausgeber, so strenge Maßstäbe an die Editionsarbeit anlegt und mit Vorwürfen gegen andere Editoren nicht spart, will mit gleicher Elle gemessen werden. Die Vorlage, die für diesen Reprint herangezogen wurde, war offenbar eine falsche. Diese Einschränkungen sollen aber nicht über Gebühr strapaziert werden: Es ist erfreulich, die Erzählung in ihrer (fast) ursprünglichen Gestalt wieder in Händen zu halten und lesend zwischen Handschrift und Druck hin- und herwandern zu können.
Hinzuweisen ist auf den gehaltvollen Band "Kafkas letzter Freund" über den Arzt Robert Klopstock. Mit großer Sorgfalt haben der Herausgeber Hugo Wetscherek und seine Mitarbeiter es verstanden, aus dem verstreuten großen Nachlaß und entlegenen Bildmaterial durch das textlich feingewirkte Lebenspanorama des großen Arztes ein wirkliches Epochenbild vor uns erstehen zu lassen. Erhellend der Beitrag von Leonhard M. Fiedler und - für Kraus- und Werfel-Leser unentbehrlich - der dichte Aufsatz von Leo A. Lensing.
"Kafkas unbestreitbarste Tugend ist die Erfindung unerträglicher Situationen. An Menschen gibt es in seinem Werk nur einen: den homo domesticus - so jüdisch und so deutsch -, der sich nach einem und sei es noch so erbärmlichen Platz in einer beliebigen Ordnung sehnt: im Universum, in einem Ministerium, in einem Irrenhaus, in einem Gefängnis", bemerkt der argentinische Übersetzer Kafkas. Im selben Jahr erlitt er einen fatalen Unfall, als er auf dem Weg zu seiner Verlobten ein dunkles Treppenhaus hinaufeilend mit dem Kopf gegen ein offenes Innenfenster prallte. Jahre darauf erblindete er an den Folgen dieses Malheurs.
John Zilkosky: "Kafka's Travel". Exoticism, Colonialism and the Traffic of Writing. Palgrave Macmillan, New York 2003. 289 S., geb., 65,- $.
"Kafkas letzter Freund". Der Nachlaß Robert Klopstock (1899-1972). Mit komment. Erstveröffentlichung von 38 teils ungedruckten Briefen Franz Kafkas. Bearb. von Christopher Frey und Martin Peche. Hrsg. von Hugo Wetscherek. Inlibris, Wien 2003. 312 S., 110 Abb., geb., 65,- [Euro].
Franz Kafka: "Oxforder Quartheft 17: Die Verwandlung". Historisch-kritische Ausgabe. Herausgegeben von Roland Reuß und Peter Staengle. Verlag Stroemfeld/Roter Stern, Frankfurt am Main/Basel 2003. Faksimile des Quarthefts: 172 S., im Schuber mit Franz Kafka-Heft 4: 93 S., und Reprint der Erstausgabe: 80 S., geb., zus., 128,- [Euro].
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