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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Ein Pensum von 2000 Jahren will gestemmt sein: Jörg Lauster führt vor, dass eine faktenreiche Kulturgeschichte des Christentums auch ein intellektuelles Vergnügen sein kann.
In Jörg Lausters Kulturgeschichte des Christentums fehlt nichts. In enzyklopädischer Dichte lässt der Verfasser zwanzig Jahrhunderte an uns vorüberziehen - Jesus und die Jerusalemer Urgemeinde, die staatliche Anerkennung des Christentums unter Kaiser Konstantin im vierten Jahrhundert, das Kloster als Wiege des Abendlands, das Papsttum und die Reformation, den Aufbruch der amerikanischen Puritaner und der deutschen Pietisten in die Moderne. Der Bericht führt fast bis in die Gegenwart.
Auch Schattenseiten werden erwähnt: die Kreuzzüge, die Verfolgung von Juden und Hexen, die Inquisition. Den Kampf gegen Andersdenkende charakterisiert Lauster als "brutale Art der Evidenzsicherung" einer Religion, die sich eines Evidenzmangels bewusst ist und diesen zu verdrängen sucht. Er erörtert den lange fehlenden Widerstand gegen die Sklaverei, die Verstrickung der Mission in den Kolonialismus, die Infragestellung der Religion durch Feuerbach, Marx, Nietzsche und Freud, den Abschied vom Christentum bei Schriftstellern wie Voltaire und Gottfried Keller. Gelegentlich unterbricht der Verfasser den dichten Stil. Dann scheint in lebendiger Erzählung durch, was er selbst beim Schreiben entdeckt hat und wofür er sich begeistert. So würdigt er den italienischen Renaissancephilosophen Marsilio Ficino (1433 bis 1499) als führenden Vertreter eines Kulturplatonismus, der in seinen heilsgeschichtlichen Entwurf auch Sokrates, Platon und das von ihm ins Lateinische übersetzte Corpus Hermeticum unterbringen konnte.
Keinem Leser wird das fulminante Kapitel entgehen, in dem Lauster "die Erfindung des Romans aus dem Geist der Puritaner" schildert und dafür wirbt, John Bunyans "Pilgrim's Progress" (1678) und Daniel Defoes "Robinson Crusoe" (1719) zu lesen oder wieder zu lesen. Neben überwiegend enzyklopädisch berichtender Darstellung nimmt der Autor bisweilen auch die Rolle des Kommentators ein. Dann erfahren wir seine Wertungen und seine Einschätzung von Entwicklungen. Bis weit in das Hochmittelalter hinein sei das Christentum damit beschäftigt gewesen, ein Grundgefüge elementarer christlicher Kultur in Lehre, Liturgie und Volksfrömmigkeit aufzubauen. Eine Ausnahme bilde der Kirchenbau, der schon im frühen Mittelalter zu früher Reife kam. Erst von Dante an und dann vor allem in der Renaissance habe eine Kulturexpansion begonnen, die über die Architektur hinausführte. Neue Ausdrucksformen wie Malerei, Musik, Dichtung und Theater seien religiös in Dienst genommen worden. Die stärkste Indienstnahme der Kultur habe im Zeitalter des Barocks stattgefunden. Diese Periode markiere den Höhepunkt, vielleicht sogar eine Übertreibung. Danach begann ein stetig fortschreitender Prozess der Emanzipation von Architektur, Malerei, Musik und Literatur von der Religion.
Die moderne Verwandlung der religiösen Welt hat sich nach Lauster in mehreren Emanzipationsschüben vollzogen. Um 1800 emanzipierten sich Christen im Geiste der Romantik, des Idealismus und auch der Weltfrömmigkeit Goethes von der Kirche und ihrem Dogma. Vielen Kulturschaffenden schienen die religiösen Gehalte des Christentums in politischen Idealen, in Musik, Malerei und Literatur besser und näher an der Erfahrung zum Ausdruck gebracht zu werden als in den traditionellen Formen der Kirche.
Es kam zu Entdogmatisierung und Entkirchlichung. Einen weiteren Schritt, den der Entchristlichung, gingen erst Denker wie Schopenhauer und Musiker wie Wagner, die eine eigene, vom Christentum losgelöste Religion begründen wollten. Schließlich kam es zu einer Verweltlichung der Kultur, als man die Welt säkularistisch als "in sich ruhende Endlichkeit" (Paul Tillich) begreifen konnte. Dieser Konzeption einer Kultur, die ihre religiöse Substanz verliert, stellen sich um 1900 der katholische Modernismus und, profilierter, der Kulturprotestantismus entgegen, indem sie religiöses Interesse und wissenschaftlichen Geist, Gottvertrauen und Fortschritt miteinander versöhnen. Ihr Ideal ist eine auf Freiheit und intellektueller Redlichkeit gegründete Religion.
Eine Kulturgeschichte des Christentums müsste langweilig ausfallen, wenn sie, auf Objektivität bedacht, den persönlichen Standpunkt des Verfassers im Dunkeln ließe. Das ist dem Verfasser bewusst. Er bekennt sich zum liberalen Protestantismus und nennt uns seine theologischen Gewährsleute. Sie reichen von Friedrich Schleiermacher über Adolf von Harnack, Ernst Troeltsch und Rudolf Otto bis zu Paul Tillich. Dabei kommt Rudolf Otto und dessen Buch "Das Heilige" (1917) besondere Bedeutung zu. Jesus Christus gilt Otto - und Lauster - als die höchste Erscheinungsform des Heiligen in der Welt.
Aber auch in charismatischen Persönlichkeiten wie Franz von Assisi "brach das Heilige in ungeahnter Wucht und Kraft in die Welt herein". Durch die Kirche und ihre Lehre werde der durch das Heilige ausgelöste religiöse Schauer eingehegt und gemildert. Mit der Person Jesu sei jedoch ein Überschuss an göttlicher Wirklichkeit in die Welt gekommen, ein Überschuss, der weder in den Lehren des Christentums noch in der Institution der Kirche vollständig Gestalt werden kann.
Nicht zuletzt sein beherztes Bekenntnis zur liberalen Theologie macht Lausters Darstellung für den Leser zu einem besonderen intellektuellen Vergnügen. Schade, dass sein Buch mit dem Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts endet und der Folgezeit nur noch ein kurzer Blick gilt. Vielleicht wird der in Marburg evangelische Theologie lehrende Autor uns in einem weiteren Werk eine ebenso elegante und anregende Kulturgeschichte des Christentums im zwanzigsten Jahrhundert schenken.
BERNHARD LANG
Jörg Lauster: "Die Verzauberung der Welt". Eine Kulturgeschichte des Christentums. Verlag C.H. Beck, München 2014. 734 S., geb., 34,- [Euro].
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