Der textkritische Wert der nur in Fragmenten erhaltenen Vetus Latina ist in der Exegese umstritten oder wird kaum wahrgenommen, da die Textzeugen relativ jung sind und häufig keine Einheitlichkeit aufweisen. Innerhalb der überschaubaren Zahl an Vetus-Latina-Fragmenten zum Jeremiabuch weist der Codex Wirceburgensis als ihr quantitativ größter Vertreter gegenüber seinem Quelltext eine erheblich kürzere Textgestalt auf – anders als bei anderen biblischen Büchern. Als Erklärung dienen korrupte Textzeugen oder gar die Annahme, dass die kürzere Textgestalt des Kodex eine gegenüber der Septuaginta prioritäre Textform bewahrt hat. Manfred Pollner widmet sich der Textgestalt dieser Zeugen auf dem Hintergrund der neueren Forschung und überprüft die Lesartendifferenzen gegenüber der alexandrinischen und der masoretischen Textform auf ihren textkritischen Wert. Seine Vorgehensweise ist hierbei geprägt vom Ineinandergreifen verschiedener methodischer Zugänge, wie der diachronen (externen) und der textinternen Betrachtungsweise. Dabei kommt er zu dem Schluss, dass die Vetus Latina-Zeugen des Jeremiabuches global gesehen weder als korrupt eingestuft werden können noch eine gegenüber der Septuaginta prioritäre Textform aufweisen, sondern zum größeren Teil eine innergriechische, zum geringeren Teil auch eine innerlateinische Textentwicklung, in seltenen Füllen sogar prioritäre Lesarten, widerspiegeln. Die Untersuchung enthält im Anhang eine vollständige Synopse der wichtigsten Vetus-Latina-Fragmente zu Jeremia mit MT und LXX.