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Perlentaucher-Notiz zur ZEIT-Rezension
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Wahre Geschichten, poetisch gefasst: Sein erster Gedichtband zeigt den Grazer Erzähler Clemens J. Setz von vertrauter Seite und doch ganz neu.
In Vasaris letzter Fassung von "Leben des Michelangelo" wird die berühmte (vor einigen Jahren von Martin Warnke in seinem Aufsatz "Schneedenkmäler" kommentierte) Anekdote berichtet, wonach der junge Piero de' Medici (der Sohn des Lorenzo il Magnifico), als es in einem Winter in Florenz schneite, Michelangelo aufforderte, eine Schneeskulptur zu bauen. Da der Schnee sich nicht lange hielt, gibt es offenbar nicht einmal eine Zeichnung dieser "wunderschönen" Flüchtigkeit, wie es in der rühmenswerten Wagenbach-Ausgabe sämtlicher Viten Vasaris heißt. Ein unbekanntes Meisterwerk. Gab es die Schneeplastik überhaupt, oder handelt es sich um eine erfundene Allegorie der Vergänglichkeit, die wiederum entweder auf das mangelnde Mäzenatentum des unzuverlässigen Piero bezogen werden kann oder auf dessen instabilen Ruhm?
Ein Gedicht im ersten Gedichtband des Grazer Erzählers Clemens J. Setz heißt "Überaus schön" und beschreibt genau diese Szene: wie Michelangelo im Innenhof des Medici-Palasts seinen Schneemann baut, von dem nichts übrig blieb als ebendiese von Ascanio Condivi dem Vasari erzählte Anekdote.
Man darf vermuten, dass Clemens J. Setz, ein kluger und gelehrter Sammler von vielversprechenden Anekdoten, die Geschichte vom Schneemann deshalb aufgefallen ist, weil er sich keine Illusionen über die Haltbarkeit poetischer Texte in dieser Welt macht. Einen "Moses" der Poesie wird es sobald nicht wieder geben. Aber dieser Illusionsverlust gibt ihm andererseits die Freiheit, vieles auszuprobieren: Lieder, Sonette, Sestinen, aber auch Gedichte im Stil "Vermischter Nachrichten", die historisch verbürgte Begebenheiten durch eine kleine Drehung in ein besonderes Licht rücken. Sie handeln zum Beispiel von dem unglücklichen Franz Reichelt, der 1912 mit einem Fallschirm vom Eiffelturm sprang und entsetzlich zerschellte. Oder von Henry Bergh, der zu Recht dafür berühmt wurde, dass die turnspit dogs abgeschafft wurden, Hunde, die in Restaurants den ganzen Tag in einer Art Tretmühle rennen mussten, um den Bratenspieß rotieren zu lassen - sie wurden zu Berghs Schrecken durch schwarze Kinder ersetzt. Oder Setz berichtet vom Schicksal des Roy C. Sullivan, einem park ranger aus Virginia, der siebenmal vom Blitz getroffen wurde und überlebte, sich dann aber das Leben nahm, weil seine Frau ihn verlassen hatte. Oder schließlich vom bitteren Schicksal des Bobby Leach aus Cornwall, der sich 1911 in einem Stahlfass die Niagarafälle hinuntertreiben ließ, ohne weiteren Schaden zu nehmen, später dagegen auf einer Orangenschale ausrutschte und an den Folgen dieses Sturzes verstarb.
Unnötig zu sagen, dass (fast) alle diese wahren Geschichten tödlich enden. Ihren Witz beziehen sie natürlich aus dem protokollarischen Ton und dem Buster-Keaton-haften Ernst, mit dem sie vorgetragen werden.
Aber am Ende sind die Gedichte am schönsten, die nicht etwas Gefundenes durch ein geschicktes Arrangement ausstellen, sondern den eigenen Erfindungen trauen. Mein Lieblingsgedicht in diesem Buch ist eine poetische Reflexion über ein Gemälde von Willem de Kooning (Untitled XIII, 1985):
Manchmal, wenn ein Mann älter wird,
wird er leicht wie ein Lichtfleck
auf einem geräuschlosen Sofa,
leicht wie der gelbe Schopf
eines weißen Aras,
leicht wie
der schrumpfende Atemfleck
auf einem angehauchten Spiegel, leicht
wie die Reste von Girlanden
eines großen Fests,
leicht wie die Reflexion
eines Fensterquadrats aus Sonnenlicht
auf der Glashaut einer Seifenblase.
Seine Pfleger heben ihn hoch
und ziehen ihn hinter sich her
wie einen kleinen Ballon,
trösten ihn,füttern ihn,
lassen ihn einen
Rundflug machen auf dem Balkon,
einen Pinselstrich auf dem verschneiten
Hintergrund des Gartens.
MICHAEL KRÜGER
Clemens J. Setz:
"Die Vogelstraußtrompete". Gedichte.
Suhrkamp Verlag, Berlin 2013. 88 S., geb., 16,- [Euro].
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