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In N. K. Jemisins Roman "Die Wächterinnen von New York" schützt ein Team diverser Superheldinnen, die in der Fantasy-Welt eher Bösewichte wären, die Stadt vor einer weißen Bedrohung.
Der Charme von Songs und Romanen liegt immer auch darin, dass einem keine Schriftstellerin und kein Sänger verbieten kann, ein Werk ganz anders zu verstehen, als sie es gemeint haben. Manchmal kann ein Text sogar unmöglich von seiner Autorin die Botschaft eingeschrieben bekommen haben, die man herauszulesen meint. So liest man die ersten Kapitel von "Die Wächterinnen von New York" und denkt sich: Wahnsinn, das muss dieser Corona-Roman sein, über den sie in den Kultursendungen am Anfang der Pandemie immer sprachen. Dann stellt man aber fest: Das Buch ist in den Vereinigten Staaten schon im März 2020 erschienen, genau zum ersten landesweiten Lockdown. Seine Autorin kann nicht gewusst haben, wie gut der Originaltitel "The City We Became" im Moment des Erscheinens plötzlich auf ihr geliebtes New York passte, das geschockt feststellen musste, dass selbst diese Stadt doch einmal schläft.
Die Autorin N. K. Jemisin ließ ihre Geschichten bislang nicht auf der Erde und in der Gegenwart spielen, auch wenn Gefahren für die Erde wie die Klimakatastrophe in ihrer Fantasy-Trilogie "Broken Earth" schon im Titel aufschienen. Mit der Reihe gewann Jemisin, die vor ihrem literarischen Erfolg als Psychologin gearbeitet hatte, als erste afroamerikanische Autorin den Hugo Award, den wichtigsten Preis für englischsprachige Science-Fiction, und als erste Person überhaupt den Preis in drei Jahren hintereinander. Ihr neues Buch sei die "Chance gewesen, mir einen kleinen monströsen Spaß zu erlauben, nach dem Gewicht der Broken-Earth-Saga". Das erste Mal erschafft Jemisin keine neue Welt in der Zukunft - "Die Wächterinnen von New York" spielt in einem New York ohne Covid mit normal verrückten New Yorkerinnen als Superhelden.
Die Geschichte beginnt, als New York zum Leben erwacht. Und zwar nicht als Metapher eines Morgens - in Jemisins Welt nehmen Großstädte ab einer gewissen Größe ein Eigenleben an, und diese Organismen gebären menschliche Avatare als eine Art Schutzheilige der Stadt. São Paulo zum Beispiel verkörpert ein braunhäutiger schmaler Kettenraucher, Hongkong ist ein alter, abgebrühter Anzugmann. New York sucht noch seine Verkörperung und ist in dieser Phase besonders verwundbar für den Feind, ein Es-artiges Urmonster, das alle Formen annehmen kann. Mit seinen Tentakeln drischt es auf die Brooklyn Bridge ein, als gallertartige Masse quillt es aus U-Bahn-Schächten, kriecht in Cops und macht sie zu ferngesteuerten Hilfssheriffs - und immer wieder manifestiert sich das Böse in der mysteriösen Weißen Frau aka Dr. White. Kurz: Es geschehen seltsame Dinge.
N. K. Jemisin folgt einem für Heldenstorys klassischen Aufbau und lässt ihre Auserwählten erst einmal lernen, dass sie auserwählt sind, welche Superkräfte sie haben, wer ihnen zur Seite steht und wer ihre Gegner sind. New York wäre nicht die selbst ernannte beste Stadt der Welt, wenn sie bloß einen Schutzheiligen hätte - jedes der fünf Viertel hat einen. Da ist Brooklyn, eine ehemalige Rapperin, alleinerziehende Mutter und Stadträtin. Bronca, eine indigene lesbische Kuratorin in ihren Sechzigern. Das tamilische Mathe-Genie Padmini, Studentin in und Verkörperung von Queens. Aislyn, die einzige Weiße, vertritt Staten Island und hat als Anspielung auf den vergessenen Stadtteil die Superkraft, sich unsichtbar zu machen. Manny ist ein queerer Schwarzer und gewaltbereiter Charmeur mit einer Sonderstellung unter den fünf, denn er verkörpert das Machtzentrum Manhattan. Wenn diese Charaktere ihre Rivalitäten überwinden, können sie das formlose Monsterwesen vielleicht bezwingen und als Superteam den wahren Stadt-Avatar von ganz New York aufwecken.
So eindeutig die Namen Brooklyn, Bronca und Manny sind, so sehr drängt sich auch für das, was sich in ihrer Stadt ausbreitet, eine allegorische Deutung auf. Die weiße Masse. Die Weiße Frau als das personifizierte Böse, die gegen die multikulturelle Durchmischung in den Großstädten ankämpft. Ein faschistischer Überlegenheitswahn der Weißen befällt die Stadt, die dem Bösen eine Handvoll superwoker Heldinnen entgegenstellt - lauter auf unterschiedliche Weise diskriminierte Stadtheilige, die am Ende feststellen müssen, dass sie keine weißen Verbündeten haben.
Das mag einem weniger als Literatur, sondern eher wie ein politischer Kommentar vorkommen; allerdings geht es in vielen Fantasy-Klassikern auch nicht subtiler zu. Im "Herrn der Ringe" zum Beispiel kommen die bösen Horden natürlich aus dem Osten, die guten, gebildeten Weißen (Elben) siegen über die dunkel-gedrungenen Kreaturen (Orks), die J. R. R. Tolkien nach "mongolischem Typus" entwarf. Bei Jemisin werden nun diejenigen zu Helden, die bisher als Bösewichte fungierten oder bloß Nebenrollen abkriegten. Die Neun-Millionen-Stadt New York City darf sich daher in einem jungen schwarzen Obdachlosen manifestieren.
Zugleich ist "Die Wächterinnen von New York" aber mehr als nur eine aufgeklärte Fantasy-Fabel mit vertauschten Rollen. Die Masse, die sich in New York ausbreitet, bleibt formlos, und bis zum Ende lässt sich nicht ohne Zweifel festlegen, ob dieses Böse wirklich symbolisch für den Faschismus steht. Es könnte ebenso gut auch ein anderer Ismus (Sexismus, Kapitalismus) sein, der das menschliche Zusammenleben bedroht. Die simple Message, die N. K. Jemisin ihre Heldinnen verkünden lässt, ist ihre kollektive Überzeugung, dass Menschen sich zusammentun müssen, um ein beliebiges Böses zu überwinden, weil nur gemeinsam ein größeres Ganzes entsteht. Bisschen kitschig, klar. Nach zwei Jahren Pandemie aber auch einfach tröstlich.
Sieht man mal ab von der parabelhaften Science-Fiction-Erzählung, von dem Aufruf, gegen Ungerechtigkeiten zu kämpfen und sich über alle ethnischen Unterschiede hinweg zu verschwistern, ist dieses Buch vor allem auch eine Liebeserklärung an New York. An das Durch- und Miteinander. An die Mischung aus Herzlichkeit für Fremde und einem Großstadt-Stoizismus, weil man in dieser Stadt schon alles gesehen hat und sich hier ganz sicher niemand von ein paar glibberigen Tentakelarmen, die aus dem Asphalt wachsen, beeindrucken lässt. "AAAaaaAAAaaa", schreit der Avatar von New York, als er mal wieder in die Fänge des morphenden Monsters gerät. "Halt deine verdammte Fresse!", kommt es als Antwort von einem New Yorker. Wie könnte man da nicht sofort wehmütig werden und sich in diese Stadt und ihre Bewohnerinnen verlieben?
FLORENTIN SCHUMACHER
N. K. Jemisin: "Die Wächterinnen von New York". Aus dem Englischen von Benjamin Mildner. Verlag Klett Cotta, 544 Seiten 25 Euro. Erscheint am 19. März.
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