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Perlentaucher-Notiz zur FR-Rezension
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Gesichte und Geschichte einer Königin als Roman
Johanna I. von Kastilien, Königin beziehungsweise nach 1516 Titularkönigin von Kastilien, Léon und Aragón, hatte lange Zeit keinen besonders guten Ruf. Schafften es doch ihre (großteils männlichen) Widersacher, darunter sogar ihr ältester Sohn Carlos, der als Karl V. den Kaiserthron besteigen sollte, ihr bereits zu Lebzeiten - geboren 1479, verstorben 1555 - die Regierungsfähigkeit abzusprechen und sie etwa von ihrem dreißigsten Lebensjahr an auf dem abgelegenen, in ein Kloster umgebauten Schloss von Tordesillas festzusetzen und somit de facto zu entmündigen. Wann ihr der Beiname "die Wahnsinnige" verpasst wurde, unter dem sie heute noch bekannt ist und der auch den Titel des jüngsten Romans von Alexa Hennig von Lange abgibt, scheint nicht mehr ganz leicht zu klären.
Auf Spekulationen lässt sich Alexa Hennig von Lange gar nicht erst ein. Auch wenn sie im Nachwort ausdrücklich betont, "keinen historischen Roman" verfasst zu haben, darf man sich auch mit nur geringer Kenntnis der historischen Fakten vor der offensichtlichen, aber erfreulicherweise nie aufdringlich übermittelten Recherchearbeit, die die Autorin in den mit knapp zweihundert Seiten recht schmalen Band gesteckt haben wird, ehrfürchtig verbeugen. Freilich mag man die Erwähnung der beständig lodernden Scheiterhaufen der besonders durch (englische) Propaganda berüchtigten Spanischen Inquisition für übertrieben halten. Aber da dies alles nur in Erinnerungen von Johanna auftritt und die Institution unter der Herrschaft ihrer Eltern, der sogenannten katholischen Königin Isabella und Ferdinands des Katholischen, auf der Iberischen Halbinsel eingerichtet wurde, nimmt man das schlicht als Bezug auf Johannas leicht zerrüttete Konstitution.
Eingerahmt von zwei Briefen Johannas an ihre Kinder, konzentriert sich die Handlung auf die Zeit von 1503 bis 1506, eine Spanne von knapp vor dem Tod ihrer Mutter bis kurz nach dem überraschenden Dahinscheiden ihres Gemahls Philipp des Schönen mit nur 28 Jahren am "Fieber" - auch hierüber weiß man nichts wirklich Genaues. Wie Philipp zu seinem Beinamen kam, übrigens ebenso wenig. Ein böser Scherz? Betrachtet man erhaltene Porträtgemälde, käme man eher auf andere Bezeichnungen.
Alexa Hennig von Lange zeichnet ein genaues, teils berührendes, teils verstörendes Bild von der jungen Fürstin. Hin- und hergerissen zwischen Liebe und Abneigung sowohl zum Gatten als auch zur Mutter und zu ihren sechs kleinen Kindern (zukünftigen über ganz Europa und Westindien, also die beiden amerikanischen Kontinente, verteilten Herrscherinnen und Herrschern), erlebt man die Erschütterungen von Johannas Seelenleben in dieser Zeit sehr einprägsam mit. Wie sie ihren anfänglich heftig geliebten Philipp als feigen, intriganten, untreuen und in Wahrheit wohl dennoch bemitleidenswerten Menschen erkennt, wie sie ihre Mutter und deren - für die nie wirklich ganz fromme Johanna zumindest - beinahe krankhafte Religiosität erst verabscheut und dann nach deren Tod zu verstehen beginnt, das alles schildert uns die Autorin in ruhiger und trotzdem mitreißender Sprache. Und die Königin ist, jedenfalls in dieser Geschichte, viel stärker - und frecher - als ihr Philipp.
Dass Johanna am beginnenden sechzehnten Jahrhundert geäußert haben soll: "Denn ich fordere ja nicht nur eine Stadt, ein Land, eine Kolonie oder eine Insel, sondern eine komplette Neuordnung des altbekannten Verhältnisses zwischen Mann und Frau. Ich fordere die halbe Welt", ist kaum vorstellbar. Aber in diesem Roman lesen wir solch moderne Gedanken gerne. Sind sie doch ein gewisser Trost, da wir darüber den eher traurigen wirklichen Ausgang von Johannas Geschichte für einige Zeit vergessen können.
MARTIN LHOTZKY
Alexa Hennig von Lange: "Die Wahnsinnige". Roman.
DuMont Buchverlag, Köln 2020. 208 S., geb., 20,- [Euro].
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