Dieser Download kann aus rechtlichen Gründen nur mit Rechnungsadresse in A, B, BG, CY, CZ, D, DK, EW, E, FIN, F, GR, H, IRL, I, LT, L, LR, M, NL, PL, P, R, S, SLO, SK ausgeliefert werden.
Jean-Philippe Toussaints großartiger, kleiner Roman "Die Wahrheit über Marie"
Ein Mann erhält einen Anruf, mitten in der Nacht. Es ist eine Pariser Sommernacht, seit Tagen herrscht eine scheußliche, schweißtreibende Hitze, der Mann schläft schlecht. Neben ihm liegt eine Frau, sie heißt Marie; die Frau, die ihn anruft, heißt auch Marie, und es ist die Frau, die er eigentlich liebt.
Der Mann rennt deswegen, mitten in der Nacht, gegen halb drei Uhr morgens, durch das überhitzte, leergefegte Paris, vorbei am Reiterstandbild auf der Place des Victoires, zu ihrer Wohnung. Dort sieht er einen Krankenwagen. Ein Mann wird auf einer Trage aus dem Haus transportiert, kein Mensch mehr, sondern mit Beatmungsapparaturen gesichertes Fleisch, etwas, das aussieht wie die bröseligen Überreste eines chemischen Experiments, das in einer großen Explosion endete. Oben in der Wohnung steht, nur mit einem T-Shirt bekleidet, Marie, die die Nacht mit diesem Mann verbrachte, zwischen einer halb geleerten Flasche Grappa und einem abgeschalteten Ventilator.
Der Beginn dieses kleinen, großartigen Romans ist eine Rekonstruktion: Der Erzähler stellt sich vor, was in dieser Nacht passiert ist, die seine ehemalige Freundin Marie mit dem wohlhabenden, älteren Jean-Christophe de G. verbracht hat, bevor der eine Herzattacke bekam und aus Maries Wohnung, die auch einmal die Wohnung des Erzählers war, abtransportiert werden muss und bald darauf stirbt. "Später, als ich an die dunklen Stunden dieser glutheißen Nacht zurückdachte, wurde mir bewusst, dass wir beide, Marie und ich, damals im gleichen Augenblick Liebe gemacht hatten, nur nicht miteinander": Selten hat der erste Satz eines Romans alles, was folgt, den Ton, die Tragik, den Humor, den schleichenden Wahnsinn der Geschichte so extrakthaft vorweggenommen.
Ein Paar trennt sich; die Frau, Marie, lernt bei einer ihrer Ausstellungen in Tokio einen reichen Franzosen kennen, der Jean-Baptiste de Ganay heißt, vom Erzähler aber hartnäckig Jean-Christophe de G. genannt wird, als habe er nicht einmal Lust, seine Lebenszeit mit dem langatmigen Namen seines Widersachers zu verplempern. Marie, die "völlig illegal Musikstücke aus dem Internet herunterlädt", "Marie mit ihrem so strapaziösen Hang zu geöffneten Fenstern, geöffneten Schubladen, offenen Koffern, ihrem Hang zu heillosem Durcheinander, Chaos, Wirbelwinden und stürmisch bewegter Luft", ist eine der schönsten Figuren der neueren französischen Literatur. Ihr Liebhaber, Jean-Christophe de G., besitzt einen Reitstall und nimmt in Tokio an einem Vollblut-Turnier teil, muss aber eines seiner Pferde, das unter dem Verdacht steht, gedopt zu sein, über Nacht mit einer Cargo-Maschine außer Landes bringen, was schwieriger ist als gedacht, weil dieses Pferd am Flughafen Tokio Narita aus seiner Transportbox ins Dunkel der Nacht flieht - während Marie mit 140 Kilo Gepäck auf seinen Besitzer wartet.
Für Menschen, die Metaphern lieben, bietet dieses Buch soviel wie für all die, die Literaturwissenschaft vor allem als Herleitungsgeschichte betreiben: Das in einer Lufthansa-Cargo-Boeing heimfliegende Pferd - ein trauriger Pegasus-Nachfolger. Aus der Romantik bekannt: Das Doppelgängermotiv, das sich wie ein kunstvolles Netz unter dem Roman ausbreitet. Zwei Frauen, die Marie heißen und gleichzeitig geliebt werden; zwei Pferde, das gedopte von Jean-Christophe de G. und das von Maries Vater, beide sind am Ende verletzt. Am Anfang des Romans herrscht übergroße Hitze, am Ende brennt ein Pferdestall nieder. Aber das Großartige an diesem Buch ist vor allem seine Sprache, die den Gerinnungspunkt markiert, an dem das Gesprochene, Unmittelbare, noch nach Worten Suchende zum Text wird: "Aller Wahrscheinlichkeit nach, angesichts der Uhrzeit, zu der Marie in unsere Wohnung zurückgekehrt ist (in unsere Wohnung oder vielmehr in ihre Wohnung, man müsste jetzt sagen, in ihre Wohnung, weil wir seit vier Monaten nicht mehr zusammenwohnten) und angesichts der fast identischen Uhrzeit, zu der ich in meine kleine Zweizimmerwohnung zurückkehrte, in die ich nach unserer Trennung gezogen war, nicht allein, ich war nicht allein - mit wem ich zusammen war, spielt keine Rolle, darum geht es hier nicht -, dürfte es zwanzig nach eins, höchstens halb zwei morgens gewesen sein, als Marie und ich in dieser Nacht in Paris Liebe machten" - es ist, als renne man neben dem Autor her zum nächsten Ereignis, als rufe er einem, völlig außer Atem, zu, was eben passiert ist.
Toussaint, geboren 1957, wurde Mitte der achtziger Jahre mit seinem Roman "Das Badezimmer" berühmt, der Geschichte eines Mannes, der in sein Badezimmer zieht, wo ihn seine Freundin mit dem Nötigsten versorgt. Diese Freundin heißt Pascale, was ein philosophischer Gag ist, eine Anspielung auf Blaise Pascals Diktum, alles Unglück der Welt rühre daher, dass die Menschen nicht ruhig in ihren Zimmern bleiben könnten.
Auch in seinem neuem Roman liegt das plötzlich aufscheinende Glück in einer inselhaften, zenhaften Immobilisierung inmitten hektischer, absurder und sinnloser Bewegungen - als Marie und der Erzähler still am Fenster stehen und sehen, wie ein Alarm bei der Banque de France für große Hektik sorgt. Die Hektik der Menschen, die rastlos, wie Atome in einem Teilchenbeschleuniger, durch die Gegend geschossen werden, führt bei Toussaint mit schöner Regelmäßigkeit ins Nichts. Am Ende der verhängnisvollen Nacht werden die Bilder, die sich alle voneinander machten, immer unschärfer, alles ist dunkel; der Bildschirm des Laptops hat sich abgeschaltet, nur die blaue Kontrolllampe brennt und wirft ihr hartnäckiges, nichts erhellendes Licht auf das Chaos der Dinge; eine Szene, in der der Bildtheoretiker, der Jean-Philippe Toussaint seit Romanen wie "Der Fotoapparat" auch ist, durchscheint. Vor allem aber ist er der beste, erfindungsreichste, beobachtungsschärfste französischsprachige Erzähler der Gegenwart; seine Bücher sind Tiefenbohrungen ins Heute, und es ist nicht verständlich, warum er in Deutschland, wo jeder durchschnittliche, konventionelle, langatmige amerikanische Roman als Offenbarung gefeiert und zigtausendmal verkauft wird, nicht viel mehr gelesen wird.
NIKLAS MAAK
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH