Novellen, die vom Zustand jener Unglücklichen erzählen, denen das Bewußtsein ein besonderes Verhängnis war. Novellen über Nietzsches Wahnsinn, die Goebbels-Kinder, den rätselhaften Freitod von Kleist und Henriette Vogel, den Nihilisten Alfred Seidel, der, kaum neundzwanzig Jahre alt, in einer Erlanger Nervenklinik endete, und über eine Jüdin, die mit einem SS-Mann, ihrem Mörder, spazierengeht.
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 30.03.2017Wir liebten uns diese Frühlinge lang
Hartmut Langes großer Novellenband "Die Waldsteinsonate" in Neuausgabe
Die großen Kulturleistungen - vom No-Theater bis zu den Pyramiden, von der Neunten Sinfonie bis zur Sixtinischen Kapelle - leben in ihrer eigenen Fast-Ewigkeit, doch ihre Schöpfer waren und sind dem Tod geweiht wie wir alle. Der Autor, Denker und Zweifler Hartmut Lange, der am morgigen Freitag auf achtzig Jahre Lebenszeit zurückschauen kann, machte diese Entdeckung, als er die Briefe von Nietzsche las. Plötzlich erschien ihm das Werk, das den Philosophen berühmt-berüchtigt machte, nur wie ein Vorhang, der die Gebrechlichkeit des eigenen Daseins verbirgt. Den Leser Lange sprang damals ein Satz aus diesen Briefen an: "Was brauche ich die Lebenden, ich habe die Gesellschaft der Toten." Für Lange ist dies eine der zentralen Aussagen für sein eigenes Denken geworden, wir finden sie im "Tagebuch eines Melancholikers", seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1981/82, wieder.
Das Subjekt in der Geschichte, oder genauer: die Spaltung von sterblichem Mensch und geschichtlicher Kontinuität, ist der dunkle Magnet, über dem Langes Werk pendelt. In vieler Hinsicht stellen die nun wieder neu aufgelegten fünf Novellen unter dem Titel "Die Waldsteinsonate", erstmals 1984 erschienen, eine Summe seines Denkens und Fühlens, vor allem aber Schreibens dar. Sie holen aus dem Ungrund der Geschichte Szenen hervor, die man lieber vergessen möchte, und befleißigen sich so einer "Entdrängung", einer Gegenverdrängung.
Nietzsches Fall in den Wahn ist das Fanal, mit dem der Band eröffnet wird. Wie der Philosoph in Turin dem gequälten Pferd zur Hilfe eilt und es umarmt, sich nicht mehr vom Bruder Tier löst - ein Franziskus in der gottlosen Welt -, schließlich in die Psychiatrie eingeliefert wird, das sind bewegende Momente. Wenn immer Nietzsche in Fiktionen und Dramen erscheint, dann fehlt meist diese Szene nicht: Der Übermensch wird zum armseligen Bündel, das keinen Gedanken mehr zu denken vermag. Zarathustra geht vor die Hunde. Lange sondiert aber die Ritzen des Bewusstseins, das hier zu verlöschen beginnt. Mal fühlt sich Nietzsche endlich als das Kind, das er nie gewesen war, mal als Übermächtiger oder als Nichts, mal als Dionysos oder als Nietzsche gar, bevor er in die augenscheinliche Bewusstlosigkeit seiner letzten zehn Lebensjahre in Naumburg und Weimar versinkt.
Die deutsche "Unheilslinie", die Georg Lukács von Schopenhauer über Nietzsche bis in den Nationalsozialismus zog, verfolgt auch Lange, allerdings als neugieriger Skeptiker, trauriger Denker und verzweifelter Humanist, der eingesehen hat, dass die Vernunft allein die Welt nicht retten kann - ein Gedanke, der sich auch in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger spiegelt ("Positiver Nihilismus", 2012). In der Titelnovelle des jetzt wiederaufgelegten Buchs erhält der verstorbene Franz Liszt eine Einladung in den Bunker der Reichskanzlei, unterschrieben von Magda G. Der Komponist, dessen Tochter Cosima mit Richard Wagner liiert war, wird Zeuge des bevorstehenden Mordes an den Kindern der Goebbels. Verzweifelt versucht er diese Untat zu verhindern mit Hilfe der Musik - allerdings nicht der eigenen, denn seine "Préludes" waren unwiederbringlich von den Nazis für ihre Siegesmeldungen verbraucht worden -, sondern mit Beethovens "Waldsteinsonate". Er hofft bis zuletzt, das Schicksal wenden und Magda Goebbels in ihrem Zögern beeinflussen zu können: "Solange Sie mir zuhören, kann den Kindern nichts geschehen." Die Kinder werden umgebracht.
Man kann dies auch als Aussage zur eigenen Kunst, der eines Autors, sehen, zu der Einsicht nämlich, dass man dieser nicht das Unmögliche aufbürden kann. 1975 hatte sich Lange schon desselben Themas in seinem Theaterstück "Jenseits von Gut und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei" angenommen. Neben Liszt wird hier auch Nietzsche in den Bunker geladen.
So dunkel und kalt wie diese unterirdischen Szenen einer deutschen Schlüsselnacht ist auch das Wetter in der Novelle "November", die Heinrich von Kleist und die kranke Henriette Vogel zum Wannsee begleitet. Minutiös werden die Stunden erlebt, die dem Eintritt der beiden in den Tod vorangehen - die Elster, die der Kutsche folgt, der Nebel bei Berlin, der Wein, der Wirt, die Herrichtung der Pistole, das letzte Schreiben, die Sendung eines Boten - vom Abrücken der Dinge ist die Rede. Als Leser kann man sich der Gravitation des bevorstehenden Nichts kaum entziehen: "Drei Frühlinge lieben wir uns, und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander!"
So denkt Kleist, und von ihm könnte auch der Gedanke stammen, "die Menschen hätten an der Erkenntnis ein schönes Mittel zu ihrem Untergang", doch dieser Gedanke wird dem Nihilisten Alfred Seidel, der sich mit 29 Jahren in einer psychiatrischen Klinik erhängte, zugeschrieben. Langes Novelle "Seidel" erweist den Porträtierten als Nachfahre von Büchners Lenz, wie Sebastian Kleinschmidt in seinem kundigen Nachwort zur Neuausgabe andeutet. Seidel arbeitete, bevor er 1924 starb, an einem Werk mit dem geradezu Langeschen Titel "Bewusstsein als Verhängnis".
Dieses Thema wird in der letzten und unheimlichsten Geschichte vertieft. In "Die Heiterkeit des Todes" glaubt der Erzähler am Grunewaldsee eine ermordete Jüdin zu sehen, die sich dort mit ihrem Mörder, einem SS-Mann, nachts trifft - ein Liebespaar, das sämtliche Untat vergessen macht und auch von dem Erzähler dabei nicht gestört werden will. Eine Geschichte von Poe könnte das sein, dem wie Lange die Grenzen zwischen Tod und Leben fließend wurden, nur ist sie transponiert in eine schmerzhaft-historische Gegenwart. Gegen alle, gegen das Bewusstsein aller Schuld verbünden sich hier die Toten, sie lassen den Beobachter aus einer anderen Zeit zurück mit seinen Gedanken, seinen Versöhnungsphantasien, seiner Selbstgerechtigkeit und dem Ruf nach Gerechtigkeit, und führen ihm eine unerträgliche Heiterkeit vor, eine Gefühlswelt, die aller Vernunft spottet. Verstörende Erzählungen, die uns der Gesellschaft der Toten versichern. Sie lösen lang anhaltende Verunsicherungen aus, auch weil sie sprachlich so dicht komponiert sind, und stellen gerade in ihrer Zeitgebundenheit zeitlose Erzählkunst dar.
ELMAR SCHENKEL
Hartmut Lange: "Die Waldsteinsonate". Fünf Novellen.
Mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt.
Diogenes Verlag, Zürich 2017. 130 S., geb,, 20,- [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Hartmut Langes großer Novellenband "Die Waldsteinsonate" in Neuausgabe
Die großen Kulturleistungen - vom No-Theater bis zu den Pyramiden, von der Neunten Sinfonie bis zur Sixtinischen Kapelle - leben in ihrer eigenen Fast-Ewigkeit, doch ihre Schöpfer waren und sind dem Tod geweiht wie wir alle. Der Autor, Denker und Zweifler Hartmut Lange, der am morgigen Freitag auf achtzig Jahre Lebenszeit zurückschauen kann, machte diese Entdeckung, als er die Briefe von Nietzsche las. Plötzlich erschien ihm das Werk, das den Philosophen berühmt-berüchtigt machte, nur wie ein Vorhang, der die Gebrechlichkeit des eigenen Daseins verbirgt. Den Leser Lange sprang damals ein Satz aus diesen Briefen an: "Was brauche ich die Lebenden, ich habe die Gesellschaft der Toten." Für Lange ist dies eine der zentralen Aussagen für sein eigenes Denken geworden, wir finden sie im "Tagebuch eines Melancholikers", seinen Aufzeichnungen aus den Jahren 1981/82, wieder.
Das Subjekt in der Geschichte, oder genauer: die Spaltung von sterblichem Mensch und geschichtlicher Kontinuität, ist der dunkle Magnet, über dem Langes Werk pendelt. In vieler Hinsicht stellen die nun wieder neu aufgelegten fünf Novellen unter dem Titel "Die Waldsteinsonate", erstmals 1984 erschienen, eine Summe seines Denkens und Fühlens, vor allem aber Schreibens dar. Sie holen aus dem Ungrund der Geschichte Szenen hervor, die man lieber vergessen möchte, und befleißigen sich so einer "Entdrängung", einer Gegenverdrängung.
Nietzsches Fall in den Wahn ist das Fanal, mit dem der Band eröffnet wird. Wie der Philosoph in Turin dem gequälten Pferd zur Hilfe eilt und es umarmt, sich nicht mehr vom Bruder Tier löst - ein Franziskus in der gottlosen Welt -, schließlich in die Psychiatrie eingeliefert wird, das sind bewegende Momente. Wenn immer Nietzsche in Fiktionen und Dramen erscheint, dann fehlt meist diese Szene nicht: Der Übermensch wird zum armseligen Bündel, das keinen Gedanken mehr zu denken vermag. Zarathustra geht vor die Hunde. Lange sondiert aber die Ritzen des Bewusstseins, das hier zu verlöschen beginnt. Mal fühlt sich Nietzsche endlich als das Kind, das er nie gewesen war, mal als Übermächtiger oder als Nichts, mal als Dionysos oder als Nietzsche gar, bevor er in die augenscheinliche Bewusstlosigkeit seiner letzten zehn Lebensjahre in Naumburg und Weimar versinkt.
Die deutsche "Unheilslinie", die Georg Lukács von Schopenhauer über Nietzsche bis in den Nationalsozialismus zog, verfolgt auch Lange, allerdings als neugieriger Skeptiker, trauriger Denker und verzweifelter Humanist, der eingesehen hat, dass die Vernunft allein die Welt nicht retten kann - ein Gedanke, der sich auch in seiner Auseinandersetzung mit Heidegger spiegelt ("Positiver Nihilismus", 2012). In der Titelnovelle des jetzt wiederaufgelegten Buchs erhält der verstorbene Franz Liszt eine Einladung in den Bunker der Reichskanzlei, unterschrieben von Magda G. Der Komponist, dessen Tochter Cosima mit Richard Wagner liiert war, wird Zeuge des bevorstehenden Mordes an den Kindern der Goebbels. Verzweifelt versucht er diese Untat zu verhindern mit Hilfe der Musik - allerdings nicht der eigenen, denn seine "Préludes" waren unwiederbringlich von den Nazis für ihre Siegesmeldungen verbraucht worden -, sondern mit Beethovens "Waldsteinsonate". Er hofft bis zuletzt, das Schicksal wenden und Magda Goebbels in ihrem Zögern beeinflussen zu können: "Solange Sie mir zuhören, kann den Kindern nichts geschehen." Die Kinder werden umgebracht.
Man kann dies auch als Aussage zur eigenen Kunst, der eines Autors, sehen, zu der Einsicht nämlich, dass man dieser nicht das Unmögliche aufbürden kann. 1975 hatte sich Lange schon desselben Themas in seinem Theaterstück "Jenseits von Gut und Böse oder Die letzten Stunden der Reichskanzlei" angenommen. Neben Liszt wird hier auch Nietzsche in den Bunker geladen.
So dunkel und kalt wie diese unterirdischen Szenen einer deutschen Schlüsselnacht ist auch das Wetter in der Novelle "November", die Heinrich von Kleist und die kranke Henriette Vogel zum Wannsee begleitet. Minutiös werden die Stunden erlebt, die dem Eintritt der beiden in den Tod vorangehen - die Elster, die der Kutsche folgt, der Nebel bei Berlin, der Wein, der Wirt, die Herrichtung der Pistole, das letzte Schreiben, die Sendung eines Boten - vom Abrücken der Dinge ist die Rede. Als Leser kann man sich der Gravitation des bevorstehenden Nichts kaum entziehen: "Drei Frühlinge lieben wir uns, und eine Ewigkeit fliehen wir wieder auseinander!"
So denkt Kleist, und von ihm könnte auch der Gedanke stammen, "die Menschen hätten an der Erkenntnis ein schönes Mittel zu ihrem Untergang", doch dieser Gedanke wird dem Nihilisten Alfred Seidel, der sich mit 29 Jahren in einer psychiatrischen Klinik erhängte, zugeschrieben. Langes Novelle "Seidel" erweist den Porträtierten als Nachfahre von Büchners Lenz, wie Sebastian Kleinschmidt in seinem kundigen Nachwort zur Neuausgabe andeutet. Seidel arbeitete, bevor er 1924 starb, an einem Werk mit dem geradezu Langeschen Titel "Bewusstsein als Verhängnis".
Dieses Thema wird in der letzten und unheimlichsten Geschichte vertieft. In "Die Heiterkeit des Todes" glaubt der Erzähler am Grunewaldsee eine ermordete Jüdin zu sehen, die sich dort mit ihrem Mörder, einem SS-Mann, nachts trifft - ein Liebespaar, das sämtliche Untat vergessen macht und auch von dem Erzähler dabei nicht gestört werden will. Eine Geschichte von Poe könnte das sein, dem wie Lange die Grenzen zwischen Tod und Leben fließend wurden, nur ist sie transponiert in eine schmerzhaft-historische Gegenwart. Gegen alle, gegen das Bewusstsein aller Schuld verbünden sich hier die Toten, sie lassen den Beobachter aus einer anderen Zeit zurück mit seinen Gedanken, seinen Versöhnungsphantasien, seiner Selbstgerechtigkeit und dem Ruf nach Gerechtigkeit, und führen ihm eine unerträgliche Heiterkeit vor, eine Gefühlswelt, die aller Vernunft spottet. Verstörende Erzählungen, die uns der Gesellschaft der Toten versichern. Sie lösen lang anhaltende Verunsicherungen aus, auch weil sie sprachlich so dicht komponiert sind, und stellen gerade in ihrer Zeitgebundenheit zeitlose Erzählkunst dar.
ELMAR SCHENKEL
Hartmut Lange: "Die Waldsteinsonate". Fünf Novellen.
Mit einem Nachwort von Sebastian Kleinschmidt.
Diogenes Verlag, Zürich 2017. 130 S., geb,, 20,- [Euro].
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»Der Meister unter den phantastischen Rationalisten.« Edelgard Abenstein / Deutschlandradio Kultur Deutschlandradio Kultur