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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Familienmassakerroman mit einem Überlebenden: Zoran Ferics "Die Wanderbühne"
Die Literatur verbinde Menschen, die einander nie begegnet seien, schreibt Zoran Feric am Ende eines langen Essays, durch "eine Art allgemeiner Wahrheit und universeller Sprache. Und natürlich durch die Möglichkeit, sich in einem fremden Sterben wiederzuerkennen." Der gut getimte Punch des letzten Satzes ist ein Markenzeichen des Kroaten, ein weiteres der Galgenhumor. Beides sichert den Lesern beste Unterhaltung, was immer auch an Absonderlichem und Verstörendem in Ferics Büchern geschieht.
Das Sterben hat in "Die Wanderbühne", dem neuen Roman des 1961 geborenen Gymnasiallehrers, Konjunktur. Was wie ein Familienroman beginnt, wird in der zweiten Hälfte der 500 Seiten zur Autobiographie. Der Erzähler mit dem Namen des Autors bekennt, diese Briefpassage und jenes Ereignis hätten den Weg in seinen Geschichtenband "Walt Disneys Mausefalle" (1996) gefunden. Vorher schafft sich der heranwachsende Schriftsteller kräftig Raum: Er lässt den Tod alle Romanfiguren ummähen, zuletzt den verwitweten Vater, unmittelbar davor eine Tante. Dann steht der Erzähler vollkommen allein da. Der Familienroman ist ein Familienmassakerroman mit einem Überlebenden, dem Künstler. Das ist zwar konventioneller und deutlich geradliniger als vergleichbare Romane von Ferics Landsleuten Miljenko Jergovic ("Die unerhörte Geschichte meiner Familie") oder Bora Cosic ("Die Tutoren"), jedoch nicht ohne Reiz.
Die "Wanderbühne" durchstreift das 20. Jahrhundert und erzählt von Ferics Vorfahren väterlicher- und mütterlicherseits. Da ist der Lederhändler, Großgrundbesitzer und glühende kroatische Nationalist Pavle Pejic, dem kurz nach 1900 eine Tochter ausgerechnet mit einem serbischen Schauspieler davonläuft, während die andere stirbt, weil Pejics geizige Ehefrau kein Geld für den Arzt ausgeben mag - dafür erhält der Witwer ein Kind der ersten, weggelaufenen Tochter zur Frau. Mit der Krankenschwester Ivka Feric kommt die zweite Familie ins Spiel: Sie heiratet in den Zwanzigerjahren den russischen Emigranten und Arzt Benjamin Berenstein, erkrankt jedoch wie viele in ihrer Familie an Lungentuberkulose und stirbt kurz nach der Geburt von Vera. Das Mädchen wächst bei ihrem Onkel Stjepan auf, weil sich der Jude Berenstein im Staat des Hitler-Gefolgsmanns Ante Pavelic verstecken muss und schließlich ermordet wird. Vera heiratet dann 1960 Tvrtko, den Enkel der unbotmäßigen Pejic-Tochter, doch die Eheleute werden nicht glücklich miteinander. Auch, weil Tvrtko eifersüchtig auf Veras Ersatzvater Stjepan ist, der im Haus lebt und sich um seinen Sohn Zoran kümmert, den Erzähler des Romans. Die Konstellationen ähneln sich: In beiden Familien fehlt immer jemand, immer wird jemand ersetzt, und immer verknüpfen sich unauflöslich Gefühle der Schuld mit denen der nachgetragenen Dankbarkeit.
Zoran Feric erzählt pointiert, in kräftigen, oft ungewöhnlichen Kurzgeschichten, die zu großen Kapiteln zusammengefasst werden und als Erzählungen für sich stehen können. Tödliche Gefahr droht von Krankheiten und der Politik: Tuberkulose, Krebs oder Diabetes fordern ebenso Opfer wie die faschistische Ustascha oder die Tschetniks in den Jugoslawienkriegen der Neunzigerjahre. Kein Wunder, dass sich Mirogoj, die gewaltige Nekropolis Zagrebs, neben auffallend vielen klingenden Stadtteil- und Straßennamen wie Salata, Novakova, Klaska, Jagodnjak oder Zelenjak als Fixpunkt behauptet. Den letzten Kampf ficht der einbeinige Vater Zorans mit Cousine Nada um einen Platz im Familiengrab aus.
Das schrill-farbige Mosaik dieser Totentänze, von Klaus Detlef Olof meist treffend bitter-komisch übertragen, kann die Lücken im Familienroman nicht verdecken. Schon der Stammbaum im Buch verwirrt: Er verzeichnet Verwandte, die gar nicht oder nur ein-, zweimal erwähnt werden. Und einen Ehepartner scheinen nur jene Verwandten gefunden zu haben, die für das (Über-)Leben und Erleben des Erzählers eine Rolle spielen. Solch rigorose Perspektivierung zeichnete schon Ferics letzten Roman "In der Einsamkeit nahe dem Meer" (2017) aus, in dem das Personal im letzten Drittel ohne erkennbaren Grund stark ausdünnt, als ob Feric plötzlich das Interesse an vielen Figuren verloren hätte.
Es gibt noch mehr Auslassungen in diesem an Gräueln reichen Jahrhundertroman: Tvrtkos Vater ist Förster, sein Onkel gar ein hoher Richter im Ustascha-Staat, doch irgendwelcher Taten scheinen sie sich ebenso wenig schuldig gemacht zu haben wie Onkel Dusan, von dem nur berichtet wird, dass er eine Ustascha-Uniform trägt. Auch wenn man Feric zugutehalten möchte, dass er sich fernhält von dem in ganz Ex-Jugoslawien verbreiteten Ritual, nur die eigenen Opfer zu zählen, so lässt dieses Schweigen doch stutzen. Vermutlich folgt er einfach der Familienüberlieferung: Mein Opa war nicht böse, die Zeiten waren es. Seinem Roman zieht das die Zähne.
Sie wachsen erst nach, als der Erzähler namens Zoran in ungewöhnlich starke Pubertätsstürme gerät. Der der Mutter zärtlich zugetane Junge malt sich sadistisch-orientalisierende Sexualphantasien mit einer Klassenkameradin aus, Gewissensbisse inklusive. Dazu gesellt sich reichlich Gewalt: Der zuckerkranke Vater droht noch nach der Amputation eines Beines jedem, der ihm in die Quere kommt, höchst glaubwürdig Vergewaltigung und Tod an. Bei den Drohungen bleibt es dann - der Vater sammelt ja auch Waffen aller Art, ohne sie je zu benutzen. Der Sohn sublimiert ähnlich. Er schreibt Geschichten und genießt, wie entsetzt seine braven Mitschülerinnen auf sie reagieren: "Ich sehe hier nichts außer Perversion", "Gotteslästerung ist das Einzige, was dieser Feric versteht", "Der gehört isoliert . . . zurück in die Klapsmühle!"
Der Schriftsteller Zoran Feric hat seine Expeditionen ins kroatische Gegenwartsreich der Triebe und Hiebe fortgesetzt und einige schön schrille und skurrile Bücher vorgelegt. Sein neuer Roman aber verspricht mehr, als er halten kann. JÖRG PLATH
Zoran Feric: "Die Wanderbühne". Roman.
Aus dem Kroatischen
von Klaus Detlef Olof. Folio Verlag, Wien/Bozen 2023. 496 S., geb., 27,- Euro.
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