Vor dem Gesetz sind alle gleich. Doch was geschieht, wenn geltendes Recht nicht mehr für jeden gilt und nicht ausnahmslos greift? Wenn gefällte Urteile nicht vollzogen werden? Wenn der Staat auf neue Entwicklungen in Zeiten von Digitalisierung und Globalisierung nicht angemessen reagiert? Wenn die Balance zwischen Freiheit und Sicherheit zunehmend zu Lasten der Freiheit verloren geht? Wenn zwar der Sozialstaat weiter ausgebaut wird, die Kernaufgaben des Rechtsstaates aber vernachlässigt werden? All dies ist heute in Deutschland zu beobachten und weist auf eine besorgniserregende Entwicklung hin. Der ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts warnt eindringlich vor einer Erosion des Rechtsstaates, insbesondere vor einer Schwächung der Judikative.
Süddeutsche Zeitung | Besprechung von 09.12.2019Der Aufklärer
Hans-Jürgen Papier war Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Seit seinem Ausscheiden tingelte er als Schlagzeilenlieferant durchs Land.
In seinem „ersten populären“ Buch präzisiert der Jurist nun seine Ansichten. Zum Vorschein kommt ein energischer Kämpfer für die Freiheitsrechte
VON ROLF LAMPRECHT
Solche Verwandlung sieht man nicht oft: Wie ein Konservativer, der kein Reizthema auslässt, sein verrutschtes Image wieder geraderückt. Hans-Jürgen Papier, nach der legendären Jutta Limbach und vor dem dominanten Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichts, präsentiert sein Alterswerk. Er warnt davor, „dass der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ und zeichnet dabei – nolens, volens – ein Selbstporträt.
Das war auch vonnöten, denn der Spitzenjurist, der einst mit einem CSU-Ticket nach Karlsruhe kam, hat sich als Pensionär kopfüber in den politischen Nahkampf gestürzt. Nun redet er frisch von der Leber weg, worüber sich Journalisten freuen und Kollegen die Nase rümpfen. Weil sie fürchten, dass die Reputation der Zunft leidet. Richterliche Zurückhaltung gilt als hohes Gut. Zu seinen Gunsten kann man unterstellen, dass er in seiner aktiven Zeit das Neutralitätsgebot gewahrt hat; doch im Ruhestand hält er sich nicht mehr daran. Er bezieht Stellung und liefert Schlagzeilen: „Ex-Verfassungsgerichtspräsident rechnet mit Flüchtlingspolitik ab“, warnt vor einer „Öko-Diktatur“ und kritisiert den „SPD-Mitglieder-Entscheid“ vor Eintritt in die Koalition.
Interview-Ausschnitte zu diesen und manch anderen Brennpunkten bescheren ihm viel Beifall, auch von der falschen Seite. Mag sein, dass ihn der irritiert hat. In dem Buch, von dem hier die Rede sein soll, stellt er Wesentliches klar. Er vollzieht keine Kehrtwende, aber er erteilt der Inanspruchnahme als Kronzeuge für dubiose Positionen eine klare Absage. Kurzum: Er präzisiert seine Ansichten – als Demokrat und als Verfassungspatriot, der die Freiheitsrechte energischer vertritt als mancher Linke.
Papier ist besorgt wegen der AfD, „die legitim gewählte Volksvertreter anderer Parteien als ‚Volksverräter‘ verunglimpft“. Ihn schockiert, wenn Juden von Amts wegen abgeraten wird, „in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen“, und dass „Synagogen unter ständigem Polizeischutz stehen müssen“. Seine Positionen sind glasklar. Passen aber in kein Schubfach. Für ihn ist „die Freiheit von staatlicher Bevormundung“ ein zentrales Motiv der Demokratie. In der Tendenz, „immer mehr Freiheit für die Illusion der Sicherheit zu opfern“, sieht er eine Ursache für „die Erosion des Rechtsstaates“. Er wirbt für Maß und Mitte: „Wenn der Staat sich anschickt, seinen Bürgerinnen und Bürgern jedwedes Lebensrisiko abzunehmen, dann wird er selbst zum Risiko.“ Papiers Fazit: „Mehr Gesetze bedeuten nicht automatisch mehr Recht und schon gar nicht mehr Gerechtigkeit.“
Bei der „Asyl- und Migrationspolitik“ freilich lässt er nicht mit sich handeln. Er findet, hier werde „das geltende Recht unterlaufen“. Warum? Weil zu den Schutzbedürfnissen des Bürgers auch der Schutz durch Grenzen gehöre. Humanität könne nur „im Rahmen von Verfassung, Gesetz und Recht praktiziert werden, nicht aber gegen sie“. Er steht da nicht allein. Auch andere Staatsrechtler rügen: Für die spontane Entscheidung („Wir schaffen das“) und alles, was folgte, fehle eine gesetzliche Ermächtigung, die selbst im Nachhinein nicht eingeholt worden sei.
Allmählich schälen sich Papiers Positionen heraus. Für ihn haben die Freiheits-rechte der Bürger absoluten Vorrang. Er findet: Je weniger staatliche Eingriffe, desto besser. Verfassungsgehorsam sei unabdingbar. Er nimmt ersichtlich in Kauf, dass der Grat zwischen einem wehrhaften und einem liberalen Staat schmal ist. Papier will der „Terrorgefahr wirksam entgegentreten“, dies „aber nur mit den Mitteln des Rechtsstaates“.
Der Bürger verdankt ihm ein Wechsel-bad der Gefühle. Er sagt, die Menschen-würde sei „die Königin der Verfassungs-normen“, um dann fortzufahren: Sie gelte, „egal, ob es sich um Terroristen, Diktatoren, Mörder oder unbescholtene Bürger handelt“. Deshalb werde „in Deutschland nicht gefoltert“ und deshalb sei die Todesstrafe abgeschafft worden.
Dieser Fortschritt ist schmerzhaft erarbeitet. Papier: „Nach Rassismus, Juden-hass, Euthanasie, Eugenik und anderen Formen der Diskriminierung“ habe das Grundgesetz die Abwehr konkretisiert. Verständlich, wenn ihn die „besorgniserregende Umfrage“ an einer Uni umtreibt. Da sprach sich jeder dritte von mehr als 3000 Erlanger Jurastudenten für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus, die Hälfte würde unter bestimmten Umständen auch die Folter erlauben. „Vergeltung und Sicherheitsdenken“, heißt es, „verdrängen andere Rechtsgüter.“
Die Widersprüche in der Politik stiften Verwirrung. Papier und seine Mitstreiter etwa erwarten Treue zur Verfassung und beschwören zugleich Untergangsszenarien, denen mit den Instrumenten eben dieser Verfassung nicht beizukommen ist. Papier stellt unter „Gefährliche Entwicklungen“ resignierend fest, dass Deutschland zum „Gang Land“ verkommen ist. Im Dickicht der Großstädte entstünden „Parallelwelten“ mit eigenen Gesetzen. Tatsächlich existieren – wie in Paris, Rom, London und in den Ballungszentren der USA – auch hierzulande „No-go-Areas“. Papier zitiert Polizeiberichte. Danach gab es etwa in Berlin zwölf arabische Großfamilien, die den Drogen- und Menschenhandel kontrollierten, Schutzgelder erpressten und ganz nebenbei Hartz IV abholten, mit einem Auto, das „fast so teuer war wie ein Einfamilienhaus“. Papier resümiert, theoretisch dürfte es in einen Rechtsstaat „keine rechtsfreien Räume geben, doch in der Praxis existieren sie“.
Das ist die Kehrseite der Freizügigkeit. Flucht und Migration hätten die Gesellschaft „bunter“ gemacht, „im Positiven wie im Negativen“. Ausländer haben Anspruch auf Gewissens- und Religionsfreiheit. „Unsere Verfassung kennt nur Grundrechte, keine Grundpflichten, weder für Deutsche noch für Ausländer.“ Alle hätten nur eine Pflicht: „Die Gesetze und das Gewaltmonopol des Staates zu achten.“
Was immer Papier von sich gibt, beschreibt die Denkfiguren des Verfassungsrechts, namentlich die Vorzüge des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Er hält die Flüchtlingskrise für „eine Bankrotterklärung des Rechtsstaates“. Sie habe bei vielen „den Eindruck hinterlassen, das Recht sei kein geeignetes Instrument, um Sicherheit und Ordnung in diesem Land zu garantieren“. Er nimmt Horst Seehofer gegen den Vorwurf der „Rechthaberei“ in Schutz, hält aber dessen Verdikt „Herrschaft des Unrechts“ für überzogen. Die „politische Fehlsteuerung“ dürfe nicht auf dem Rücken der Zuwanderer ausgetragen werden und „Hass oder Feindschaft“ auslösen.
Diese Abgewogenheit erschließt sich automatisch, wenn Papier die Karlsruher Rechtsprechung Revue passieren lässt, das eine oder andere Urteil in die Ahnengalerie des Verfassungsrechts einreiht, etwa das Volkszählungsurteil von 1983, das er als „Magna Charta des deutschen Datenschutzrechts“ qualifiziert. Daraus entwickelte sich „das Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, als „besondere Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“, wie Papier erläutert.
Er notiert, dies sei sein „erstes populäres Sachbuch“, das „sich an eine breite Öffentlichkeit wendet“. Es ist ein didaktisches Buch geworden. Der Leser wird, quasi per Ganzheitsmethode, mit dem Verfassungsrecht vertraut gemacht. Er lernt, wie Grundrechte ausgelegt werden, was passiert, wenn sie miteinander kollidieren und dass Karlsruhe das letzte Wort hat.
Papier macht aus seiner Meinung keinen Hehl, verschweigt aber nie, dass es Gegenmeinungen gibt. Das lässt erahnen, wie Urteile im intellektuellen Wettstreit zustande kommen. Die Unschärfe der Präsentation wird auf diese Weise zu einer lässlichen Sünde. Wenn der Verlag ihn als „Deutschlands höchsten Richter a. D.“ vorstellt, bewegt er sich im Einklang mit dem üblichen saloppen Kürzel der Medien. Der Terminus täuscht. Der „höchste“ Richter ist Primus inter Pares. Er verfügt in dem Senat, dem er vorsitzt, bei acht Stimmen über eine, die im Ruhestand zu seiner höchst privaten wird.
Folglich ist der Untertitel Papier „klagt an“ korrekturbedürftig, er „klärt auf“ – lehrreich und unterhaltsam. Das macht sein Buch lesenswert.
Rolf Lamprecht ist Autor des Buches „Ich gehe bis nach Karlsruhe – Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts“ (DVA, 2011.)
Es gibt nur eine Pflicht für alle:
die Gesetze zu achten und das
Gewaltmonopol des Staates
Hans-Jürgen Papier:
Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a. D. klagt an.
Heyne-Verlag, München 2019. 272 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 17,99 Euro.
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Jegliche Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exklusiv über www.sz-content.de
Hans-Jürgen Papier war Präsident des Bundesverfassungsgerichts. Seit seinem Ausscheiden tingelte er als Schlagzeilenlieferant durchs Land.
In seinem „ersten populären“ Buch präzisiert der Jurist nun seine Ansichten. Zum Vorschein kommt ein energischer Kämpfer für die Freiheitsrechte
VON ROLF LAMPRECHT
Solche Verwandlung sieht man nicht oft: Wie ein Konservativer, der kein Reizthema auslässt, sein verrutschtes Image wieder geraderückt. Hans-Jürgen Papier, nach der legendären Jutta Limbach und vor dem dominanten Andreas Voßkuhle Präsident des Bundesverfassungsgerichts, präsentiert sein Alterswerk. Er warnt davor, „dass der Rechtsstaat ausgehöhlt wird“ und zeichnet dabei – nolens, volens – ein Selbstporträt.
Das war auch vonnöten, denn der Spitzenjurist, der einst mit einem CSU-Ticket nach Karlsruhe kam, hat sich als Pensionär kopfüber in den politischen Nahkampf gestürzt. Nun redet er frisch von der Leber weg, worüber sich Journalisten freuen und Kollegen die Nase rümpfen. Weil sie fürchten, dass die Reputation der Zunft leidet. Richterliche Zurückhaltung gilt als hohes Gut. Zu seinen Gunsten kann man unterstellen, dass er in seiner aktiven Zeit das Neutralitätsgebot gewahrt hat; doch im Ruhestand hält er sich nicht mehr daran. Er bezieht Stellung und liefert Schlagzeilen: „Ex-Verfassungsgerichtspräsident rechnet mit Flüchtlingspolitik ab“, warnt vor einer „Öko-Diktatur“ und kritisiert den „SPD-Mitglieder-Entscheid“ vor Eintritt in die Koalition.
Interview-Ausschnitte zu diesen und manch anderen Brennpunkten bescheren ihm viel Beifall, auch von der falschen Seite. Mag sein, dass ihn der irritiert hat. In dem Buch, von dem hier die Rede sein soll, stellt er Wesentliches klar. Er vollzieht keine Kehrtwende, aber er erteilt der Inanspruchnahme als Kronzeuge für dubiose Positionen eine klare Absage. Kurzum: Er präzisiert seine Ansichten – als Demokrat und als Verfassungspatriot, der die Freiheitsrechte energischer vertritt als mancher Linke.
Papier ist besorgt wegen der AfD, „die legitim gewählte Volksvertreter anderer Parteien als ‚Volksverräter‘ verunglimpft“. Ihn schockiert, wenn Juden von Amts wegen abgeraten wird, „in der Öffentlichkeit eine Kippa zu tragen“, und dass „Synagogen unter ständigem Polizeischutz stehen müssen“. Seine Positionen sind glasklar. Passen aber in kein Schubfach. Für ihn ist „die Freiheit von staatlicher Bevormundung“ ein zentrales Motiv der Demokratie. In der Tendenz, „immer mehr Freiheit für die Illusion der Sicherheit zu opfern“, sieht er eine Ursache für „die Erosion des Rechtsstaates“. Er wirbt für Maß und Mitte: „Wenn der Staat sich anschickt, seinen Bürgerinnen und Bürgern jedwedes Lebensrisiko abzunehmen, dann wird er selbst zum Risiko.“ Papiers Fazit: „Mehr Gesetze bedeuten nicht automatisch mehr Recht und schon gar nicht mehr Gerechtigkeit.“
Bei der „Asyl- und Migrationspolitik“ freilich lässt er nicht mit sich handeln. Er findet, hier werde „das geltende Recht unterlaufen“. Warum? Weil zu den Schutzbedürfnissen des Bürgers auch der Schutz durch Grenzen gehöre. Humanität könne nur „im Rahmen von Verfassung, Gesetz und Recht praktiziert werden, nicht aber gegen sie“. Er steht da nicht allein. Auch andere Staatsrechtler rügen: Für die spontane Entscheidung („Wir schaffen das“) und alles, was folgte, fehle eine gesetzliche Ermächtigung, die selbst im Nachhinein nicht eingeholt worden sei.
Allmählich schälen sich Papiers Positionen heraus. Für ihn haben die Freiheits-rechte der Bürger absoluten Vorrang. Er findet: Je weniger staatliche Eingriffe, desto besser. Verfassungsgehorsam sei unabdingbar. Er nimmt ersichtlich in Kauf, dass der Grat zwischen einem wehrhaften und einem liberalen Staat schmal ist. Papier will der „Terrorgefahr wirksam entgegentreten“, dies „aber nur mit den Mitteln des Rechtsstaates“.
Der Bürger verdankt ihm ein Wechsel-bad der Gefühle. Er sagt, die Menschen-würde sei „die Königin der Verfassungs-normen“, um dann fortzufahren: Sie gelte, „egal, ob es sich um Terroristen, Diktatoren, Mörder oder unbescholtene Bürger handelt“. Deshalb werde „in Deutschland nicht gefoltert“ und deshalb sei die Todesstrafe abgeschafft worden.
Dieser Fortschritt ist schmerzhaft erarbeitet. Papier: „Nach Rassismus, Juden-hass, Euthanasie, Eugenik und anderen Formen der Diskriminierung“ habe das Grundgesetz die Abwehr konkretisiert. Verständlich, wenn ihn die „besorgniserregende Umfrage“ an einer Uni umtreibt. Da sprach sich jeder dritte von mehr als 3000 Erlanger Jurastudenten für die Wiedereinführung der Todesstrafe aus, die Hälfte würde unter bestimmten Umständen auch die Folter erlauben. „Vergeltung und Sicherheitsdenken“, heißt es, „verdrängen andere Rechtsgüter.“
Die Widersprüche in der Politik stiften Verwirrung. Papier und seine Mitstreiter etwa erwarten Treue zur Verfassung und beschwören zugleich Untergangsszenarien, denen mit den Instrumenten eben dieser Verfassung nicht beizukommen ist. Papier stellt unter „Gefährliche Entwicklungen“ resignierend fest, dass Deutschland zum „Gang Land“ verkommen ist. Im Dickicht der Großstädte entstünden „Parallelwelten“ mit eigenen Gesetzen. Tatsächlich existieren – wie in Paris, Rom, London und in den Ballungszentren der USA – auch hierzulande „No-go-Areas“. Papier zitiert Polizeiberichte. Danach gab es etwa in Berlin zwölf arabische Großfamilien, die den Drogen- und Menschenhandel kontrollierten, Schutzgelder erpressten und ganz nebenbei Hartz IV abholten, mit einem Auto, das „fast so teuer war wie ein Einfamilienhaus“. Papier resümiert, theoretisch dürfte es in einen Rechtsstaat „keine rechtsfreien Räume geben, doch in der Praxis existieren sie“.
Das ist die Kehrseite der Freizügigkeit. Flucht und Migration hätten die Gesellschaft „bunter“ gemacht, „im Positiven wie im Negativen“. Ausländer haben Anspruch auf Gewissens- und Religionsfreiheit. „Unsere Verfassung kennt nur Grundrechte, keine Grundpflichten, weder für Deutsche noch für Ausländer.“ Alle hätten nur eine Pflicht: „Die Gesetze und das Gewaltmonopol des Staates zu achten.“
Was immer Papier von sich gibt, beschreibt die Denkfiguren des Verfassungsrechts, namentlich die Vorzüge des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Er hält die Flüchtlingskrise für „eine Bankrotterklärung des Rechtsstaates“. Sie habe bei vielen „den Eindruck hinterlassen, das Recht sei kein geeignetes Instrument, um Sicherheit und Ordnung in diesem Land zu garantieren“. Er nimmt Horst Seehofer gegen den Vorwurf der „Rechthaberei“ in Schutz, hält aber dessen Verdikt „Herrschaft des Unrechts“ für überzogen. Die „politische Fehlsteuerung“ dürfe nicht auf dem Rücken der Zuwanderer ausgetragen werden und „Hass oder Feindschaft“ auslösen.
Diese Abgewogenheit erschließt sich automatisch, wenn Papier die Karlsruher Rechtsprechung Revue passieren lässt, das eine oder andere Urteil in die Ahnengalerie des Verfassungsrechts einreiht, etwa das Volkszählungsurteil von 1983, das er als „Magna Charta des deutschen Datenschutzrechts“ qualifiziert. Daraus entwickelte sich „das Recht auf informationelle Selbstbestimmung“, als „besondere Ausprägung des Rechts auf freie Entfaltung der Persönlichkeit“, wie Papier erläutert.
Er notiert, dies sei sein „erstes populäres Sachbuch“, das „sich an eine breite Öffentlichkeit wendet“. Es ist ein didaktisches Buch geworden. Der Leser wird, quasi per Ganzheitsmethode, mit dem Verfassungsrecht vertraut gemacht. Er lernt, wie Grundrechte ausgelegt werden, was passiert, wenn sie miteinander kollidieren und dass Karlsruhe das letzte Wort hat.
Papier macht aus seiner Meinung keinen Hehl, verschweigt aber nie, dass es Gegenmeinungen gibt. Das lässt erahnen, wie Urteile im intellektuellen Wettstreit zustande kommen. Die Unschärfe der Präsentation wird auf diese Weise zu einer lässlichen Sünde. Wenn der Verlag ihn als „Deutschlands höchsten Richter a. D.“ vorstellt, bewegt er sich im Einklang mit dem üblichen saloppen Kürzel der Medien. Der Terminus täuscht. Der „höchste“ Richter ist Primus inter Pares. Er verfügt in dem Senat, dem er vorsitzt, bei acht Stimmen über eine, die im Ruhestand zu seiner höchst privaten wird.
Folglich ist der Untertitel Papier „klagt an“ korrekturbedürftig, er „klärt auf“ – lehrreich und unterhaltsam. Das macht sein Buch lesenswert.
Rolf Lamprecht ist Autor des Buches „Ich gehe bis nach Karlsruhe – Eine Geschichte des Bundesverfassungsgerichts“ (DVA, 2011.)
Es gibt nur eine Pflicht für alle:
die Gesetze zu achten und das
Gewaltmonopol des Staates
Hans-Jürgen Papier:
Die Warnung. Wie der Rechtsstaat ausgehöhlt wird. Deutschlands höchster Richter a. D. klagt an.
Heyne-Verlag, München 2019. 272 Seiten, 22 Euro.
E-Book: 17,99 Euro.
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»Er (Papier) präzisiert seine Ansichten - als Demokrat und als Verfassungspatriot, der die Freiheitsrechte energischer vertritt als mancher Linke.« Süddeutsche Zeitung, Rolf Lamprecht