Krimitipp Oktober: Alex Beer, „Die weiße Stunde“ Wien im April 1923. Marita Hochmeister gehört zu den besseren Kreisen, residiert in einer 11-Zimmer-Wohnung im edlen Heinrichshof mit Blick auf den Ring. Das war nicht immer so. Früher lebte sie in der Gosse. Gerade noch war sie die Hauptperson einer Feier, die sie selbst ausgerichtet hatte. Champagner, viele Gäste aus der Wiener Gesellschaft. Nun sitzt sie allein an ihrem Abschminktisch und hat ein ungutes Gefühl. Das Gefühl, als wäre sie nicht allein. Kurz darauf ist sie tot. Erschlagen. Die Gestalt, die ihr auflauerte, hatte es nicht auf ihr Geld abgesehen. Und auch ein Mord aus sexuellen Motiven scheint ausgeschlossen. Warum also musste Marita Hochmeister sterben?
Das soll Kriminalinspektor August Emmerich herausfinden. Er und sein Assistent Ferdinand Winter sind die erfolgreichsten Ermittler in der Abteilung „Leib und Leben“ – auch wenn Emmerich von manchen als Schande für diese Einheit bezeichnet wird. Denn Emmerich ist, vorsichtig formuliert, eigenwillig. Regeln betrachtet er oft genug nur als unverbindliche Empfehlungen, Autoritäten scheren ihn nicht, und mit seiner direkten Art macht er sich immer wieder Feinde. Für Emmerich zählt das Ergebnis: die Aufklärung seiner Fälle. Und Kämpfen musste Emmerich immer schon. Er wuchs im Waisenhaus auf, zusammen mit Veit Kolja. Dessen Karriere hatte als zwielichtiger Schwarzhändler begonnen, nun sitzt Kolja für die Christlichsozialen im Parlament, und Geld spielt für ihn keine Rolle. Ganz im Gegensatz zu Emmerich.
Aber wer könnte etwas gegen die schöne Marita Hochmeister gehabt haben? Nun, schnell wird klar: Da gibt es so einige. Die Dame hatte diverse Verehrer aus der besseren Gesellschaft, verheiratete Männer. Zuletzt, so das Gerücht, hatte sich Hochmeister verspekuliert und verschuldet. Ihre Idee, wieder zu Geld zu kommen, scheint ihr nicht gut bekommen zu sein. Aber natürlich weiß auch Emmerich: Vieles ist nicht so, wie es auf den ersten Blick scheint. Und so tappen er und Winter anfangs ziemlich im Dunkeln. Spuren verlaufen im Nichts. Und, der Albtraum jedes Ermittlers: Ein zweiter Mord geschieht. Wieder eine junge Frau, diesmal eine Ballerina, ein großes Talent.
Schon nach dem ersten Mord taucht Heinrich Wertheim, ehemaliger Leiter von Emmerichs Abteilung, auf dem Präsidium auf. Laut Oberinspektor Gonska, Emmerichs Chef, ist der „einer der besten Kriminalisten, die diese Stadt je gesehen hat“. Wertheim will sich in den Fall einklinken, und Emmerich erhält die Anweisung, „kooperativ und höflich“ zu sein. Aber selbst Gonska weiß, dass diese Begriffe für Emmerich Fremdwörter sind. Der ist höchst misstrauisch: Warum ist Wertheim überhaupt hier? Doch der scheint tatsächlich wertvolle Hinweise geben zu können. Denn vor zehn Jahren geschahen in Wien Frauenmorde mit ähnlichem Tathergang; den Täter konnte Wertheim nicht dingfest machen, obwohl er ihn zu kennen glaubte. Schlägt der Täter von damals nun wieder zu?
Derweil ist die Stimmung in der Stadt desolat. Es gibt viele Kriegsversehrte, ohne Obdach. So viel Hunger und Elend. Und all diese Not machen sich die Hakenkreuzler zunutze. Sie schüren Hass, hetzen gegen die Juden und die Regierung. In München schwingt ein gewisser Adolf Hitler Reden. Emmerichs alter Bekannter Veit Kolja fühlt sich von den Hakenkreuzlern bedroht und ahnt: „Schwarz ist nicht dunkel genug für das, was da auf uns zukommt.“ Emmerich sieht die Lage nicht ganz so dramatisch und will sich auf die Frauenmorde konzentrieren. Denn die Vermutung von Heinrich Wertheim, ein Täter könnte zurückgekehrt sein, scheint durchaus nicht abwegig. Aber so ganz fügen sich all die Fäden, die Emmerich und Winter in Händen halten, nicht zu einem überzeugenden Ganzen. Irgendetwas stimmt hier nicht. Ganz und gar nicht. Kann wirklich sein, was Emmerich vermutet? Denn das wäre unfassbar ...
Für Wien-Liebhaber ist diese Reihe ohnehin ein absolutes Muss. Alle anderen Krimifans werden den eigenwilligen August Emmerich ins Herz schließen – so sie dies nicht schon längst getan haben, denn Alex Beer lässt Emmerich nun schon zum sechsten Mal ermitteln. Die Kriminalfälle sind inspirierend erzählt, die Mischung aus Zeitgeschichte(n), Spannung und wunderbar fein gezeichneten Figuren überzeugt. Gut, dass Emmerichs siebter Fall bereits in Planung ist ...
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