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Perlentaucher-Notiz zur Dlf Kultur-Rezension
© Perlentaucher Medien GmbH
Lauren Groff hat einen neuen Roman geschrieben. Und zwar neunmal. Sie sagt: Mein Schreibprozess ist beknackt. Ein Porträt.
Von Susanne Romanowski
9 Uhr 34 an der Ostküste, Zug von Connecticut nach New York: Lauren Groff entschuldigt sich für die Verzögerung, für ihre Müdigkeit nach drei Wochen Buchtour. Verzögerung? Es ist doch erst vier nach halb. Müdigkeit? Sie gestikuliert, lacht, steckt an mit ihrer Freude: über Berlin und den Wannsee, an dem sie mit ihrer Familie den Frühling verbrachte und schrieb. Über Bücher, von denen sie im Jahr Hunderte liest und hört - im Gegensatz zu Podcasts, "zu viel Gequatsche". Über den perfekten Porzellan-Teint der Künstlerin Miranda July, die sie kürzlich traf.
Zu Hause in Florida, an einem gewöhnlichen Arbeitstag, würde sie um diese Uhrzeit mit niemandem sprechen. Nicht mit der Presse, nicht mit ihrem Mann oder ihren zwei Söhnen: "Mein Mann und ich haben einen Vertrag, dass ich meine Familie morgens nicht sehen muss. Er kümmert sich um alles, nachmittags werde ich zur Mutter." Was davor passiert? Aufstehen um fünf Uhr, Kaffee machen, Sport machen, denn "ich bin wie ein Tier, ich muss mich bewegen". Dann vier bis acht Stunden für ihre Arbeit: das Schreiben - und Scheitern.
Denn egal, ob es um Bücher, Berlin oder Miranda July geht: Von keinem Thema schwärmt Groff so wie vom Scheitern: "Es lehrt mich so viel über das, was ich kann und was noch nicht. Es zeigt mir meine blinden Flecken auf, ohne Scham, fast schon mit Freude." Ihr ganzer Arbeitsprozess, sagt sie, bestehe aus "absichtlichem Scheitern", und legt damit nah: Wer das Scheitern auch nur ansatzweise unter Kontrolle hat, kennt sich mit dem Gewinnen gut aus.
Groffs Debüt "Die Monster von Templeton" wurde noch vor seiner Veröffentlichung von Stephen King gefeiert, ihr Roman "Licht und Zorn" war 2015 Barack Obamas Lieblingsbuch. Auf den Bücher-Bestenlisten der großen US-amerikanischen Medien findet man sie so routiniert wie morgens am Schreibtisch. Dreimal war sie Finalistin für den National Book Award. Fünf Romane und zwei Erzählbände hat sie bisher veröffentlicht. Wenn jemand wie Groff das Versagen liebt, klingt das zunächst ein bisschen nach der Klassenbesten, die sich vor der Rückgabe der Matheklausur sorgt, dass es diesmal nur für ein "sehr gut minus" gereicht haben könnte.
Doch Groff ist kein Wunderkind, ihr Loblied auf die Niederlage höchstens ein bisschen Koketterie. Scheitern und Schreiben sind anstrengende körperliche Vorgänge, auch, weil sie ihre Romanentwürfe per Hand anfertigt. Die sie wegpackt, nie wieder anschaut - um dann neu zu beginnen und das Beste daraus zu destillieren. "Die Schrift am Computer sieht zu sehr aus wie im gedruckten Buch, ich würde Tage über einem Satz brüten. Es geht nur per Hand", erklärt sie.
Was andere Schreibende in Panik versetzen würde, nimmt Groff sportlich. Im College ruderte sie, war immer athletisch: "Als Sportlerin verstehst du, dass du fast nur scheiterst, deine Ziele nicht erreichst. Aber das ist okay, das ist Training. Das ist nicht der Wettkampf." Ob sie nicht doch manchmal versucht sei, sich die Arbeit mit einem Blick in frühere Entwürfe zu erleichtern? "Geht nicht", sagt sie, "ich kann meine eigene Handschrift nicht lesen. Mein Schreibprozess ist beknackt."
Die erste Version der Neuerscheinung "Die weite Wildnis" habe sie in einem Monat geschrieben. Und dann noch achtmal. Der Roman spielt zu Beginn des Jahres 1610 in der britischen Kolonie Jamestown, später "starving time" genannt. Die Zeit des Verhungerns also, begleitet von Krankheiten, Gewalt und einer Belagerung der Ureinwohner. Klickt man sich durch Erklärvideos auf Youtube, kommen deren Perspektiven nicht vor. Stattdessen liefern darin weiße Männer in wollenen Umhängen Kolonial-Cosplay und historisch verbriefte Schauergeschichten: Mindestens eine Vierzehnjährige sollen die Neuankömmlinge gegessen haben. Insgesamt starben in jenem Winter zwei von drei Bewohnern. Kein Wunder also, dass die Protagonistin gleich zu Beginn aus Jamestown flieht, in den dichten Schnee, in den tiefen Wald.
Das Mädchen ist ein Teenager mit vielen Namen. Als Tochter einer Prostituierten nannte man sie Lamentatio und dann, im Haus ihrer schrecklichen Dienstherrin, "Dienstmagd und Dummkopf und Kind und Zett, war sie doch stets die Kleinste und Geringste und Letzte, die genannt wurde, der seltsamste aller Buchstaben im Alphabet".
Alle Namen lässt sie zurück, auch die Sterbenden und die Toten der Kolonie. Darunter ist auch die 14-jährige Bess, behindert und vom Mädchen heiß geliebt. Nur den Hunger nimmt sie mit. Essen, trinken, warm und sicher bleiben - diese Themen dominieren fortan. Man denkt an Marlen Haushofers großen Bergroman "Die Wand", weil auch dort der alltägliche Überlebenskampf detailliert geschildert wird. Weil er in beiden Romanen über Hunderte Seiten trägt. Groffs Sprache spiegelt die Bewegung des Mädchens. Sie ist sinnlich, rhythmisch, wenn auch manchmal auf der Grenze zwischen Erhabenheit und Kalenderspruch. Es ist die Sprache einer allwissenden Erzählinstanz, die für kurze Passagen in die Köpfe der wenigen schaltet, die wie das Mädchen durch den Wald streifen.
Auf 283 Seiten spricht das Mädchen nicht, erinnert sich bloß an das Leben in England, an die höllische Überfahrt und ihre erste, einzige Liebe. Trotzdem versteht Groff den Roman nicht als Text über Einsamkeit, denn "die Protagonistin hat eine blühende innere Welt. Die Gemeinschaft, in der sie gelebt hat, trägt sie durch die Wildnis, im guten und im schlechten Sinn."
Ganz allein ist sie ohnehin nicht, "trage ich doch stets meinen Gott im Herzen". Dieser Gott verändert sich im Laufe ihres Laufens, wandert von der Bibel in die Baumkronen, vom Unterricht in die drastische, schmerzhafte Wildnis. Einmal entdeckt das Mädchen in einer Baumhöhle fünf schlafende Eichhörnchenjunge, die erste Zartheit seit Wochen - und spießt sie auf, grillt und isst sie. Es ist der Kontrast zwischen Kindergebeten und Pragmatismus, die der Figur Tiefe verleihen.
Das gelingt nicht immer. Szenen über die Ungerechtigkeiten der kolonialen Herrschaft kommen allzu plakativ daher. Nicht unpassend für eine Jugendliche, doch wirken die indigenen Powhatan als Projektionsfläche für einen Sinneswandel unterkomplex. An der Stelle wäre mehr Interaktion wünschenswert gewesen. Ganz anders die Naturbetrachtungen: Als das Mädchen beginnt, das Leben um sich zu benennen - die Frühblüher werden zum "Mädchenhals", eine Fliege wird zum "Höllendotz" -, möchte man sich auf der Stelle in die Wildnis stürzen, und sei es in der Mittagspause.
Groff nennt Ralph Waldo Emersons Essay "Natur" als Inspiration und seine Metapher des Menschen als "durchscheinendes Auge": die Idee, sich in den Wäldern als Teil der Materie zu begreifen, ohne jede Trennung. Das sind die Momente, in denen auch die Autorin Transzendenz erfährt: "Wenn ich sechs Stunden allein durch das Unterholz wandere, spüre ich, wie die Grenzen der Welt sich auflösen." Ein Gefühl, das die Religion ihr schon lange nicht mehr gibt. Sie wuchs streng protestantisch auf, doch schon als Jugendliche tauschte sie das heilige Buch auf ihrem Nachttisch gegen Romane aus.
Jetzt liegt die Bibel wieder auf dem Schreibtisch. Der Vorgänger des aktuellen Romans, "Matrix", spielte in einem katholischen Nonnenkloster im mittelalterlichen Frankreich und drehte sich ebenfalls um eine junge Frau. Beide Bücher sprechen zueinander, auch, weil sie zur gleichen Zeit entstanden. Groff schreibt jederzeit an drei bis fünf Projekten gleichzeitig, "damit ich jeden Morgen aufstehen und mich an den Entwurf setzen kann, der mich am stärksten ruft. Ich will meine Arbeit mit Spaß angehen können und ich hoffe, meine Leser merken das." Man merkt es. Während die Protagonistin in "Matrix" allzu unfehlbar erschien, ihre Entwicklung zäh, fiebert man mit dem kranken, getriebenen Mädchen bis zum Schluss mit. Obwohl Lauren Groff an all ihren Büchern hängt, ist dieses ihr liebstes, sagt sie.
Zu "Matrix" und "Die weite Wildnis" soll sich noch ein dritter Roman gesellen. Geplant ist ein Triptychon über das, wie die Autorin sagt, "pervertierte Verhältnis von Religion, Mensch und Natur über eine Spanne von knapp tausend Jahren". Ein Verhältnis, das sie auch in ihrem Staat Florida beobachtet, mit dem ultranationalistischen Gouverneur Ron DeSantis an der Spitze, der Präsident werden will. Groff nennt ihn einen "ekelhaften und ungeheuerlichen Mann". Laut PEN America sind derzeit in keinem Bundesstaat mehr Bücher aus Klassenräumen und Schulbibliotheken verbannt als in Florida. Unter den 1406 Büchern sind Sachbücher über Geschlecht und Rassismus, Romane von Toni Morrison, James Baldwin, Margaret Atwood - und "Licht und Zorn" von Lauren Groff. Warum? Sie vermutet wegen Sexszenen und der Schilderung einer Abtreibung.
Der Horror eines Amerikas mit Trump brachte sie erst dazu, ihre Romane in der Vergangenheit anzusiedeln. Zu sehr schmerzte die Gegenwart. Nun steht das dritte Buch an und bereitet ihr schlaflose Nächte. Denn es soll im Hier und Jetzt spielen. Am Wannsee schrieb sie zwei Entwürfe, Ende nicht in Sicht. Was, wenn es nichts wird? Lauren Groff lacht: "Dann wird es eben ein Diptychon." Und dann wird es andere Bücher geben, an denen sie sicher schon schreibt.
Lauren Groff, "Die weite Wildnis". Aus dem Englischen von Stefanie Jacobs. Claassen Verlag, 288 Seiten, 25 Euro
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