Vor dem großen Knall: die letzte Satire der Sowjetunion. Skurril, skurriler, Sowjetunion: Andrej Kurkows Blick durch die satirische Brille In der Nachkriegs-Sowjetunion wandert der junge Matrose Charitonow mit einer endlos langen Bickford-Zündschnur in der Tasche westwärts durch die Taiga – am anderen Ende der Schnur: ein gestrandeter Kahn voller Dynamit. Als wäre dieses Abenteuer nicht schon surreal genug, trifft er auf seinem Weg nach Leningrad auf ein Land im Ausnahmezustand: Menschen, die sich in einem ewigen Krieg und vom Feind umzingelt glauben; Orchestermusiker, die wegen angeblich schief gespielter Töne in einem "Muslag" gefangen gehalten werden; eine namenlose und auf Karten nicht auffindbare Stadt, in der ausschließlich Zwangsjacken hergestellt werden. Der gutgläubige Charitonow sucht die Nähe der Menschen, doch stößt er bald an die Mauern der "sowjetischen Mentalität" … Grotesk-düsteres Leben in der Endlosschleife: die Seele des "homo sovieticus" Charitonow wird mit einer Reihe von bizarren Charakteren konfrontiert, die das unwirtliche Riesenreich der Sowjetunion und sein totalitäres System hervorgebracht haben. In einer Welt zwischen Stalin und "Tauwetter", zwischen Terror und erstickten Hoffnungen auf Reformen kommen dem Matrosen Zweifel: an seinem Vorhaben, an der Richtigkeit des Systems, das er und seine Mitmenschen am Laufen halten. Kann er in so einer Welt der Menschheit überhaupt Nutzen bringen? Charitonow bewegt sich immer weiter Richtung Westen, und in ihm keimt langsam der Gedanke, ob er nicht einfach alles in die Luft sprengen sollte. – In "Die Welt des Herrn Bickford" erkundet der ukrainische Bestsellerautor Andrej Kurkow auf einer märchenhaft-melancholischen Reise durch die Taiga die "sowjetische Mentalität". Aus dem Russischen von Claudia Dathe
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 13.07.2017Der Homo Sovieticus an der langen Leine
Schelmenroman, Märchen oder Parabel? Jedenfalls nicht leicht zu verdauen: Andrej Kurkows Roman "Die Welt des Herrn Bickford" erscheint nach fast einem Vierteljahrhundert auf Deutsch.
Ein Mann wandert von der Ostküste der Sowjetunion am Japanischen Meer immer gen Westen. Aus seinem Tornister rollt er dabei ununterbrochen eine Lunte, verbunden mit einer Dynamitladung am Strand, ab. In Leningrad angekommen, wird er verhaftet, eingesperrt und als psychisch krank in eine unwirkliche Freiheit entlassen werden.
Ein junger Mann aus einer von der Geschichte vergessenen russischen Siedlung schließt sich einem einbeinigen Kriegsinvaliden an. Dessen Aufgabe ist es, überall in diesem riesigen Land Radioempfänger aufzuhängen, um die Bevölkerung von den neuesten Errungenschaften der Sowjetmacht zu unterrichten.
Ein Fahrer lenkt seinen Militärkraftwagen, dessen Motor längst den Geist aufgegeben hat und auf dem ein riesiger Scheinwerfer montiert ist, um feindliche Bomberflugzeuge rechtzeitig zu entdecken und die Luftabwehr auf diese zu richten, durch die ewige Nacht.
Der alte Parteichef schwebt in einem Luftschiff über der unvorstellbaren Weite, meist auch über den Wolken. Er denkt dabei nur daran, wie er von dort oben seinen Landsleuten zum größten Glück der Menschheit verhelfen kann. Ein bisschen auch daran, wie er sich auf die irgendwann bevorstehende Landung und die ihn untrüglich mit größtem Jubel empfangenden Menschenmassen und Genossen aus dem Zentralkomitee freuen wird.
Das sind Geschichten aus "Die Welt des Herrn Bickford". Andrej Kurkow schrieb vier Jahre daran, wie er im für die deutsche Ausgabe verfassten Vorwort erklärt. Für ihn, so Kurkow weiter, sei es "das wichtigste und wertvollste Werk. Es war nicht einfach, den Roman zu schreiben, und ihn zu lesen ist sicher auch schwierig." Letztere These kann hier nur unterstrichen werden. Es liegt freilich keineswegs daran, dass unverständliche Wörter gebraucht würden (dem Buch ist ein schmales Glossar angehängt) oder ein Wirrwarr von Namen die Verwechslungsgefahr erhöhte (meist werden die einzelnen Personen gar nicht beim Namen genannt, sondern mit den Epitheta bezeichnet, mit denen sie auch in die Erzählung eingeführt werden, etwa "der Fahrer", "der Untermatrose" oder "der Mann im Luftschiff"). Und gar nicht liegt es an der sehr schönen Übersetzung von Claudia Dathe, die auch dankenswerterweise mit der noch immer teilweise herrschenden Tradition bricht, aus jedem russischen "Opa" ein "Großväterchen" zu machen.
Schwierig ist es aber, die zahllosen, oft weniger als einen Satz langen Anspielungen auf die Geschichte Russlands, genauer gesagt: der Sowjetunion, zu erfassen. Denn die seltsamen, oft an traurige Märchen, hin und wieder aber auch an den Magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren gemahnenden und in weniger als vier, fünf Augenblicken miteinander verbundenen Einzelhandlungen erstrecken sich, wohlgemerkt jede für sich, von Begebenheiten inmitten des Zweiten Weltkrieges, besser: des Großen Vaterländischen Krieges, über Ereignisse, die man in den sechziger Jahren ansiedeln kann, bis an das einzig genannte genaue Datum, das möglicherweise augenzwinkernd den Beginn von Kurkows Schreiben am Roman fixiert: "Zum Gedenken an William Bickford, der diese Welt heute, am 11. August 1989, verlassen hat." Es sei noch hinzugefügt, dass auch der titelgebende Herr Bickford, 1774 bis 1834, Erfinder einer Sicherheitslunte, die dabei half, Grubenunglücke durch vorzeitige Explosionen zu verhindern, einen Kurzauftritt hinlegen darf. Er taucht in einem Traum des Untermatrosen auf und diskutiert da mit Karl Marx und anderen Verstorbenen über den Einfluss von Ideen über den Tod hinaus.
Der Roman erschien erstmals 1993 auf Russisch - in Kiew, wo der dem russischsprachigen Teil der Bevölkerung angehörende Kurkow noch heute lebt und schreibt. Damals war die Sowjetunion schon zerfallen, und während man sich in vielen nun ehemaligen Sowjetrepubliken noch verdutzt die Augen zu reiben schien, machte sich der vor allem wegen seiner Trunkenheit im Gedächtnis gebliebene russische Präsident Boris Jelzin daran, den Sowjetkult durch eine orthodoxe Renaissance inklusive Umbettung der Gebeine des letzten Zaren und dessen Familie zu ersetzen und die zum größten Teil als marode verschrienen, immer noch gewaltigen Industriebetriebe an Günstlinge, heute als Oligarchen bekannt und, sofern sie sich nicht mit Jelzins Nachfolger Putin angelegt haben, noch immer stinkreich, zu verschachern.
Nach Ansicht des 1961 geborenen Kurkow hat am Scheitern eines möglichen Wandels, einer Modernisierung der UdSSR, etwa unter Chruschtschow, der "Sowjetmensch" den größten Anteil. Rückwärtsgewandt, nach einer mystischen Vergangenheit strebend, ging er unbeirrt den falschen Weg vorwärts. So sind auch die einzelnen Figuren in der "Welt des Herrn Bickford" gezeichnet. Man fühlt mit ihnen, man begreift nicht, wie sie sich offenbar ohne Probleme - und zumeist offenbar auch ohne Nahrungsaufnahme, von Krankheiten oder Körperhygiene ganz zu schweigen - durch die Jahrzehnte schleppen können, ohne sich wirklich zu verändern. Beispiel sei etwa diese Radiodurchsage: "Hören Sie die Signale der genauen Zeit und vergleichen Sie mit Ihren Kalendern: In Moskau, Leningrad und Kiew schreiben wir das Jahr 1957, Herbst. In Perm, Norilsk und Magnitogorsk das Jahr 1953, Herbst. In Ust-Ilimsk, Workuta, Anadyr das Jahr 1948, Winter."
Immer wieder treffen die Protagonisten auf den Wegen zu ihren unbeirrbar angestrebten, dabei völlig sinnbefreiten Zielen, auf Gefährten, seltener Gefährtinnen. Fast alle von diesen sterben eines gewaltsamen, sinnlosen Todes, verschwinden in Gefängnissen oder einfach so. Ein Schelmenroman? Wohl kaum. Ein Märchen? Möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Eine Parabel? Vielleicht, doch ohne Erkenntnisgewinn. Jedenfalls kein leicht zu verdauendes Werk, zumal für Lesepublikum ohne sowjetische Vergangenheit.
MARTIN LHOTZKY
Andrej Kurkow: "Die
Welt des Herrn Bickford".
Roman.
Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Haymon
Verlag, Innsbruck 2017.
405 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Schelmenroman, Märchen oder Parabel? Jedenfalls nicht leicht zu verdauen: Andrej Kurkows Roman "Die Welt des Herrn Bickford" erscheint nach fast einem Vierteljahrhundert auf Deutsch.
Ein Mann wandert von der Ostküste der Sowjetunion am Japanischen Meer immer gen Westen. Aus seinem Tornister rollt er dabei ununterbrochen eine Lunte, verbunden mit einer Dynamitladung am Strand, ab. In Leningrad angekommen, wird er verhaftet, eingesperrt und als psychisch krank in eine unwirkliche Freiheit entlassen werden.
Ein junger Mann aus einer von der Geschichte vergessenen russischen Siedlung schließt sich einem einbeinigen Kriegsinvaliden an. Dessen Aufgabe ist es, überall in diesem riesigen Land Radioempfänger aufzuhängen, um die Bevölkerung von den neuesten Errungenschaften der Sowjetmacht zu unterrichten.
Ein Fahrer lenkt seinen Militärkraftwagen, dessen Motor längst den Geist aufgegeben hat und auf dem ein riesiger Scheinwerfer montiert ist, um feindliche Bomberflugzeuge rechtzeitig zu entdecken und die Luftabwehr auf diese zu richten, durch die ewige Nacht.
Der alte Parteichef schwebt in einem Luftschiff über der unvorstellbaren Weite, meist auch über den Wolken. Er denkt dabei nur daran, wie er von dort oben seinen Landsleuten zum größten Glück der Menschheit verhelfen kann. Ein bisschen auch daran, wie er sich auf die irgendwann bevorstehende Landung und die ihn untrüglich mit größtem Jubel empfangenden Menschenmassen und Genossen aus dem Zentralkomitee freuen wird.
Das sind Geschichten aus "Die Welt des Herrn Bickford". Andrej Kurkow schrieb vier Jahre daran, wie er im für die deutsche Ausgabe verfassten Vorwort erklärt. Für ihn, so Kurkow weiter, sei es "das wichtigste und wertvollste Werk. Es war nicht einfach, den Roman zu schreiben, und ihn zu lesen ist sicher auch schwierig." Letztere These kann hier nur unterstrichen werden. Es liegt freilich keineswegs daran, dass unverständliche Wörter gebraucht würden (dem Buch ist ein schmales Glossar angehängt) oder ein Wirrwarr von Namen die Verwechslungsgefahr erhöhte (meist werden die einzelnen Personen gar nicht beim Namen genannt, sondern mit den Epitheta bezeichnet, mit denen sie auch in die Erzählung eingeführt werden, etwa "der Fahrer", "der Untermatrose" oder "der Mann im Luftschiff"). Und gar nicht liegt es an der sehr schönen Übersetzung von Claudia Dathe, die auch dankenswerterweise mit der noch immer teilweise herrschenden Tradition bricht, aus jedem russischen "Opa" ein "Großväterchen" zu machen.
Schwierig ist es aber, die zahllosen, oft weniger als einen Satz langen Anspielungen auf die Geschichte Russlands, genauer gesagt: der Sowjetunion, zu erfassen. Denn die seltsamen, oft an traurige Märchen, hin und wieder aber auch an den Magischen Realismus lateinamerikanischer Autoren gemahnenden und in weniger als vier, fünf Augenblicken miteinander verbundenen Einzelhandlungen erstrecken sich, wohlgemerkt jede für sich, von Begebenheiten inmitten des Zweiten Weltkrieges, besser: des Großen Vaterländischen Krieges, über Ereignisse, die man in den sechziger Jahren ansiedeln kann, bis an das einzig genannte genaue Datum, das möglicherweise augenzwinkernd den Beginn von Kurkows Schreiben am Roman fixiert: "Zum Gedenken an William Bickford, der diese Welt heute, am 11. August 1989, verlassen hat." Es sei noch hinzugefügt, dass auch der titelgebende Herr Bickford, 1774 bis 1834, Erfinder einer Sicherheitslunte, die dabei half, Grubenunglücke durch vorzeitige Explosionen zu verhindern, einen Kurzauftritt hinlegen darf. Er taucht in einem Traum des Untermatrosen auf und diskutiert da mit Karl Marx und anderen Verstorbenen über den Einfluss von Ideen über den Tod hinaus.
Der Roman erschien erstmals 1993 auf Russisch - in Kiew, wo der dem russischsprachigen Teil der Bevölkerung angehörende Kurkow noch heute lebt und schreibt. Damals war die Sowjetunion schon zerfallen, und während man sich in vielen nun ehemaligen Sowjetrepubliken noch verdutzt die Augen zu reiben schien, machte sich der vor allem wegen seiner Trunkenheit im Gedächtnis gebliebene russische Präsident Boris Jelzin daran, den Sowjetkult durch eine orthodoxe Renaissance inklusive Umbettung der Gebeine des letzten Zaren und dessen Familie zu ersetzen und die zum größten Teil als marode verschrienen, immer noch gewaltigen Industriebetriebe an Günstlinge, heute als Oligarchen bekannt und, sofern sie sich nicht mit Jelzins Nachfolger Putin angelegt haben, noch immer stinkreich, zu verschachern.
Nach Ansicht des 1961 geborenen Kurkow hat am Scheitern eines möglichen Wandels, einer Modernisierung der UdSSR, etwa unter Chruschtschow, der "Sowjetmensch" den größten Anteil. Rückwärtsgewandt, nach einer mystischen Vergangenheit strebend, ging er unbeirrt den falschen Weg vorwärts. So sind auch die einzelnen Figuren in der "Welt des Herrn Bickford" gezeichnet. Man fühlt mit ihnen, man begreift nicht, wie sie sich offenbar ohne Probleme - und zumeist offenbar auch ohne Nahrungsaufnahme, von Krankheiten oder Körperhygiene ganz zu schweigen - durch die Jahrzehnte schleppen können, ohne sich wirklich zu verändern. Beispiel sei etwa diese Radiodurchsage: "Hören Sie die Signale der genauen Zeit und vergleichen Sie mit Ihren Kalendern: In Moskau, Leningrad und Kiew schreiben wir das Jahr 1957, Herbst. In Perm, Norilsk und Magnitogorsk das Jahr 1953, Herbst. In Ust-Ilimsk, Workuta, Anadyr das Jahr 1948, Winter."
Immer wieder treffen die Protagonisten auf den Wegen zu ihren unbeirrbar angestrebten, dabei völlig sinnbefreiten Zielen, auf Gefährten, seltener Gefährtinnen. Fast alle von diesen sterben eines gewaltsamen, sinnlosen Todes, verschwinden in Gefängnissen oder einfach so. Ein Schelmenroman? Wohl kaum. Ein Märchen? Möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich. Eine Parabel? Vielleicht, doch ohne Erkenntnisgewinn. Jedenfalls kein leicht zu verdauendes Werk, zumal für Lesepublikum ohne sowjetische Vergangenheit.
MARTIN LHOTZKY
Andrej Kurkow: "Die
Welt des Herrn Bickford".
Roman.
Aus dem Russischen von Claudia Dathe. Haymon
Verlag, Innsbruck 2017.
405 S., geb., 22,90 [Euro].
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main