Immer laut, niemals leise: die Geschichte des Lärms vom Urknall bis heute! Wie hat sich der Lärm unserer Zivilisation im Laufe der Jahrhunderte entwickelt? Wie klang das Rom der Kaiserzeit? Was war für die Ohren eines Bauern im Mittelalter laut? Welchen Lärm mussten die ersten Fabrikarbeiter in England ertragen? Das Buch beginnt mit einer Zeit weit vor der Geschichte des Menschen. Mit dem Urknall, der keiner war. Erst danach, mit der Erfindung der Werkzeuge, wurde der Lärm menschlich. Die ersten Großbaustellen der Geschichte im Alten Reich Ägyptens vor 4500 Jahren waren nicht nur ein unfassbarer Anblick, sondern auch eine ohrenbetäubende Erfahrung. Lärm ist göttlich, wie die Natur den frühen Menschen zu verstehen gab. Und auch in der griechischen, römischen und nordischen Mythologie gibt es mindestens einen Gott, der für Donner und Getöse zuständig ist. Im Mittelalter erobert dann die Kirche die akustische Lufthoheit über dem christlichen Europa - mit dem sakralen Dreiklang aus Glocke, Orgel und Kathedrale. Kai-Ove Kessler kommt in dieser Kulturgeschichte zu der Erkenntnis, dass früher nicht alles leiser war. Dass Lärm sogar Labsal, Erleichterung und pures Vergnügen sein kann.
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Perlentaucher-Notiz zur Süddeutsche Zeitung-Rezension
Rezensent Harald Eggebrecht lauscht ohrenbetäubenden Gladiatorenkämpfen im alten Rom, Kanonendonner im Dreißigjährigen Krieg, enervierenden Eisenbahngeräuschen oder ersten Grammophon-Klängen in diesem Buch des Journalisten und Musikers Kai-Over Kessler. Und das Beste daran: Der Kritiker genießt die Lektüre in Stille, lernt er doch hier, wie mächtig die Geräuschkulisse manchem Zeitgenossen, etwa Emile Zola, aufs Gemüt schlägt. Nicht mal unter Wasser ist es komplett still, erfährt Eggebrecht zudem in diesem, wie er findet, unterhaltsamen Buch. Einen Blick über Europa und Amerika hinaus hätte sich der Rezensent allerdings ebenso gewünscht wie genauere Definitionen von Geräusch, Musik, Klang oder Krach.
© Perlentaucher Medien GmbH
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Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 29.07.2023Wenn die Laubbläser dröhnen
Von sehr vielen Geräuschen aller Lautstärken: Kai-Ove Kessler versucht sich an einer Weltgeschichte des Lärms
Es sind zuweilen Außenseiter des Fachs, die sich an die schwierigen, aber anregenden Geschichten machen - an die Geschichte des Todes und des Sex, der Gerüche und Gefühle. Und warum nicht an eine Geschichte des Lärms? Der Journalist, Musiker und Historiker Kai-Ove Kessler hat es gewagt: "Die Welt ist laut" heißt sein dickes Buch.
Dass die Welt im zwanzigsten und auch im neunzehnten Jahrhundert nicht besser, aber lauter gewesen sei als heute, darf als die wichtigste Einsicht gelten, die der Autor gewonnen hat. Damals sei der Lärm "brutaler" gewesen: Die Autos zirkulierten ohne lärmdämpfende Auspuffe, auf dem Kopfsteinpflaster ratterten eisenbeschlagene Kutschenräder, im Dorf hämmerte der Schmied, mitten in der Stadt die Stahlpresse. Das Zeitalter der Industrialisierung kannte weder Lärmschutzwände noch Elektromobile noch schalldichte Fenster, und noch im achtzehnten Jahrhundert waren gesetzlich verordnete Ruhezonen und -zeiten nahezu unbekannt. Wer lärmen wollte, ob nun aus beruflichen Gründen oder weil er betrunken war, der tat dies, auch wenn die Nachbarn sich darob wiederholt beschwerten.
Und noch eine Erkenntnis bietet Kessler: Der organisierte Kampf gegen den Lärm, der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Fahrt aufnahm, doch lange wirkungslos verpuffte, war meist ein Klassenkampf. Es waren bürgerliche Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Künstler, die sich über die unzivilisierten, viel zu lauten Werktätigen erregten, über die Marktschreier, Milchfrauen und Nachtschwärmer.
Hier könnte das originelle Thema, das Kai-Ove Kessler gewählt hat, wirklich interessant werden: Was wurde wann und unter welchen Umständen und von wem als "Lärm" empfunden - und was gerade nicht, sondern im Gegenteil als Wohlklang, als "Musik in den Ohren"? Diese paradoxe Dimension der Lärmgeschichte entgeht dem Autor nicht völlig, wie sein Hinweis auf die soziale Dimension der Wahrnehmung akustischer Emissionen belegt. Aber er hat es versäumt, dazu vor dem Schreiben seines Buchs ein paar konzeptionelle Überlegungen anzustellen.
Denn dieses handelt nicht von der Geschichte des Lärms, sondern von der Geschichte der mit der Erde und darüber hinaus verbundenen Geräusche vom Urknall bis heute. Nur: Wer hätte den Urknall überhaupt wahrnehmen können (außer dem lieben Gott) und wer, ein paar Milliarden Jahre später, den Wind, der über die Savanne strich? Niemand. Also ist es müßig, über Dezibel zu mutmaßen.
Und Bach und Beethoven galten den Zuhörern und Zuhörerinnen im Konzertsaal gewiss nicht als Lärm. Aber auch davon handelt das Buch. Als Musiker nimmt der Autor lebhaften Anteil an der europäischen Musikgeschichte. Einen Komponisten nach dem anderen lässt er, sie fast wie im Lexikon mit ihren Lebensdaten versehend, Revue passieren. Immer lauter seien die Orchester geworden, lernt der Leser, bis zur Klimax bei Wagner.
Kesslers Lärmgeschichte ist eigentlich eine Geräuschgeschichte, aber keine Klanggeschichte, wie er einmal meint, denn der Klang ist ein als angenehm wahrgenommenes Geräusch. Diese Lärmgeschichte ist zudem sehr deutsch, auch wenn etwa das im zwanzigsten Jahrhundert sehr laute New York, die in Japan detonierenden Atombomben und auch Indien und Afrika vorkommen. Dem impliziten Anspruch nach ist das Buch eine Weltgeschichte.
Der deutsche Fokus indes wird nirgends so deutlich wie bei den vielen Erfindern und Technikern, die der Autor mit Hingabe vorstellt; alle die deutschen Männer, die irgendein Gerät erfunden haben, das sich bewegt und - gewollt oder nicht - "Lärm" produziert, allen voran das Automobil. Über weite Strecken liest sich das Buch wie eine konventionelle, biographisch angelegte Technikgeschichte.
Der Autor schreibt flott und flüssig, aber er übertreibt die Anschaulichkeit. Er haut, um in seine Diktion zu wechseln, permanent auf die Pauke. Ein Superlativ folgt auf den anderen, der "lauteste Lärm der Weltgeschichte" (ein Vulkanausbruch), ihr "erster Lärm" (das Herstellen des Faustkeils) und der "erste Führerschein der Weltgeschichte" (ausgestellt in Deutschland), der den Weg zum Autolärm bahnte. Die meisten Lärmvorfälle indes, die Kessler vorbringt, dürften die meisten Menschen gar nie tangiert haben, nämlich alle, die auf dem Land in abgelegenen Dörfern lebten, ob nun in Asien oder in Deutschland.
Die Superlative kombiniert Kessler mit bunten, lautmalerischen, aber auch abgegriffenen Wendungen: das emsige Treiben der Mägde (das im ganzen Haus zu hören war), das prasselnde Feuer, die stampfende Lokomotive, die ratternde Kutsche, kreischende Bremsen, das in der Mauer krachend zum Stillstand gekommene Auto. Sogar die Stille wird dröhnend laut. Irgendwann mag man das nicht mehr lesen, auch nicht die Stilblüten und die schiefe Grammatik, "das Adrenalin des Geschehens", die Ziegelöfen, die "prasselten, um erste Bauten aus Stein zu errichten".
Weniger wäre mehr gewesen: weniger Stoff und historische Zeiten. Denn das Thema ist gut gewählt und akut. Die Welt mag zwar leiser geworden sein, aber sie ist an vielen Orten noch immer so laut, dass sie neuerdings sogar krank macht. Auch von diesem Phänomen berichtet Kessler. URS HAFNER
Kai-Ove Kessler: "Die Welt ist laut". Eine Geschichte des Lärms.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 432 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Von sehr vielen Geräuschen aller Lautstärken: Kai-Ove Kessler versucht sich an einer Weltgeschichte des Lärms
Es sind zuweilen Außenseiter des Fachs, die sich an die schwierigen, aber anregenden Geschichten machen - an die Geschichte des Todes und des Sex, der Gerüche und Gefühle. Und warum nicht an eine Geschichte des Lärms? Der Journalist, Musiker und Historiker Kai-Ove Kessler hat es gewagt: "Die Welt ist laut" heißt sein dickes Buch.
Dass die Welt im zwanzigsten und auch im neunzehnten Jahrhundert nicht besser, aber lauter gewesen sei als heute, darf als die wichtigste Einsicht gelten, die der Autor gewonnen hat. Damals sei der Lärm "brutaler" gewesen: Die Autos zirkulierten ohne lärmdämpfende Auspuffe, auf dem Kopfsteinpflaster ratterten eisenbeschlagene Kutschenräder, im Dorf hämmerte der Schmied, mitten in der Stadt die Stahlpresse. Das Zeitalter der Industrialisierung kannte weder Lärmschutzwände noch Elektromobile noch schalldichte Fenster, und noch im achtzehnten Jahrhundert waren gesetzlich verordnete Ruhezonen und -zeiten nahezu unbekannt. Wer lärmen wollte, ob nun aus beruflichen Gründen oder weil er betrunken war, der tat dies, auch wenn die Nachbarn sich darob wiederholt beschwerten.
Und noch eine Erkenntnis bietet Kessler: Der organisierte Kampf gegen den Lärm, der am Ende des neunzehnten Jahrhunderts Fahrt aufnahm, doch lange wirkungslos verpuffte, war meist ein Klassenkampf. Es waren bürgerliche Intellektuelle, Schriftstellerinnen und Künstler, die sich über die unzivilisierten, viel zu lauten Werktätigen erregten, über die Marktschreier, Milchfrauen und Nachtschwärmer.
Hier könnte das originelle Thema, das Kai-Ove Kessler gewählt hat, wirklich interessant werden: Was wurde wann und unter welchen Umständen und von wem als "Lärm" empfunden - und was gerade nicht, sondern im Gegenteil als Wohlklang, als "Musik in den Ohren"? Diese paradoxe Dimension der Lärmgeschichte entgeht dem Autor nicht völlig, wie sein Hinweis auf die soziale Dimension der Wahrnehmung akustischer Emissionen belegt. Aber er hat es versäumt, dazu vor dem Schreiben seines Buchs ein paar konzeptionelle Überlegungen anzustellen.
Denn dieses handelt nicht von der Geschichte des Lärms, sondern von der Geschichte der mit der Erde und darüber hinaus verbundenen Geräusche vom Urknall bis heute. Nur: Wer hätte den Urknall überhaupt wahrnehmen können (außer dem lieben Gott) und wer, ein paar Milliarden Jahre später, den Wind, der über die Savanne strich? Niemand. Also ist es müßig, über Dezibel zu mutmaßen.
Und Bach und Beethoven galten den Zuhörern und Zuhörerinnen im Konzertsaal gewiss nicht als Lärm. Aber auch davon handelt das Buch. Als Musiker nimmt der Autor lebhaften Anteil an der europäischen Musikgeschichte. Einen Komponisten nach dem anderen lässt er, sie fast wie im Lexikon mit ihren Lebensdaten versehend, Revue passieren. Immer lauter seien die Orchester geworden, lernt der Leser, bis zur Klimax bei Wagner.
Kesslers Lärmgeschichte ist eigentlich eine Geräuschgeschichte, aber keine Klanggeschichte, wie er einmal meint, denn der Klang ist ein als angenehm wahrgenommenes Geräusch. Diese Lärmgeschichte ist zudem sehr deutsch, auch wenn etwa das im zwanzigsten Jahrhundert sehr laute New York, die in Japan detonierenden Atombomben und auch Indien und Afrika vorkommen. Dem impliziten Anspruch nach ist das Buch eine Weltgeschichte.
Der deutsche Fokus indes wird nirgends so deutlich wie bei den vielen Erfindern und Technikern, die der Autor mit Hingabe vorstellt; alle die deutschen Männer, die irgendein Gerät erfunden haben, das sich bewegt und - gewollt oder nicht - "Lärm" produziert, allen voran das Automobil. Über weite Strecken liest sich das Buch wie eine konventionelle, biographisch angelegte Technikgeschichte.
Der Autor schreibt flott und flüssig, aber er übertreibt die Anschaulichkeit. Er haut, um in seine Diktion zu wechseln, permanent auf die Pauke. Ein Superlativ folgt auf den anderen, der "lauteste Lärm der Weltgeschichte" (ein Vulkanausbruch), ihr "erster Lärm" (das Herstellen des Faustkeils) und der "erste Führerschein der Weltgeschichte" (ausgestellt in Deutschland), der den Weg zum Autolärm bahnte. Die meisten Lärmvorfälle indes, die Kessler vorbringt, dürften die meisten Menschen gar nie tangiert haben, nämlich alle, die auf dem Land in abgelegenen Dörfern lebten, ob nun in Asien oder in Deutschland.
Die Superlative kombiniert Kessler mit bunten, lautmalerischen, aber auch abgegriffenen Wendungen: das emsige Treiben der Mägde (das im ganzen Haus zu hören war), das prasselnde Feuer, die stampfende Lokomotive, die ratternde Kutsche, kreischende Bremsen, das in der Mauer krachend zum Stillstand gekommene Auto. Sogar die Stille wird dröhnend laut. Irgendwann mag man das nicht mehr lesen, auch nicht die Stilblüten und die schiefe Grammatik, "das Adrenalin des Geschehens", die Ziegelöfen, die "prasselten, um erste Bauten aus Stein zu errichten".
Weniger wäre mehr gewesen: weniger Stoff und historische Zeiten. Denn das Thema ist gut gewählt und akut. Die Welt mag zwar leiser geworden sein, aber sie ist an vielen Orten noch immer so laut, dass sie neuerdings sogar krank macht. Auch von diesem Phänomen berichtet Kessler. URS HAFNER
Kai-Ove Kessler: "Die Welt ist laut". Eine Geschichte des Lärms.
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023. 432 S., geb., 26,- Euro.
Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
Rezensent Urs Hafner findet es schade, dass Kai-Ove Kesslers Geschichte des Lärms eher zur Geräuschgeschichte wird. Wo das Thema sehr interessant werden könnte, nämlich als eine Geschichte des Klassenkampfs - was wurde von wem zu welcher Zeit als Lärm empfunden und was nicht? -, da nehme der Journalist, Musiker und Historiker Kessler eine Abbiegung zu sämtlichen Geräuschen der Weltgeschichte, einschließlich des Urknalls, den ja eh nie jemand gehört hat, wundert sich Hafner. Auch dem eigenen Anspruch, "Weltgeschichte" sein zu wollen, werde das Buch nicht gerecht: ferne Lärm-Stätten wie New York oder Indien kommen zwar kurz vor, aber insgesamt habe das Buch einen starken Fokus auf Deutschland, insbesondere auf seine Erfinder dröhnender Maschinen - manchmal hat der Kritiker fast den Eindruck, eine deutsche Technikgeschichte zu lesen. Zusätzlich stört Hafner auch sprachlich die Ansammlung lautmalerischer Gemeinplätze (das prasselnde Feuer, die stampfende Lokomotive, zitiert er unter anderem), und die zum Teil "schiefe Grammatik". Eigentlich ein "gut gewähltes und akutes" Thema, das den Kritiker in dieser Form aber eher langweilt.
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