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Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen…mehr

Produktbeschreibung
Die politische Ideengeschichte hat seit dem Ende der Systemkonkurrenz zwischen Ost und West, der Transformation der Gesellschaften Mittel- und Osteuropas, aber auch mit den seit dem Wegfall des klassischen Gegenbildes dringender gewordenen Fragen nach Werten und Zielen der westlichen Demokratien, nach der Möglichkeit von Gemeinwohlorientierungen usw. neue Bedeutung gewonnen. Gibt es in dem zunehmend differenzierten und segmentierten Fach Politikwissenschaft einen Bereich, in dem die verschiedenen Fragestellungen und Ansätze zusammengeführt werden, so ist dies die Geschichte der politischen Ideen sowie die politische Theorie. Insbesondere die politische Ideengeschichte erweist sich dabei als das Laboratorium, in dem gegenwärtige politische Konstellationen gleichsam experimentell an den Theoriegebäuden vergangener Zeiten überprüft, durchdacht und intellektuell bearbeitet werden können. Eine so verstandene politische Ideengeschichte ist gegenwartsbezogen, auch wenn sie sich den aktuellen politischen Problemen nur mittelbar zuzuwenden scheint.
Diese Reihe ist ein Ort für die Publikation solcher Studien. Sie veröffentlicht herausragende Texte zur politischen Ideengeschichte und zur politischen Theorie.

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Rezensionen

Frankfurter Allgemeine Zeitung - Rezension
Frankfurter Allgemeine Zeitung | Besprechung von 22.10.2001

Sehnsuchts- und Albtraum
Schwach präsentiert: Mitteleuropa-Bilder und -Diskussionen

Rainer Schmidt: Die Wiedergeburt der Mitte Europas. Politisches Denken jenseits von Ost und West. Akademie Verlag, Berlin 2001. 196 Seiten, 49,80 Mark.

"Mitteleuropa" ist ein "Sehnsuchtstraum" und Albtraum zugleich, Europas Mitte jedoch im Grunde nur ein mathematischer Punkt, und es gibt Orte, bezeichnenderweise in Deutschland gelegen, die rühmen sich, dieser Mittelpunkt Europas zu sein. Seit den Anfängen der politischen Geographie im späten 18. Jahrhundert hat es Bemühungen gegeben, das mitteleuropäische Phantom geographisch dingfest zu machen; dabei konnte man schematisch vorgehen, indem Europa viergeteilt und um die so entstehende Kreuzung ein mehr oder weniger großes Zentralland ausgewiesen wurde. Europa ließ sich jedoch auch von Nord nach Süd in drei Teile gliedern - dann war die Mitte als ein Landstreifen vom Nordkap bis nach Sizilien zu definieren. Ein westöstliches Teilungsschema war ebenfalls denkbar, dann reichte "Mitteleuropa" etwa von Kiew bis Brest. Daß die so entstehenden "Mitteleuropa-Bilder" sich verschoben, wenn man Rußland, wie oft üblich, ausschloß, versteht sich von selbst.

Es liegt auf der Hand, daß solche geographischen Glasperlenspiele zu nichts führten, aber weit entfernt davon, sie zu beenden, fingen sie im späten 19. und im frühen 20. Jahrhundert unter dem Einfluß großer Geopolitiker wie Richthofen oder Mackinder erst richtig an. Bald ging es um: das Gespenst eines mächtigen "Mitteleuropa", für das zumindest im kollektiven Gedächtnis der Deutschen vor allem die Namen Friedrich Naumann, Carl Schmitt und Hitler stehen. Rainer Schmidt hat zumindest versucht, die großen geistigen Entwicklungslinien, die um "Mitteleuropa" kreisen, einigermaßen zu beschreiben, aber da er über den Tellerrand einer bloß ideengeschichtlich orientierten Politologie nicht hinausblickt, sind ihm entscheidende Diskurse aus jüngerer Zeit entgangen - ein Blick in das unzureichende Literaturverzeichnis bestätigt diesen betrüblichen Eindruck.

Eine tiefer dringende Auseinandersetzung mit "Mitteleuropa" sucht der Leser somit vergebens - aber er findet eine nützliche, aus zahlreichen langen Literaturzitaten zusammengesetzte Beschreibung jener Vorstellungen von einem zukünftigen Mitteleuropa, wie sie vor allem Milan Kundera, György Konrád und Václav Havel in den sechziger bis achtziger Jahren - also vor den "europäischen Revolutionen" - entwickelt haben. Es ist bedauerlich, daß der Übergang von der Theorie zur politischen Praxis, bei Havel mit Händen zu greifen, nicht berücksichtigt wird.

Unverständlich bleibt es, daß Schmidt mit keinem Wort auf die Problematik der Mitgliedschaft in der Nato und in der Europäischen Union der ostmitteleuropäischen Staaten eingeht: Wie, beispielsweise, vertrüge sich die Idee eines selbständigen "mitteleuropäischen" Verständnisses mit einer politischen Konstellation, in der Washington und Brüssel die Gravitationszentren der politischen, militärischen und gesellschaftlichen Prozesse sind? Es ist also nur von begrenztem Wert, wenn Schmidt die Vorstellungen der Dissidenten aus der Zeit vor dem großen Umbruch referiert. Aber interessant sind sie schon: Allen gemeinsam war die Vorstellung, daß die Dichotomie zwischen West und Ost, Kapitalismus und Kommunismus abzulehnen sei; Ungarn, Polen und die Tschechoslowakei sollten nicht einfach "Westeuropa" angeschlossen werden, sondern eine eigenständige kulturelle und bürgerliche Kraft bilden, wobei das Konstrukt von der "Bürgergesellschaft" und der "Antipolitik" von zentraler Bedeutung war.

Nicht bloß die Wiederkehr des Vergangenen war angestrebt, sondern die Dissidenten jagten einer Idee nach, die aus der Vergangenheit, der Gegenwart und den Traditionen der abendländischen Philosophie entstehen sollte. Dieses "neue" Mitteleuropa war als Vorbild für ganz Europa konzipiert, und ganz richtig verweist Schmidt auf Schiller, Heine, Hölderlin als frühe Vorbilder.

Aber die Konsequenzen entgehen ihm abermals: Was hieße es für die politische Praxis, verfolgten diese Staaten wirklich und wahrhaftig im 21. Jahrhundert jenen Anspruch, den Emanuel Geibel auf Deutschland bezogen mit den heute so unsäglich wirkenden Worten "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen" umschrieben hatte? Man kann nicht ernsthaft über die "Wiedergeburt der Mitte Europas" reden, ohne die Stellung Deutschlands in dieser "Mitte" mit zu berücksichtigen. Wenn der Begriff "Mitteleuropa" für die meisten Völker Europas in den Epochen des Wilhelminismus und der NS-Herrschaft zum Albtraum geworden war, so doch nur, weil das Deutsche Reich sich als "natürlichen" Kern Zentraleuropas begriffen und daraus seine Hegemonialansprüche abgeleitet hatte: "Europa den Europäern", so hat es bekanntlich Hitler in Anspielung auf die Monroe-Doktrin einem amerikanischen Journalisten gegenüber mitten im Zweiten Weltkrieg auf den Punkt gebracht.

Liest man nun bei Schmidt: "Europa den Europäern, heißt Konráds Motto", so ist man gespannt auf die Deutung dieses Satzes, sei es durch Konrád selbst oder aber den Autor - aber nichts dergleichen! Auch zu den Fragen, ob man sich ein "Mitteleuropa" ohne Deutschland vorstellen kann, gar muß oder in welchem Verhältnis die Begriffe "Mitteleuropa" und "Ostmitteleuropa" zueinander stehen, schweigt sich Schmidt beharrlich aus. Möglicherweise schwerer wiegt das Problem, ob mit der angeblich "neuen" Mitteleuropa-Diskussion nicht wieder jene unselige Debatte auflebt, die unmittelbar nach der deutschen Wiedervereinigung angestoßen worden war und in der Schreckensvision vom "Vierten Reich" bedenklich an die gefährlichen Ideen von "Deutschland zwischen West und Ost" (Hans von Seeckt, 1932) anknüpfte. Es ist charakteristisch, daß in diesem Buch der Name Adenauer kein einziges Mal auftaucht.

MICHAEL SALEWSKI

Alle Rechte vorbehalten. © F.A.Z. GmbH, Frankfurt am Main
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Perlentaucher-Notiz zur NZZ-Rezension

Im Zentrum von Rainer Schmidts Studie steht nach Rainer Hoffmann die Entwicklung der sogenannten Mitteleuropa-Idee. In seiner sehr knapp gehaltenen Besprechung referiert der Rezensent die wichtigsten Punkte von Schmidts Studie. Hoffmann hebt insbesondere hervor, dass die Mitteleuropa-Idee, die vor allem von Dissidenten und Oppositionellen aus Ungarn, Polen und der Tschechoslowakei propagiert worden war, vor dem Hintergrund des Ost-West-Konflikts als "Hilfskonstruktion zur Selbstverständigung oder als Vehikel zur Formulierung und zur Vermittlung alternativer sowohl geopolitischer als auch gesellschaftlicher Ordnungsvorstellungen" fungierte. Mit dem Fall des Eisernen Vorhangs, hatte die Mitteleuropa-Idee ausgedient. Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.

© Perlentaucher Medien GmbH