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Nach zwanzig Jahren: Pavel Richter gratuliert Wikipedia
Die Biographien der großen Internetpioniere sind oft mit der Finanzbranche verbunden. Das hat mit den hohen Studiengebühren an amerikanischen Universitäten zu tun, die verschuldete Absolventen in den lukrativen Investmentsektor locken. Auch Wikipedia-Gründer Jimmy Wales arbeitete dort eine Zeit, bis er genug Geld hatte, um sich einer größeren Idee zu widmen, die entschieden unkommerziell sein sollte. Heute ist Wikipedia die einzige große Website, die sich der Kommerzialisierung und Vermachtung des Internets erfolgreich widersetzt hat. Sie ist die gefeierte Ausnahme, sieht man einmal davon ab, dass sie auf der freiwilligen Selbstausbeutung ihrer Mitarbeiter beruht.
Richter nennt sein Buch zum zwanzigjährigen Bestehen des Internetlexikons "Biographie eines Weltwunders". Die Metapher soll den organischen Charakter des Projekts betonen, das nie ans Ende kommt, solange ihm die Autoren nicht ausgehen. Obwohl Jimmy Wales die Vorteile der dezentralen Architektur des Internets früh erkannte, war das nicht unbedingt wahrscheinlich. Es gehörte viel Willensstärke dazu, die Avancen der Werbewirtschaft auszuschlagen, und großes Vertrauen in den Kooperationsgeist der freiwilligen Mitarbeiter. Dass auf der Welt verstreute Menschen, die sich kaum oder gar nicht kennen, gemeinsam eine so große und langfristige Aufgabe angehen, ist wohl nur bei der nüchternen Form des Lexikons möglich. Dazu kam der mit dem Internet verbundene Aufstieg des eher ungeselligen Nerds.
Das von kommerziellen Unternehmen erfolglos imitierte Erfolgsprinzip des Lexikons liegt nach Richter darin, dass es seinen anonymen Autoren globalen Einfluss verschafft und zugleich ihren Narzissmus nicht fördert. Das Motto "Wissen ist Macht" hat man vielleicht zu oft gehört, um es zur eigentlichen Motivationsquelle zu erklären. Die lexikalische Welterschließung hat ihren eigenen Reiz, den die Verweisungsstruktur von Wikipedia verstärkt. Man stößt oft auf Dinge, die man nie im Sinn hatte. Ein Zerstreuungsmedium ist Wikipedia trotzdem nicht. Entgegen vielen Behauptungen ist es auch kein Medium der Aufklärung, sondern nur deren Basis. Es bildet Wissensstände ab, aber noch kein Urteilsvermögen aus. Welche Weltanschauungen daraus hervorgehen, ist offen.
Richter, der Unternehmensberater war, bevor er zu Wikipedia stieß, präsentiert eine ausgeruhte Erfolgsbilanz, die kritische Punkte nicht ausspart: wie das aggressive Arbeitsklima, den hohen Anteil an männlichen Autoren, den Einfluss von Lobbyisten und rufschädigende Fehlinformationen, die viel zu spät korrigiert wurden. Den ideologischen Schlachten, die in Wikipedia geschlagen werden, weicht er dagegen aus. Er beschränkt sich auf skurrile Beispielgeschichten, was das Buch etwas harmlos macht. Zu leicht macht es sich Richter, wenn er die Verantwortung für Fehler auf die anonyme Masse der Autoren abschiebt. "Wir alle" sind eben nicht Wikipedia.
Die deutsche Wikimedia-Stiftung, die Richter mehrere Jahre geleitet hat, ist heute der größte Zweig des Lexikons. Sie hat viel Pionierarbeit geleistet. Den Erfolg des Projekts führt Jimmy Wales im Vorwort auf die Mischung aus amerikanischem Optimismus und deutscher Genauigkeit zurück. Die Technikeuphorie der Wikipedianer wird man wohl dem amerikanischen Einfluss zuschreiben, der naturwissenschaftlich grundierte Aufklärungsoptimismus, die hohe Problemlösungsintelligenz und der wirtschaftsliberale Gründergeist kommen von beiden Seiten.
Es ist kein Zufall, dass Wales bei der Gründung von Wikipedia auf die einflussreiche Schrift "Die Anwendung des Wissens in der Gesellschaft" des neoliberalen Vordenkers Friedrich August von Hayek zurückgriff, nach der wir nur über ausschnitthafte Informationen über die Wirklichkeit verfügen, weshalb die Wirtschaft auf zentrale Lenkung verzichten solle. Die dezentrale Lenkung einer riesigen Gemeinschaft mit einer relativ kleinen Kerngruppe von hochfrequenten Autoren ist bis heute der Erfolgsfaktor des Lexikons. Richter weiß, dass Wikipedia heute nur noch eine Insel im von Staaten und Unternehmen beherrschten Netz ist. Ob das Medium, aus dem es hervorging, selbst der Aufklärung dient, ist heute nicht mehr so sicher.
THOMAS THIEL
Pavel Richter: "Die Wikipedia-Story". Biografie eines Weltwunders. Campus Verlag, Frankfurt am Main/ New York 2020. 232 S., br., 22,95 [Euro].
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Perlentaucher-Notiz zur F.A.Z.-Rezension
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